Mein Ibiza
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Mein Ibiza

Eine Lebensreise

  1. 256 Seiten
  2. German
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Mein Ibiza

Eine Lebensreise

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Über dieses Buch

Mit Ibiza, der legendenumwobenen "weißen Insel", verbindet Jens Rosteck eine nun schon fast fünf Jahrzehnte währende Lebens- und Liebesgeschichte. Sein "Eivissa", das bereits Dutzende von Invasionen verkraften musste, hat nur wenig mit dem Party-Eiland der schicken Schönen und coolen Hipster gemein. Rosteck begreift das Balearen-Idyll als kosmopolitische Stätte der Fantasie, als Sehnsuchtsort und Schimäre. Er zeigt uns ein Paradies für Bilderfälscher und Modepioniere, für Exilliteraten und Aussteiger, für Drogensüchtige und andalusische Gitanos. Und stößt die Tür auf zu Parallelwelten der Diskothekenkultur und des Massentourismus: zu einer Off-Kultur, in der Anarchie, Illusionen und freie Liebe regierten, zum Emigrationsort von Avantgardisten, zu den Bizarrerien einer erotisch-libertinären Miniaturwelt (ausgerechnet zu Franco-Zeiten) und zum kreativen Zentrum einer deutschen Künstlerkolonie.Rostecks atmosphärische Momentaufnahmen dieser fast surrealen Enklave, in der sich Blumenkinder und Nacktbadende tummelten und Stierkämpfer und Kriegsdienstverweigerer es sich gut gehen ließen, fügen sich zu einem Kaleidoskop alternativer Lebensformen am Mittelmeer. Doch der Autor zieht nicht nur nostalgische Bilanz – vielmehr präsentiert er Ibiza als sinnliches Kontinuum, als stabilen Mythos und alljährlich wiederbelebbaren Kindheitstraum.

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Information

Jahr
2019
ISBN
9783866483668
Yvica

Verpflanzt, verborgen, verführt, verwurzelt

Der Sommer 1974, elf war ich damals, begann zunächst mit einer Ernüchterung. Das vertraute, von uns geliebte Appartement mit großer, ebenerdiger Terrasse, direkt an der Felsküste, unterhalb des Dalt Mar und oberhalb der Taubenbucht, war bereits vergeben. Meine Eltern und wir Kinder erfuhren davon erst bei unserer Ankunft. Auch im Hotel war nichts mehr frei. Hochsaison! Man bugsierte uns in ein halb fertiges Wohnhaus weiter unten im Tal, ein ganzes Stück weg vom Meer. Eine Interimslösung. Eine kleine Wohneinheit mit Balkon stand uns dort zur Verfügung. Die moderne residencia war schon voll mit Mietern, äußerst hellhörig, und es wurde munter weitergebaut. Ein Höllenlärm umgab uns. Am Abend und am frühen Morgen verursacht von den ebenfalls gerade eingezogenen, zahlreichen Mitbewohnern, die lauthals durcheinanderschnatterten, wie es nur die Mittelmeervölker können, tagsüber von Hämmern, Bohrern und Betonmischern.
Wir vier waren untröstlich – wir vermissten den weiten, traumhaften Blick über die Südhälfte der Insel, die imposanten Sonnenuntergänge und die Möglichkeit, innerhalb von wenigen Minuten am Kiesstrand zu sein und gleich ins Wasser springen zu können. Um zu den Mahlzeiten im Bekanntenkreis und zum Treffen unserer Freunde in unser schönes kleines hostal zu gelangen, mussten wir jetzt mühsam den Puig des Molins hinaufkraxeln, und neben dem Neubau klaffte ein riesiges, metertiefes Loch – man hatte eine rechteckige Baugrube ausgehoben, auf deren Grund ein Pendant zum Mietshaus entstehen sollte. Noch war allerdings nichts passiert; den Bauherren war wohl das Geld ausgegangen. Und es war erstaunlicherweise auch noch niemand hineingestürzt. Holprige, nachts unbeleuchtete Geröllwege, aus denen spitze Steine herausragten und auf denen man Gefahr lief, sich die Espadrilles aufzuschlitzen, führten auf den gesichtslosen Neubau zu, vor den beiden Eingängen befand sich eine verwahrloste Wiese mit einem uralten Johannisbrotbaum, und rechts hinter der dem Meer zugewandten Vorderfront stiegen die mit Pinien und Olivenbäumen bestandenen Hügel terrassenförmig an. Links erhob sich eine karge, unbebaute und abweisende Felswand: Militärgelände im Einzugsbereich der Festung. Wir schauten uns an und kamen uns etwas verloren vor. Wie bestellt und nicht abgeholt.
Uns lief jedoch gleich zu Beginn unseres Aufenthalts ein herrenloser junger Hund zu, den wir einfach nicht mehr loswurden. Er hieß uns willkommen, noch bevor wir Gelegenheit bekamen, Trübsal zu blasen. Tagaus, tagein wartete er vor der Wohnungstür auf uns und wickelte uns rasch um den Finger. Kein stolzer, eleganter podenco – der inseltypische, feingliedrige Wind- und Jagdhund –, sondern eine Promenadenmischung mit braunem, räudigem Fell und mal traurigen, dann wieder liebevollen großen Augen. Seine Anhänglichkeit war entwaffnend. Etwas einfallslos tauften wir ihn auf den Namen Aquí, »hier« oder »hierher«, und das ließ er sich nicht zweimal sagen. Wenn wir durch einen kurzen Tunnel, in dem wir vor lauter Übermut spitze Schreie ausstießen und uns an deren Echo erfreuten, durch ein pittoreskes Armeleuteviertel direkt in die Altstadt spazierten, die sich nach weiteren Gehminuten hinter dem Portal Nou vor uns auftat, folgte der zutrauliche Aquí uns auf Schritt und Tritt.
Nach ein paar Tagen hatten wir uns schon ein bisschen an die neue Situation gewöhnt. Unsere Nachbarn, die vecinos, waren fast ausnahmslos Ibicencos. Bereits beim Umzug begegneten sie uns mit freundlicher Neugier. Und um zum Meer zu gelangen, das aus der Ferne lockte, benutzten wir jetzt einen anderen Weg und rannten über die Felder auf einen kleinen Strandkiosk zu, den der wortkarge, mürrische Paco betrieb. Es war keine geringe Herausforderung, dort an den wellenumtosten, glitschigen Steinen Halt zu finden, unbeschadet ins Wasser zu gelangen und, nach dem Wettschwimmen zu einem großen Felsen, auf dem Möwen brüteten, dann auch unversehrt wieder herauszukommen. Noch dazu seeigelstachelfrei! Aber wir meisterten sie.
Es gelang uns ferner, eine winzige Kammer auf der Dachterrasse dazuzumieten. Meine Eltern funktionierten sie zu einem luftigen Schlafzimmer um. Es handelte sich dabei eigentlich um die Waschküche des Hauses, die streng genommen nicht bewohnt werden durfte. Doch hier oben, rund um das Penthouse im Miniaturformat, ging immer ein frisches Lüftchen, die Aussicht auf die Festungsmauern der Dalt Vila und eine kleine Gruppe von Inseln am Horizont war atemberaubend, wenngleich die Spanier keinerlei Notiz von ihr zu nehmen schienen, und bald tobten wir zwischen den Wäscheleinen umher, von denen Laken und Handtücher flatterten, kamen mit den Einheimischen ins Gespräch, die mit Aufhängen und Abnehmen beschäftigt waren, lernten die vecinos besser kennen, schnappten Wörter und Sätze im Inseldialekt auf. Und den Erwachsenen wurde es zur lieben Gewohnheit, in der Abenddämmerung bei einem Gläschen Rosado ein Schwätzchen zu halten, radebrechend Mandeln und Oliven zu naschen und einander näherzukommen. Unsere Terrasse – eine improvisierte Bodega. Die geselligen Abende zogen sich oftmals bis in die Nacht hin, kulinarische Mitbringsel waren unsere Tapas.
Wir alle wurden eine Spur spanischer in jenem Sommer. Von einem hageren Jungen aus der Nachbarschaft ließ ich mir ein paar neue Griffe und Kniffe auf der Gitarre zeigen, unsere Leidenschaft fürs Schachspiel wurde von unseren neuen Bekannten erwidert, und meine Schwester wurde anlässlich eines Festtags in die Tracht einer Ibicenca gesteckt. Wir verausgabten uns beim Gummitwist. Und wir betraten Neuland. So fanden wir heraus, dass man über eine alte, steile Steintreppe zur Festung hinaufklettern konnte. Versteckte Grotten gab es da und Schleichwege zum Hafen hinab. Wir ließen uns weitere geheimnisvolle Abkürzungen zeigen, gingen mit einem gleichaltrigen Zwillingspaar und ihren Harpunen unter Wasser auf Tintenfischjagd und wurden, Aquí stets auf den Fersen, in die Nachbarwohnungen eingeladen. Rasch war die Integration in die Hausgemeinschaft vollzogen. Wir kannten die meisten Vornamen auswendig, lernten täglich ein paar Ausdrücke hinzu und wurden von allen nur los guapos gerufen. Die Hübschen. Oder los rubios, die Blonden. Was ja auch zutraf. Meine Haare wurden im Sommer unter Einwirkung von Salz und Sonne sogar regelmäßig weißblond.
Auch in den Ferien lebten wir jetzt also in Parallelwelten. Zum Mikrokosmos des Mar-Blau-Hotels auf dem Hügel, vornehmlich Franzosen, Belgier und Festlandspanier, und zu den Freunden, die auf dem Land und in der Oberstadt wohnten, Dänen und eine Handvoll Deutsche, zum Nachwuchs der Hippies, meist Amerikaner und Briten, gesellte sich die Gruppe der Nachbarskinder hinzu – waschechte Ibicencos. Als gleichsam kosmopolitische Geschöpfe verbrachten wir, als wäre es selbstverständlich, lange, abenteuerliche Tage und lange, laue Sommernächte miteinander. Wir waren kleine Europäer, lebten eine Utopie und merkten es – zum Glück – nicht einmal. Von Jahr zu Jahr wurden wir ein Stückchen selbstbewusster, redegewandter und polyglotter. Ich begann, um das Inselglück zu verlängern, Brieffreundschaften mit einer jungen Klavierstudentin aus Gent, einem französischen Knaben aus Madrid sowie einer deutschen Malertochter, die das ganze Jahr über auf Ibiza lebte. Wir amigos besuchten einander gelegentlich auch in den Wintermonaten, außerhalb der Insel. Und wussten genau, dass wir uns im nächsten Jahr wiedersehen und uns miteinander austauschen würden. Die Erwachsenen feierten, je nach nationaler Zugehörigkeit, anfangs eher untereinander und hatten ihrerseits viel Spaß, wenn ihre spanischen und französischen Generationsgenossen sie dann zum Mitzechen einluden. Inwieweit sie sich auch sprachlich öffneten und hinzuzulernen bereit waren, beschäftigte mich damals nicht. Sie ließen uns meistens in Ruhe, freuten sich an der friedlichen, fröhlichen Existenz dieser multinationalen Großfamilie und sorgten den Rest des Jahres immerhin liebevoll dafür, dass wir uns unserer alljährlichen ibizenkischen Ferien sicher sein durften.
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Nachdem etwa ein Drittel dieser unbeschwerten Sommerfrische verstrichen war, fühlte ich mich zunehmend schlapp und antriebslos, fröstelte, wenn ich aus dem Wasser kam, obwohl an die vierzig Grad herrschten, und erwachte mit bleiernen Gliedern. Irgendetwas stimmte nicht mit mir. Ich bekam Fieber, die Kieferpartie schwoll an, meine Ohren waren verstopft, und ich konnte kaum noch kauen oder schlucken. Wie sich schnell herausstellte, hatte ich Mumps. Auch meine Mutter hatte es bös erwischt. Fast zeitgleich waren wir außer Gefecht. Für den Rest des Urlaubs wurde uns beiden Zimmerruhe verordnet. An Schwimmen und Tauchen, an heitere Strandspiele oder gar an spannende Entdeckungstouren in die vielen Viertel des Hafens und der gitanos war nicht mehr zu denken. Was konnte es für einen Elfjährigen Schlimmeres geben, als untätig im Bett zu liegen und die Laken durchzuschwitzen, während draußen ein perfekter Sommer ohne seine Beteiligung an ihm vorbeizog? Meine Mutter litt im Nebenzimmer. Besuch war uns nicht gestattet wegen des Ansteckungsrisikos, in die Sonne durften wir nicht und schon gar nicht ins Meer, nicht mal abends.
Verärgert und enttäuscht, zwischendurch immer mal wieder in einen Halbschlaf fallend, befand ich mich in einem zeitenthobenen Dämmerzustand, durchsetzt von wilden Träumen. Zwei, ja drei ganze Wochen verstrichen ungenutzt. Ausgerechnet jetzt! Als es allmählich wieder bergauf ging mit meinem Befinden, konnte ich mich wenigstens in einen Strohsessel setzen und vom schattigen Balkon aus den anderen Menschen beim Leben zuschauen. Ich musste mich damit begnügen, neidisch auf den perfekt blauen Horizont zu starren. Nicht einmal der wolkenlose Himmel bemühte sich, mir zuliebe eine Spur weniger hinreißend zu wirken. Meine Freunde hörte ich, ein paar Hundert Meter unterhalb von mir, in vier verschiedenen Sprachen in den Felsbuchten johlen und kreischen. Aquí tollte bellend um sie herum. Das ganze von Festungsberg und Mühlenhügel eingerahmte Tal öffnete sich vor mir wie eine weite Bühne, und mir kam es vor, als sei ich der einzige Zuschauer des dargebotenen Stücks. Zur Untätigkeit verdammt.
Auf einer Anhöhe links machte ich ein kleines Militärhospital aus, in dem psychisch angeschlagene Soldaten, beim Wehrdienst Verletzte und kranke Armeeangehörige ebenfalls eine herrliche Aussicht genossen. Im Gegensatz zu mir konnten einige von ihnen sich im Vorgarten und auf den Pfaden, die zum Meer hinführten, in blauen Bademänteln die Beine vertreten. Oder, auf Krücken gestützt, umherhumpeln – in die Mittagshitze ließ man auch sie nicht. Dann stellte ich fest, dass einer unserer Nachbarn, ein verkrachter und stets auch angeheiterter bayerischer Schauspieler, immer zur selben Stunde unser Mietshaus verließ und sich auf den Weg zu Pacos Strandkneipe machte. Pünktlich um vier Uhr nachmittags torkelte er aus seinem Appartement und begab sich, in freudiger Erwartung der nächsten Drinks und gekleidet in einen roten, unansehnlichen Bademantel, in Schlangenlinien Richtung Meer. Links unten im Haus hatte soeben eine Schule für Judo, Taekwondo und Jiu-Jitsu ihre Pforten geöffnet; asiatische Kampfsportarten waren seinerzeit noch ein absolutes Novum auf den Balearen. Am frühen Abend trafen dort die ersten iberischen Budoka ein, kleine Jungs, Burschen in meinem Alter, Halbwüchsige und Männer, und der Parkplatz füllte sich – bis eine veritable Armee von Spaniern in schneeweißen gegürteten Bademänteln im langen Schatten der Pinien plauderte, gestikulierte, ruckartige Bewegungen ausprobierte sowie Positionen des Angriffs und der Verteidigung simulierte, während sie geduldig auf den Beginn ihrer Kurse wartete. Das gesamte Tal schien überhaupt nur noch aus Bademantelmenschen zu bestehen, die fröhlich ihrer Beschäftigung nachgingen – eine surreale Szenerie. Farbtupfer in Rockform, baumelnde Kordeln im Olivenhain. Nur ich war zum Stillsitzen, Schwitzen und Drinnenbleiben verurteilt.
Kein Wunder, dass ich mich, stärker als je zuvor, in die Musik flüchtete und in die Literatur vergrub. Hasta mañana von Abba war damals der Sommerhit schlechthin. Pausenlos ließ ich ihn laufen, hörte mir die Akkorde ab und probierte mit Engelsgeduld so lange die Harmoniefolgen aus, bis ich den Song fehlerlos auf meiner Gitarre nachspielen konnte. Eine Etage unter uns wohnte ein dicker, gutmütiger Schlagzeuger, der nebenbei als E-Bassist in Rockbands spielte und damit des Nachts in Hotelbars sein Geld verdiente. Morgens, nach seiner Rückkehr von den Auftritten, erläuterte er mir von Balkon zu Balkon den Wechsel von e-moll nach D-Dur – mit den spanischen Fachbegriffen, versteht sich – und widmete sich den Rest des Tages mit zärtlicher Fürsorge seinen beiden kleinen Söhnen. Der jüngere von beiden, Vicente, litt an einer schweren spastischen Lähmung und fristete sein Leben im Rollstuhl. Womit ich nur wenige Wochen hadern musste, das Eingeschlossensein und das Alleinsein, war sein Schicksal – hinzu kamen für ihn die Gehbehinderung und unsägliche Schmerzen, die kaum artikulierbar waren. Nie, nicht einmal für eine Glücksminute, konnte er das Appartement verlassen, stieß, des Sprechens nicht mächtig, von Zeit zu Zeit furchterregende Schreie aus, war von allerlei tirilierenden Singvögeln in Käfigen umgeben und hatte sich im Laufe der Jahre zu einem wahren Opern-Aficionado entwickelt.
Stundenlang liefen bei voller Lautstärke La Traviata und Rigoletto, opulente Zarzuelas und alte spanische Volksweisen vom Plattenteller, während Vicentes Vater ohne Erbarmen auf seine heimischen Drums einhieb und zwischendurch die martialischen Rufe der Budoka und Karate-Novizen aus dem Erdgeschoss ertönten. Ich konterte mit Brahms’ Vierter, Tschaikowskys Pathétique und Mozarts g-moll-Symphonie, Rita Pavones pathetischer Ballade Fuggire da qui und dem sensationellen spanischen Eurovisions-Erfolg Eres tú von Mocedades, an dem ich mich nicht satthören konnte – selbstverständlich alles vom Kassettenrekorder, auf dessen Besitz ich mächtig stolz war. In den wenigen Pausen zwitscherten die Kanarienvögel um die Wette.
Dem Nachbarjungen Pablo, der sich liebevoll um seinen gequälten Bruder kümmerte, schien die Kakophonie ebenso wenig auszumachen wie den restlichen Hausbewohnern. Darunter waren inzwischen zwei recht exzentrische ältere Damen aus Frankfurt in den Etagen über und unter uns, die mich, offenbar entzückt von unverhoffter wie verfügbarer männlicher Gesellschaft, abwechselnd zum Spaghettiessen einluden und dabei grell geschminkt und leicht geschürzt in ihren Esszimmern vor mir auf und ab stolzierten. Mir schmeichelte es, und sie fühlten sich gebauchpinselt. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätten mit ihren hochhackigen Sandalen auf dem Steinboden aufgestampft wie Flamencotänzerinnen und somit den konfusen, ohrenbetäubenden Soundtrack, mit dem unsere residencia das stille, meerzugewandte Tal von früh bis spät beglückte, noch um weitere Klangballungen bereichert.
Selbst zu nächtlicher Stunde wurde unser Wohnblock quasi nonstop zum Konzertsaal: Kurz vor Mitternacht setzten nämlich oben auf dem Hügel die ausgedehnten Shows im Night Club ein – unter freiem Himmel. Deren Schallwellen wurden ungefiltert weit ins Tal hinausgetragen und fingen sich in der Baugrube nebenan, die wie ein Verstärker wirkte. Musik, manchmal auch nur Muzak umhüllte uns, drang über die Balkons und die große Terrasse in alle Schlafgemächer. Bässe wummerten, Streicher flirrten, Saxophone lockten, E-Pianos klirrten, und noch der Applaus war in aller Deutlichkeit zu vernehmen. Bis drei oder vier Uhr in der Frühe zogen sich die Darbietungen hin, und stets wussten wir genau, wer im bunten Entertainment-Programm gerade an der Reihe war – der virtuose Sologitarrist mit dem Dauerbrenner Asturias von Albéniz oder mit einer Popvariante von Rodrigos Concierto de Aranjuez, die Tanzkapelle mit spanischen Standards oder der dunkellockige Crooner Lorenzo Valverde, eine jugendliche Ausgabe von Julio Iglesias. Mit verführerischem Schmelz in der Stimme trug dieser Beau einfühlsam seine Balladen und sein Barry-White-Cover vor, und die von ihm angeschmachteten Señoras und Señoritas dankten es ihm mit lang anhaltendem Beifall und ekstatischen Olé-Rufen. Auf ihn folgten eine Reihe von Flamenco-Einlagen, ein cante-jondo-Solist, ein Zauberkünstler, dessen Tricks von spannungssteigernden Trommelwirbeln untermalt wurden, ein Alleinunterhalter, dessen Monologe und Späße mit den Lachsalven des Publikums abwechselten, und schließlich setzte, wenn auch nur kurz, die Disco-Phase ein. Eine eigenwillige Spielart von »Nächten in spanischen Gärten«! Die Reihenfolge der Nummern kannten wir buchstäblich im Schlaf, und so manche canciones setzten sich in unseren Träumen fest. Wir spürten genau, wenn die Combo nicht in Topform war oder der Magier einmal versagte, wann die Leute auf die Tanzfläche gelockt werden mussten oder wann sie gar nicht genug bekommen konnten von Eviva España, Sinatra-Songs, George McCraes erotischem Fistelgesang Rock Your Baby und sentimentalen Carpenters-Schnulzen.
Wie von selbst verstand sich, dass es niemandem unter den Hausbewohnern auch nur in den Sinn k...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Widmung
  5. Inhalt
  6. Liebeserklärung an eine unbestechliche Schöne
  7. Wie alles anfing
  8. Menschen im Hotel
  9. Stadtspaziergang durch eine Seelenlandschaft
  10. Verpflanzt, verborgen, verführt, verwurzelt
  11. Wie die Jungfrau zur Kunst
  12. Von Musenküssen, Machwerken und Mondscheinsonaten
  13. Kleine Sittengeschichte des Strandes
  14. Endstation Sehnsucht
  15. Tanit muss Trauer tragen
  16. Meine Insel als Nabelschnur
  17. Zitatnachweis
  18. Literaturverzeichnis
  19. Über das Buch
  20. Karte