Mein Haus am Meer
Es macht mich immer ein wenig nervös, auf Rügen, aber nicht am Meer zu sein. Vielleicht liegt es daran, dass mir der Bodden durch seine Nähe zur See stets das Gefühl gibt, er enthielte mir das Eigentliche vor. Ich kann es nicht ändern, am Bodden beschleicht mich der Eindruck, ich sei in einem Theaterfoyer, von dem aus der Blick auf die tatsächliche Szenerie im Bühnenraum verstellt ist. Ich bin wohl einfach zu maritim gepolt. Und zu ungeduldig in meinem Wesen.
Dabei ist der Strelasund im Süden Rügens bildschön mit seinen stillen Wassern, die sich leise wellen. Das Geräusch des Schilfs im Wind ist fast nur ein Wispern.
Eine Idylle des Friedens, die zuweilen eine erholsame Abwechslung darstellt zur sich aufbäumenden, offenen See, welche mir bei all dem maßlosen Glück auch jedes Mal Kraft abverlangt, denn sie löst sofort diese wilde Sehnsucht in mir aus, die bisweilen nicht leicht zu beherrschen ist.
Am Bodden, den ich nicht leidenschaftlich liebe wie das Meer, komme ich zwar nie zu mir, aber zur Ruhe.
Meist klingen von irgendwoher verhalten Motorengeräusch, Maschinen der Landwirtschaft oder kleine Boote, die über das Wasser tuckern. Man hört die Vögel und das Brummen der unzähligen Insekten.
Wenn ich mit meiner Großmutter manchmal einen Nachmittag am Bodden verbrachte, schlug ich immer ganze Heerscharen von Bremsen tot, die dort im blinden Blutrausch auf jede Art von Frischfleisch losgehen. Ich kam immer von oben bis unten zerstochen zurück in die Stadt.
Die riesigen juckenden Quaddeln am ganzen Körper haben meine Freundschaft zum Bodden nicht gerade befördert. Die stechenden Plagegeister lieben stehendes Wasser. Ich nicht. Ich habe schon als Kind nicht gern darin gebadet. Später habe ich es ganz gelassen.
Heute muss es schon sehr, sehr heiß sein, damit ich mich überwinden kann, in einem See oder dem Bodden zu schwimmen. Richtig gerne bade ich nur in Flüssen oder an Stränden, die denen meiner Kindheit ähneln: weiß und feinsandig, mit Dünen, sanft vom Seichten ins Tiefe sinkend, am Grund des Wassers nur das Muster, das der Wellenschlag hinterlässt. Selbstverständlich offene See. Alles andere ist mir unangenehm. Zu modrig.
Meine Großmutter und ich fuhren selten an den Strelasund. Wir waren meistens in Altefähr oder auf Hiddensee. Nur im Sommer besuchte Oma mit mir zusammen auf dem Fahrrad gelegentlich eine Kollegin, die in einem kleinen Ausbau nahe der Wamper Wiek wohnte und uns frische Eier, Gemüse und, wenn ihr Mann geangelt hatte, auch ein paar Fische mitgab.
Wir blieben selten lange. Meistens wurde nur ein Stündchen im Garten oder in der großen Küche Kaffee getrunken. Dazu gab es selbst gebackenen Zuckerkuchen und Eierlikör, den meine Oma mitgebracht hatte. Sie zog zwar »einen anständigen Schnaps« entschieden vor, speziell Wodka oder Kognak, aber sie wusste, dass ihre Kollegin nicht ganz so hart im Nehmen war. Für so was hatte meine Großmutter feine Antennen und sagte sich, lieber Klötenköm als ganz auf dem Trockenen sitzen. Also klebriger Eierlikör.
Ich erinnere mich genau, dass wir einmal einen ganzen, frischen Aal bekamen. Das war in der DDR selten, selbst an der Küste. Über Aal sagte man damals, er sei ein Dreifarbenfisch: grün gefangen, golden geräuchert und schwarz verkauft.
Oma sprach den ganzen Rückweg von nichts anderem als der kostbaren, schlangenhaften Beute in ihrer Tasche. Als wir in der Frankenvorstadt angekommen waren, packte sie den Aal sofort aus, um ihn zu waschen, in fingerlange Stücke zu schneiden und vor dem Braten in Mehl zu wenden. Ich stand die ganze Zeit fassungslos neben ihr in der schmalen Küche und kämpfte mit meinem Entsetzen. Das Tier wand sich und zuckte, als wäre es nicht längst tot, sondern würde gerade lebendigen Leibes auf besonders brutale Art gefoltert. Noch in der Pfanne sprangen die Happen herum, und als sie schließlich leblos auf meinem Teller lagen, stand ich wortlos auf, ging auf die Toilette und übergab mich.
Meine Großmutter neigte beim Mäkeln nicht eben zur Nachsicht, aber in diesem Fall ließ sie es auf sich beruhen. Es ist durchaus denkbar, dass sie deswegen nicht so streng war, weil sie den prächtigen Aal nun für sich alleine hatte. Sie liebte Fisch. Vor allem Aal und Flunder.
Ich liebe Fisch auch, aber Aal habe ich bis heute nicht gegessen. Weder geräuchert noch gebraten noch sonst wie. Als ich mit zwölf Jahren das erste Mal Die Blechtrommel im Fernsehen sah, war es endgültig vorbei.
Die wichtigste Angelzeit auf Rügen sind die Frühjahrsmonate. Es ist ein kleines Spektakel, die Hundertschaften von Hobbyfischern auf dem Rügendamm zu sehen, die von März bis Mai dort allmorgendlich, allabendlich und allnächtlich stehen und ihre langen Angeln ins Wasser halten, die wie ein dichter Schnurvorhang von der Brücke hängen. Erst kommt der Hering, das Silber der Ostsee, und im Mai der Hornfisch mit seinen leuchtend grünen Gräten, den es nur zum Laichen in baltische Gefilde treibt.
Im Rücken der Angler, die auf dem Stralsund und Altefähr zugewandten, abgegrenzten Fußgängerbereich des Rügendamms stehen, liegt zwischen dem Festland und Rügen eine Insel: der Dänholm. Ursprünglich hieß der Dänholm Strale und stand Stralsund damit entweder Namenspate oder war ein Taufbruder der Hanseatin. So genau kann das heute keiner mehr sagen. Sicher weiß man dagegen, dass die Umbenennung einer gescheiterten Däneninvasion des 14. Jahrhunderts zu verdanken ist.
Auf seinem Kupferstich hat Matthäus Merian der Ältere 1640 an das Eiland »Der Dehnholm« geschrieben. Ich mag das sehr. Das klingt, als würde sich die kleine Insel dehnen und dehnen, um an beide Enden des Sunds zu gelangen und mit ihrem unentschlossenen Zwitterdasein zwischen Stralsund und Rügen Schluss zu machen.
Genau diese besondere Lage jedoch war der Grund, warum Wallenstein auf dem Dänholm während des Dreißigjährigen Krieges eine große Festungsanlage errichten ließ. Kurz danach kündigten ihm die Stralsunder den Gehorsam, und die ebenso berühmte wie für Wallenstein erfolglose Belagerung der Stadt begann, in deren Folge wiederum die Schweden und mit ihnen Carl Gustav Wrangel an den Strelasund kamen … Die alten Militäranlagen wurden in den folgenden Jahrhunderten mehrfach ausgebaut, umgebaut, abgebaut und einmal sogar gänzlich geschleift, aber der Dänholm blieb doch ohne Unterbrechung in den Händen von Generälen. Als meine Großmutter in den Sechzigerjahren anfing, dort zu arbeiten, hatte gerade die Volksmarine das Kommando übernommen.
Oma hasste den Krieg. Durch ihn hatte sie ihre Heimat, ihre Familie, ihren ersten Verlobten und in den letzten Kriegsmonaten auch noch fast alle Schulfreunde verloren. Keiner älter als neunzehn. Diese Erfahrung hat sie sehr geprägt. Aber sie liebte auch klare Regeln. Übersichtlichkeit weckte stets ihr Vertrauen.
Deswegen hatte sie ihr Leben lang eine gespaltene Beziehung zum Militär. Einerseits war ihr die damit verbundene Macht suspekt, und sie unterlief diese, sobald es in ihren Augen nötig wurde, andererseits schätzte sie die straffe Organisation des Vereins sehr.
Meine Mutter ist da anderer Natur. Ihr Wesen schwankt zwar genau wie das meiner Großmutter und mein eigenes stetig zwischen Ordnung und Anarchie, aber sie neigte von Anfang an deutlich stärker zum Eigensinn.
Als sie 1969 ihre Gesellenprüfung als Handweberin abgelegt hatte und ihre fast achtzigjährige Stralsunder Lehrmeisterin bald darauf die Werkstatt schloss, die großen alten Webstühle verkaufte und in den Ruhestand ging, brauchte meine Mutter Arbeit. Solange sie sich nicht entschieden hatte, was sie mit ihrem schönen, aber auch sehr seltenen Beruf im Leben anfangen würde, musste sie irgendwo bleiben. Es ist heute ein wenig in Vergessenheit geraten, weil es schon so lange her ist, aber in der DDR wurden Arbeitslose verhaftet. Wer seine Stelle verließ und nicht sofort bei den Behörden angeben konnte, wann es wo weitergehen würde, machte sich »asozialen Verhaltens« verdächtig und damit strafbar. Ursprünglich sollten unter diesem juristischen Deckmantel Kriminelle weggeschlossen werden, aber im Alltag traf es vor allem Freiberufler, Künstler und Unentschlossene – was für den Arbeiter-und-Bauern-Staat aber ohnehin dasselbe war.
Um Maßregelungen dieser Art zu vermeiden, besorgte meine Oma meiner Mutter vorübergehend einen Job in der Offiziersmesse auf dem Dänholm. »Benimm dich, das sind meine Vorgesetzten!«, gab sie ihrer aufgeweckten siebzehnjährigen Tochter mit auf den Weg.
Die vornehme Arbeit als Bedienung des Stabs lag meiner charmanten, blonden Mutter. Beim Eindecken der Tische gab sie sich viel Mühe. Die Offiziere mochten sie gern und scherzten mit ihr.
Die niederen Tätigkeiten in der Küche verrichteten einfache Soldaten, die nur ein paar Jahre älter waren als meine Mutter. Sie freuten sich noch mehr über die Anwesenheit eines jungen, hübschen Mädchens. Und auch meine Mutter verstand sich gut mit den Jungs in der Küche. Weil sie ihr leidtaten, versuchte sie, ihnen zu etwas mehr Spaß zu verhelfen. Clever, wie sie war, kam ihr eine Bombenidee.
Da die Rekruten selten rausgelassen, aber regelmäßig zum Friseur in die Stadt geschickt wurden, begann sie, ihnen heimlich in der Küche die Haare zu schneiden, sodass die Matrosen während des einstündigen Ausgangs, statt beim Friseur zu warten, schnell in der Kneipe des nahen Rügendammbahnhofs ein paar Biere kippen konnten. Das flog natürlich irgendwann auf, und der alte Kommandant, der meiner Mutter väterlich zugetan war, ermahnte sie streng, bevor er sie zum Abwaschen in die Maatenküche strafversetzte.
Aber so leicht war meine Mutter nicht zu bändigen. Wenn die Soldaten nicht zu ihrem Vergnügen nach draußen durften, dann musste das Vergnügen eben rein in die Kaserne. Als sie einige Wochen später nach Dienstschluss in der Maatenküche bei einer Party mit diversen von ihr selbst hineingeschmuggelten Flaschen Alkohol und einem Dutzend angetrunkener Matrosen erwischt wurde, blieb dem Kommandanten nichts anderes übrig, als ihr zu kündigen. »In Unehren aus dem Armeedienst entlassen«, scherzt meine Mutter noch heute.
Meine Großmutter fand das damals gar nicht komisch. Sie war so wütend, dass sie bis zum Ende des Sommers nicht mehr mit ihrer Tochter sprach.
Erst später, als aus dem missratenen Mädchen doch noch etwas geworden war (und zwar Pädagogin), hat sie diese Geschichte oft selbst erzählt. Ich glaube, insgeheim imponierte ihr der Widerstandsgeist ihres Kindes doch ein bisschen. Zumal offensichtlich war, von wem sie den geerbt hatte.
Heute ist meine Mutter Bewährungshelferin. Jedes Mal, wenn sie über einen ihrer jugendlichen Probanden Ungehorsamsarrest verhängen lässt, denke ich, wie froh sie sein kann, dass ihre eigene Mutter diese Möglichkeit damals nicht besaß …
Der Dänholm fällt dem ungeübten Auge eines Rügen-reisenden Autofahrers heute nicht mehr in den Blick. Dort, wo man früher auf die kleine Insel schaute und gemütlich im Stau über den Dänholm nach Rügen tuckerte, überragt nun die neue Strelasundquerung die Stadt und rast achtlos über alles hinweg.
Die Armee ist Anfang der Neunzigerjahre endgültig vom Dänholm abgezogen. In der Kaserne befindet sich heute das große Marinemuseum. Den früheren Tonnenhof hat sich das Meereskundemuseum als Ausstellungsplatz gesichert. In den Hallen und auf dem Freigelände des sogenannten Nautineums kann man ganze Schiffe sehen, U-Boote, Bojen, Baken, Harpunen und so weiter. Alles zu Meeresforschung, Fischfang und Seehydrografie. Gelegentlich werden dort auch Wale seziert.
Die schillernde jüngere Schwester des Nautineums ist natürlich das Ozeaneum, ebenfalls ein Kind des alten Meereskundemuseums am Katharinenberg in der Innenstadt.
Neben dem hohen Speicher am Stralsunder Hafen, ungefähr da, wo in meiner Kindheit die Fritz Heckert lag, ein zum Arbeiterwohnheim umgebautes DDR-Kreuzfahrtschiff, und jetzt die heimgekehrte Gorch Fock ankert, baut sich als gewaltige weiße Kulisse das neue, gigantische Aquarienkonstrukt auf. Eine internationale Attraktion.
Das Ozeaneum passt zur neuen Rügenbrücke, einem Monsterbau, der genauso angibt und ein bisschen tut, als sei er das baltische Pendant zur Sundial Bridge in Kalifornien oder zum Puente de la Mujer in Buenos Aires. Der Strelasund und die weite Welt. Ich wünschte, es wäre so.
Doch auch wenn die Rügenbrücke kein Calatrava ist – mit einem Monster hat sie deswegen noch keine Ähnlichkeit. Im Gegenteil. Elegant liegt sie in einem hellen Bogen über dem Wasser. Vom Stralsunder Frankenteich aus gesehen, unterscheidet sie nichts von anderen Ostseebrücken.
Sie ist nur so unglaublich groß. So viel gewaltiger als der flache Rügendamm, der einem nie die Sicht nahm, weder zum Dänholm noch auf Rügen, geschweige denn auf Stralsund.
Das ist jetzt anders. Man sieht gar nichts mehr von da oben. Die neue Brücke überfährt meine Kindheit gnadenlos: die Werft, den kleinen Bahnhof, die Ziegelgrabenbrücke, den Dänholm und den halben Sund. Selbst die schöne Hansestadt verschwindet unter der Brücke einfach.
Ich bin nicht sentimental, was das betrifft. Natürlich schaue ich mit einer gewissen Verklärung nach Rügen hinüber oder von Altefähr auf Stralsund (was sicher der Grund ist, warum das riesige, fremde Bauwerk seine gespenstische Wirkung auf mich noch nicht verloren hat), aber ich weiß, dass es immer so ist mit den Orten der Kindheit. Sie verschwinden mit der Zeit. So wie sie waren, existieren sie irgendwann nur noch in den Bildern unserer Erinnerung.
In Stralsund jedoch erhebt sich die Moderne heute nicht nur über meine Vergangenheit. Denn die neue Brücke von Stralsund hat es auch objektiv in sich. Das ganze Ausmaß des Neubaus eröffnet sich dem Betrachter erst von Rügen aus. Der zentrale Brückenpylon misst 128 Meter. Das sind knapp 25 Meter mehr als der höchste Kirchturm der Stadt. Zu Hansezeiten wäre das unmöglich gewesen. Eine Brücke höher als die Kirche, das war ungehörig. Nicht nur der lübischen Bauordnung nach sollte nichts die Gotteshäuser überragen.
Zumal diese Stralsunder Kirche, St. Marien am Neuen Markt, einmal das höchste Bauwerk der Welt war. Jawohl! Ganze zweiundzwanzig Jahre lang. Die erstaunliche Bestleistung liegt zwar schon über 350 Jahre zurück, und genau genommen war es auch nicht der heutige 104-Meter-Turm mit der Barockhaube, sondern der 1647 nach einem Blitzeinschlag abgebrannte alte gotische Turm von 1...