Unser Venedig
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Unser Venedig

  1. 168 Seiten
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Über dieses Buch

Zwei Autoren, wie sie auf den ersten Blick unterschiedlicher nicht sein könnten: die französisch schreibende Sachbuchautorin Anka Muhlstein, der englisch schreibende Romancier Louis Begley. Während Begley seine Romanhelden immer wieder nach einem Ausweg aus dem Albtraum Geschichte suchen lässt, muss Muhlstein mit ihren vielfach ausgezeichneten Biographien mitten hinein in die Historie gehen. In "Venedig unter vier Augen" unternimmt Anka Muhlstein einen Streifzug durch die Serenissima, während Louis Begley dem genius loci dieses einzigartigen Orts der Weltliteratur bei Henry James, Marcel Proust und Thomas Mann nachspürt und in einer meisterhaften Erzählung von einer erotischen Initiation und dem einzigen Weg nach Venedig erzählt: "Fährst du nach Venedig, musst du in einer Gondel ankommen, sagte Lilly, das ist das einzig Wahre. Alles andere wäre ein Sakrileg. Eine Gondelfahrt vom Bahnhof zu deinem Hotel, damit tust du der Stadt und dir Genüge, meine ich. Ich sollte dir dazu sagen, dass eine Autorität wie Thomas Mann anderer Meinung ist. Jedenfalls war er anderer Meinung, als er den "Tod in Venedig" schrieb. Dort steht, dass auf dem Bahnhof in Venedig ankommen einen Palast durch die Hintertür betreten hieße."

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Information

Jahr
2019
ISBN
9783866483705
Louis Begley

Romane und Venedig

«Venedig: es ist eine Freude, das Wort zu schreiben, aber ich weiß nicht, ob es nicht eine gewisse Anmaßung wäre, wollte man so tun, als sei dem noch etwas hinzuzufügen. Venedig ist tausendfach gemalt und beschrieben worden und von allen Städten der Welt am leichtesten zu besichtigen, ohne dass man eigens dorthin reist. Schlagen Sie das erstbeste Buch auf, und Sie werden eine Rhapsodie über Venedig finden; gehen Sie in die erstbeste Kunsthandlung, und Sie werden drei oder vier «Stadtansichten» in leuchtenden Farben finden. Jeder weiß, dass es zu diesem Thema nichts mehr zu sagen gibt.»
Das sind nicht meine Worte, sondern die von Henry James, der – zu seinem Ruhm und unserem Glück – gegen den eigenen Rat wieder und wieder über La Serenissima schrieb. Ich habe beim Romanschreiben seine Empfehlung offenkundig auch missachtet und werde sie jetzt erneut außer Acht lassen. Der zauberhafte Essay, aus dem ich gerade zitiert habe, findet sich in einer Sammlung von James’ Reiseberichten, die unter dem Titel Italian Hours erschien. Als Romanautor verstieß James in zwei Fällen gegen seine eigene Anweisung und machte Venedig zum ausschließlichen Schauplatz einer Erzählung oder verlegte Teile der Geschichte in die Stadt, erst mit Asperns Nachlaß, in drei Teilen in Atlantic von März bis Mai 1888 veröffentlicht, und dann mit Die Flügel der Taube, dem Roman, der 1902, vor rund hundert Jahren, erschien, als James gerade 59 Jahre alt war. Besonders bewegend finde ich, dass er innerhalb der beiden folgenden Jahre zwei weitere Meisterwerke veröffentlichte, die sich mit Die Flügel der Taube messen können und genauso genial sind wie dieser Roman, 1903 Die Gesandten und 1904 Die goldene Schale; ich erwähne es aus Verehrung und zunehmend staunender Bewunderung für James. Mit der Vollendung dieser drei Romane schloss er sein Lebenswerk als Romanautor ab, blieb jedoch noch als homme de lettres tätig. Zwölf Jahre später starb James, am 28. Februar 1916.
Ich bin seit 1954 immer wieder in Venedig gewesen. In den achtziger Jahren wurden Reisen nach Venedig zu einer selbstverständlichen, alljährlich wiederholten Unternehmung, die für meine Frau und mich inzwischen zum festen Bestandteil unseres Lebens geworden ist. Immer noch überfällt uns dasselbe Glücksgefühl, wenn wir im Wassertaxi auf dem Weg vom Flughafen zum ersten Mal die Silhouette der Stadt im Morgendunst schimmern sehen, wenn wir wieder feststellen, dass unsere Lebensweise in Venedig unserer Arbeit gut bekommt und dass unser Sohn, ein Maler, der nun schon seit vielen Jahren in Rom lebt und sich mit den venezianischen calli und rii und sottoporteghi und den Schätzen in den Sakristeien abgelegener Kirchen fast genauso erstaunlich gut auskennt wie meine Frau, auch heute noch harmonische Tage mit uns verbringt – wir treffen uns mittags und zu sehr späten Abendessen, um uns in der Zeit dazwischen ungestörte Arbeitsstunden zu sichern. Es hat sich so ergeben, dass ich die Romane Prousts und Thomas Manns schon Jahre vor meiner ersten Reise nach Venedig kennen lernte: Thomas Mann von 1949 an, als ich Tod in Venedig, Mario und der Zauberer und Unordnung und frühes Leid las, und Proust 1950/51, als ich mich in neun Monaten durch alle Bände von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit arbeitete. 1950/51 las ich auch die Buddenbrooks und den Zauberberg und in den Jahren danach alle oder fast alle anderen Romane und Novellen von Thomas Mann. Anfang der fünfziger Jahre, wann genau, kann ich nicht sagen, fing ich zudem an, Henry James zu lesen, wahrscheinlich zuerst die Erzählungen und dann vielleicht Die Drehung der Schraube und Washington Square, im Anschluss daran, noch während meiner Collegezeit, die umfangreicheren Werke. Auf jeden Fall kannte ich Die Flügel der Taube 1954, im unglaublichen Sommer meiner ersten Erfahrung mit Venedig. Meine lebenslange unablässige Gewohnheit, Menschen, Ereignisse und Schauplätze durch die Brille von Romanen zu betrachten, die ich bewundere – jeder Roman ist wie ein besonderer Filter, der eine eigene, von anderen verschiedene, aber annehmbare und interessante Version des betrachteten Gegenstandes zu erkennen gibt, sodass ich zum Beispiel das Forum Romanum genauso gut durch den Filter von Sienkiewicz’ Quo vadis? wie aus der Perspektive von Henry James’ Daisy Miller sehen kann –, diese Gewohnheit gibt mir guten Grund zu glauben, dass mich meine Erinnerung nicht trügt, wenn sie mir sagt, ich hätte Venedig schon auf den ersten Blick in Parallele zum Venedig von James, Proust und Mann angeschaut.
Unsere Beziehung zu Romanen, die wir über lange Zeit bewundern, ändert sich mit den Jahren, da wir im Lauf der Zeit mehr Erfahrung mit dem Leben und auch mit der Dichtung sammeln. Die größte Veränderung tritt bei den Romanen ein, die wir am meisten bewundern, da wir sie am besten kennen. In meinem Fall kam noch eine spezifische Veränderung dazu, seit ich 1989 anfing, selbst Romane zu schreiben. Ich verstand zunehmend besser – oder meine wenigstens, besser zu verstehen –, wie das Werk eines anderen Autors wirklich geschrieben ist, welche unmittelbaren praktischen Probleme sich dem Autor in den Weg stellten und Seite für Seite, Beschreibung für Beschreibung, Charakterentwicklung für Charakterentwicklung mehr oder weniger gut beseitigt werden mussten. Dieses Verständnis ist sehr verschieden von der literarischen Bildung, die ich zuvor besaß: Übung in genauer Wahrnehmung stilistischer Besonderheiten, der Fähigkeit, die Wiederkehr bestimmter Themen im Text zu verfolgen sowie Symbole und ihre Verwendung zu erkennen, einen geschärften Sinn für das Aufspüren verborgener Bedeutungen und andere ähnliche Fertigkeiten, die für eine gute Textinterpretation unentbehrlich sind. Folglich ergab es sich wie von selbst, dass ich mir nun im Zusammenhang mit Romanen über Venedig, die Stadt, die ich allmählich auch sehr gut kennen gelernt hatte, bestimmte eher praktische Fragen stellte. Ich wollte wissen, wie diese drei großen Autoren – James, Proust und Thomas Mann – «es bewerkstelligt» hatten. Ich benutze bewusst eine Wendung von James, denn nach meiner Ansicht trifft sie den Kern der Frage, was eigentlich vorgeht, wenn man einen Roman schreibt. Alle drei hatten Venedig als einen wichtigen Schauplatz verwendet. Gab es einen besonderen Grund für diese Wahl? Wird Venedig nur als grandioses Bühnenbild benutzt, oder gibt es einen notwendigeren, eher organischen Zusammenhang? Hat die Entscheidung und das, was James, Proust oder Mann in den fraglichen Werken aus Venedig gemacht haben, zu diesen Romanen etwas beigetragen, das über seitenlange glänzende Beschreibungen hinausginge? Im Hintergrund der Überlegung stand mein mit der Erfahrung wachsendes Bewusstsein davon, welche unbarmherzige Aufgabe auf einen Romanschriftstellerwartet, nachdem er die Charaktere seiner Geschichte und das Dilemma, in dem sie stecken, einmal gefunden und den Ton getroffen hat, in dem ihre Geschichte erzählt werden will: Er muss dann die Geschichte von Ereignis zu Ereignis vorantreiben. Im Verlauf dieser Entwicklung hat er die Handlung irgendwo anzusiedeln. Manchmal verlangt die Eigenart der Erzählung mehr als einen Schauplatz. Ich wusste auch, dass als Schauplatz nicht immer zwangsläufig nur der eine oder der andere Ort in Frage kommt; es kann durchaus so sein, dass ein oder zwei Schauplätze nicht austauschbar sind, weil die Geschichte sie unbedingt erfordert. Andere sind ersetzbar, je abhängig von den Ressourcen an Wissen, Phantasie und Urteilskraft, über die der Autor verfügt. Woran sollte gemessen werden, ob Entscheidungen, die nicht zwangsläufig gefallen sind, glücklich waren – prinzipiell an der Qualität und Überzeugungskraft des Geschriebenen, oder sollte man zusätzlich noch nach etwas anderem Ausschau halten? Ich glaubte, wenigstens die Antwort auf die letzte Frage zu wissen: Wenn der Schauplatz des Werks zur Geschichte beitragen und ihre Dramatik steigern konnte, dann ist dies ein beabsichtigtes Ergebnis.
Auslöser für Asperns Nachlaß war eine Anekdote, die James 1887 in Florenz hörte. Sie handelt von einem amerikanischen Literaturkritiker und «Shelley-Verehrer», einem gewissen Captain Silsbee, der erfährt, dass Miss Claremont, eine hochbetagte frühere Geliebte Lord Byrons, Mutter seiner Tochter Allegra und Halbschwester von Shelleys zweiter Ehefrau, mit einer Nichte mittleren Alters in Florenz wohnt und im Besitz eines Briefwechsels zwischen Shelley und Byron ist, der vollkommen geheim gehalten wurde. Silsbee ist entschlossen, die Briefe um jeden – oder, wie sich herausstellt, fast jeden – Preis an sich zu bringen, und erschleicht sich das Vertrauen der beiden Frauen, die ihn als Untermieter aufnehmen. Er hofft für den Fall, dass die ältere Dame während seines Aufenthalts sterben sollte, der Nichte den Briefwechsel abkaufen zu können, da die Damen Claremont sehr arm sind. Fast geht sein Plan auf, nur dass die Nichte kein Geld haben will. Vielmehr erklärt sie Silsbee: «Ich gebe Ihnen alle Briefe, wenn Sie mich heiraten!», worauf dieser die Flucht ergreift und, wie James in seinen Notizbüchern anmerkt, «court encore». «Nach meiner Empfindung verlangte das Taktgefühl», schrieb James im Vorwort zur New Yorker Ausgabe von Asperns Nachlaß (1910),
«dass ich die Florentiner Anekdote in einer entschlackten, von allen zu offensichtlichen Anspielungen geläuterten Version wiedergeben müsse; also verlegte ich als Erstes den Schauplatz des Abenteuers. Juliana [die ältere Miss Bordereau, die in Asperns Nachlaß an die Stelle der älteren Miss Claremont trat] war nur im Italien Byrons und mehr oder weniger unmittelbar nach Byron denkbar; aber zufällig fanden sich Verhältnisse, in die sie ganz ideal einzupassen war, besonders da es um die spätere Zeit und ihr langes, unentdecktes Überleben ging; es gab absolut keine vornehme Form von moderigem Rokoko in menschlicher oder beliebiger anderer Gestalt, die man nicht mit vielversprechenden Aussichten auf Erfolg beim Anlanden an den abgesunkenen Außentreppen fast jedes verfallenen Baudenkmals venezianischer Größe anzutreffen hoffen konnte. Kurz: Es ging darum, die eigenen Spuren zu verdecken; und ich hatte das Gefühl, ich könne meine nicht besser verdecken als dadurch, dass ich einen vergleichsweise amerikanischen Byron postulierte, der zu einer amerikanischen – und zwar möglichst absolut amerikanischen – Miss Claremont passte. Ich weiß gar nicht, ob ich heute am besten sage, dass mich dieser Kunstgriff wenig oder dass er mich viel kostete; er war ‹billig› oder aufwendig nach Maßgabe des Wahrscheinlichkeitsgrades, der mit den Mitteln der Kunst erreicht wird.»
Der von James postulierte und erfundene amerikanische Byron, der gefeierte Dichter, der Miss Juliana Bordereau liebte, ist Jeffrey Aspern; an die Stelle der englischen Misses Claremont ließ James die betagte Miss Juliana Bordereau und ihre Großnichte Tina «von weniger vorgerücktem Alter» treten, Amerikanerinnen eines Typs, der im Europa des neunzehnten Jahrhunderts nicht unbekannt war, «scheu, geheimnisvoll und, wie man vage annahm, kaum achtbar … vermutlich hatten sie in der langen Zeit des Exils jeden Nationalcharakter verloren». James ließ sie in einem Palazzo wohnen, der
«nur zwei oder drei Jahrhunderte, also nicht besonders alt war; und er hatte eine Aura weniger des Verfalls denn einer stillen Mutlosigkeit, als habe er seine Karriere verfehlt».
Natürlich leben Juliana und Tina «von nichts, denn sie haben nichts zum Leben». Aus Silsbee machte James den namenlosen Erzähler, einen amerikanischen Historiker und Verleger, der in England lebt, einen Mann, derartig fixiert auf den literarischen Nachlass des Dichters, dass er «um Jeffrey Asperns willen jede Schandtat begehen würde», wie er Mrs. Prest, seine Freundin und Protektorin in Venedig, wissen lässt. Nach der Erfahrung seines englischen Partners, der von Miss Juliana abschlägig beschieden wurde, weiß der Erzähler, dass die alte Dame den Besitz des Briefwechsels nicht zugeben und sich erst recht nicht davon trennen wird. Mrs. Prest regt ihn zu einer Silsbee-gleichen List an: «Bringen Sie die beiden dazu, Sie als Mieter aufzunehmen.» Genau das tut er und belagert Miss Tina, in der Hoffnung, sich durch ihre Vermittlung irgendwie Gewissheit verschaffen zu können, dass die Manuskripte am Ort sind und in Sicherheit bleiben werden und dass er in den Verhandlungen mit den Nachlassverwaltern oder mit Miss Tina selbst einen Platzvorteil haben wird, falls es ihm gelingt, beim Tod der alten Dame zur Stelle zu sein. Das Schicksal behandelt ihn, wie es Silsbee behandelt hat: zu gütig. Juliana stirbt, während er noch im Palazzo zur Miete wohnt, aber genau wie die jüngere Miss Claremont macht auch Miss Tina klar, dass er die Manuskripte zwar haben kann, jedoch nur als ihr Ehegatte. Wie Silsbee ergreift auch der Erzähler die Flucht. Anders als jener kehrt er zurück – und muss erfahren, dass Miss Tina mit ihrem feinen Taktgefühl seine unausgesprochene Weigerung verstanden und die einzige mit ihrer Ehre verträgliche Handlung vollzogen hat, die ihre und des Erzählers Versuchungen beenden musste. Sie hat den Nachlass Asperns verbrannt, Blatt für Blatt.
Vielleicht weil er die Handlung des Romans aus Takt von Florenz nach Venedig verlegte, meine ich, dass James die Stadt der «öffentlichen Ausstellung», wie er sie nannte, hauptsächlich als Bühnenbild verwendete und Personen und Aktivitäten, die man «typisch venezianisch» nennen könnte, nur einführte, um die Bühne mit Personal zu bevölkern, die Handlung zu beleben und die nötige Atmosphäre zu schaffen. Deshalb führt er uns Mrs. Prest vor, geschaffen nach dem Modell jener reichen, dominanten, kompetenten und penetranten in Europa lebenden Amerikanerinnen, die in James’ Werk regelmäßig auftreten. Er verwendet die Gondel als Symbol venezianischen Lebens, weil es von den Lesern leichter erkannt wird und eine größere Vielfalt unmittelbarer Konnotationen erlaubt als der Löwe von St. Markus. Deshalb hat der Erzähler einen Gondoliere zum Begleiter, Pasquale, der alles in die Hand nehmen und organisieren kann, was ihm angetragen wird, und die prompte Verfügbarkeit einer Gondel macht größten Eindruck auf Miss Tina, die seit vielen Jahren nicht mehr in einer gesessen hat. (Es ist amüsant, dass ein Gondoliere namens Pasquale in den Flügeln der Taube ebenfalls einen kurzen Auftritt hat.) James zeichnet auch eine knappe Skizze vom Leben und der Gesellschaft der beiden altjüngferlichen Damen:
«Sie hatten alle Sehenswürdigkeiten besichtigt; sie waren sogar im Boot zum Lido gefahren … dort hatten sie einen in drei Körben mitgebrachten und im Gras aufgebauten Imbiss eingenommen. Ich [der Erzähler] fragte sie, wer zu ihrem Bekanntenkreis gehört habe, und sie sagte, Oh, ganz reizende Menschen – der Cavaliere Bombicci und die Contessa Altemura, mit der sie eng befreundet gewesen seien! Auch Engländer – die Churtons und die Goldies und Mrs. Stock-Stock, die sie sehr liebten; sie sei nun tot und begraben, die Gute. Das sei der Fall mit den meisten aus ihrem liebenswürdigen Kreis – so drückte sich Miss Tina aus –; aber ein paar seien noch übrig, wirklich ein Wunder, wenn man bedenke, wie sehr sie beide die Bekannten vernachlässigt hätten. Sie nannte die Namen von zwei oder drei alten Venezianerinnen; eines Arztes, sehr klug sei er und so aufmerksam – er komme als Freund, seine Praxis habe er ganz aufgegeben; des avvocato Pochintesta, der wunderschöne Gedichte schreibe und ihrer Tante eines gewidmet habe. Diese Leute stellten sich zuverlässig jedes Jahr bei ihnen ein, gewöhnlich zum capo d’anno … wen die guten Venezianer einmal ins Herz geschlossen hätten, den behielten sie immer lieb.»
Allzu viel Mühe machte sich James hier ganz offenkundig nicht; die Namen, die er diesen Statisten seiner Bühnenausstattung gibt, sind sicherheitshalber komisch, falls der Leser nicht gemerkt haben sollte, dass der Meister sich amüsieren will. Wären Miss Juliana und Miss Tina mit einer Kutsche zum Prato gefahren, statt sich im Boot zum Lido rudern zu lassen, und würde man statt venezianisch das Wort ‹florentinisch› einsetzen, wären wir in Florenz.
Anders steht es, wenn Aussehen und Atmosphäre Venedigs heraufbeschworen werden. Das geschieht mit außerordentlich ökonomischem Einsatz der Mittel, mehr durch Suggestion als durch Beschreibung spezifischer Einzelheiten, und die Stadt wird lebendig. (James’ minimalistische Technik erreicht vielleicht in Die Gesandten ihren Höhepunkt, wo es ihm gelingt, Paris entstehen zu lassen, indem er nur hier und da einen Satz einstreut, der vor den Augen des Lesers ganze Stadtviertel auftauchen lässt.) Zu dem Palazzo, in dem Miss Juliana und Miss Tina wohnen, gehört ein großer Garten. Sehr viele solcher Paläste an abgelegenen Kanälen haben sich nicht verändert. Trotzdem gibt es einen bestimmten Palazzo, drei Brücken weit von der Scuola di San Giorgio degli Schiavoni, der in meinen Augen so sehr dem Domizil von Miss Juliana gleicht, dass ich immer noch überzeugt bin, den Palast identifiziert zu haben, den James beschrieb. Der Grund dafür ist, dass ich eher die Stimmung in Erinnerung habe, die James schuf, und nicht so sehr das Bild einer spezifischen Fassade, Brücke oder eines Kanals. Ein Beispiel ist der Garten des Palazzo; James’ Erzähler sagt:
«Ich ließ eine Laube bauen und einen niedrigen Tisch und einen Sessel hineinstellen; und ich trug Bücher und Mappen dorthin – Schreibarbeiten hatte ich immer zu erledigen –, und so arbeitete und wartete und sann und hoffte ich, während die goldenen Stunden vergingen und die Pflanzen das Licht tranken und der undurchdringliche alte Palazzo farblos wurde und, sobald der Tag sich neigte, wieder auflebte und zu erglühen begann und mein Papier in der unsteten Brise von der Adria raschelte.»
Und hier eine Beschreibung der Piazza San Marco:
«Ich saß vor dem Café Florian, aß Eis, lauschte der Musik, unterhielt mich mit Bekannten: Venedigreisende werden vor Augen haben, wie sich das übermäßige Gemenge von Tischen und Stühlen einer Landzunge gleich in den glatten See der Piazza schiebt. Der ganze Platz ist an einem Sommerabend, unter den Sternen, mit all den Lampen, den Stimmen und den leichten Schritten auf dem Marmor – den einzigen Lauten aus den weiten Arkaden, die ihn umschließen – ein Freiluftsalon, Ort für kühlende Getränke und für einen noch deli...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Widmung
  3. Titel
  4. Impressum
  5. Inhalt
  6. Der Königsweg nach Venedig
  7. Die Schlüssel zu Venedig
  8. Begleys in Venedig
  9. Romane und Venedig
  10. Über das Buch
  11. Karte