Mittwoch, 14:45
Die Schwester des Opfers
»Hier ist es: Nummer 50«, stellte Nemecek fest. »Jetzt brauchen wir nur noch einen Parkplatz.«
»Nobel geht die Welt zugrunde.« Mit dem Kinn deutete Obermayr in Richtung der prachtvollen Gründervilla, in der Sylvie Steiner wohnte. Nemecek setzte schon zu einem Kommentar an, ließ es dann aber sein. Was hätte er schon dazu sagen sollen? Genau so etwas war zu erwarten gewesen: jede Menge alte Häuser, bisweilen wahre architektonische Schmuckstücke, die mit ihren verspielten Türmen, Erkern, Balustraden und Stuckaturen an die Märchenschlösser Walt Disneys erinnerten. Geld und Politik, fasste Nemecek das soziale Umfeld zusammen – schließlich gab es hier im 18. Bezirk nicht nur klassische Familiensitze, sondern auch eine Menge Botschaften.
Wenig später standen sie vor dem schmiedeeisernen Tor, das ihnen Einblick in einen gepflegten Vorgarten gewährte: in Stein gefasste Blumenbeete, ein Zierbrunnen, eine Sitzbank unter einer hohen Tanne. Richtiggehend kitschig, fand Nemecek und musste schon wieder an Walt Disney denken. Während Obermayr auf den altmodischen Klingelknopf drückte, drehte er sich noch einmal um. Der Türkenschanzpark lag tatsächlich genau gegenüber. Aus Steiners Wohnung im zweiten Stock musste man einen guten Blick auf den Springbrunnen haben, der sich gleich hinter dem Parkeingang aus einem kleinen Teich erhob.
»Steiner«, ertönte es aus der Gegensprechanlage. »Kriminalpolizei«, verkündete Obermayr mit der Hand auf der Klinke. »Zweiter Stock«, hörten sie, dann summte es und Obermayr zog die Tür auf.
Während sie über den knirschenden Kies zur Haustür gingen, warf Nemecek einen Blick durch die breiten Fenster des Erdgeschosses. Ganz ohne Vorhänge, wunderte er sich – und staunte gleich noch mehr, als er den jugendstilartigen Luster entdeckte, der hier von der Decke hing. Die schwarzen Kabel bildeten einen scharfen Kontrast zu dem hellen Raum. Insgesamt schien hier dennoch alles in Balance zu sein: die grünen Fensterrahmen passten ebenso ins Bild wie die Gipsverzierungen, die sich in geraden Linien nach oben zogen. Die Fassade des ersten Stockwerks war von kleinen roten Backsteinen durchsetzt, die Nemecek an das Gebäude der SafeIT erinnerten. Ob hier derselbe Baumeister am Werk gewesen war? Zumindest war es derselbe Stil, denn auch hier hatte man jedes Stockwerk ein wenig anders gestaltet. So wies die zweite Etage viel schmälere, dafür umso höhere Fenster auf, die oben halbrund abgeschlossen wurden. Das Dach ruhte auf massiven Holzbalken, die weit über die Fassade hinausragten, sodass der obere Stock leicht umschattet wurde. Die roten Dachziegel darüber wirkten wie frisch lackiert.
»Na, brauchen wir heute eine Sondereinladung?«, beendete Obermayr seinen kleinen Ausflug in die Baukunst des 20. Jahrhunderts. Erst jetzt bemerkte Nemecek, dass sie ihm die Haustür aufhielt. Wie lange sie wohl schon da stand? Rasch ging er auf sie zu und schlüpfte durch den Eingang.
»Die ist noch von echtem Schrot und Korn«, attestierte Obermayr der unter jedem Schritt ächzenden Holztreppe, die sie in den zweiten Stock hinauf führte. »Da hörst du Geschichte!«
Am Ende standen sie vor einer zweiflügeligen Holztür, die mit einer altmodischen Drehklingel ausgestattet war. Bitte, war über dem schmalen, mit stilisierten Eichblättern verzierten Griff zu lesen und gleich darunter: Drehen. Obermayr warf Nemecek einen vielsagenden Blick zu.
»Wie ein altes Fahrrad«, stellte Nemecek fest, nachdem seine Kollegin geläutet hatte. Gleich darauf öffnete sich vor ihnen ein kleines Türfensterchen, das er bisher übersehen hatte. Ein altmodischer Spion, setzte er seine Geschichtsreise fort, während er krampfhaft versuchte, seine Augen auf den dunklen Gesichtsausschnitt vor ihm zu fokussieren.
Obermayr hielt ihren Dienstausweis hoch. »Bezirksinspektorin Obermayr, Chefinspektor Nemecek.«
»Danke«, beschied ihnen eine unerwartet dunkle Stimme. Hatte sie in der Gegensprechanlage nicht viel heller geklungen? Gleich darauf schloss sich das Fensterchen wieder und sie vernahmen die klackenden Geräusche sich öffnender Türschlösser.
Nemecek fragte sich, ob diese Schlösser wohl von der Securitas stammten. Mit einem Male wusste er, woran ihn dieser Firmenname schon die ganze Zeit über erinnerte: Hatte nicht der berüchtigte Geheimdienst des früheren rumänischen Diktators so ähnlich geheißen? Dieses finsteren Typen, dessen Hinrichtung per Video aufgenommen wurde? Und später rund um die Welt ging?
Endlich öffnete sich die Tür und vor ihnen stand eine großgewachsene Frau mit dunklen Haaren. Sie hatte ein feingeschnittenes Gesicht mit hohen Wangenknochen und vollen Lippen. Das Gesicht eines Fotomodells, pointierte Nemecek, wie eine leere Leinwand, auf die sich alles zaubern ließ: ein Lächeln, Gleichgültigkeit, Missmut, Zorn. Als sich sein Gegenüber aus dem Türschatten ins Licht drehte, sah Nemecek, dass Sylvie Steiner ganz hellblaue Augen hatte. Ob das Kontaktlinsen waren?, fragte er sich unwillkürlich, während er gleichzeitig versuchte, Ähnlichkeiten zwischen den Geschwistern festzustellen. Hatten sie nicht dieselbe Gesichtsform mit ähnlich klaren Zügen? Oder wurde seine Erinnerung zu stark von den aktuellen Eindrücken beeinflusst?
»Sylvie Steiner?«, fragte er überflüssigerweise. Die Angesprochene trat einen halben Schritt zurück und wies mit der Hand in den Vorraum. Während sie an einem altmodischen Buffet vorbei weiter ins Innere der Wohnung vordrangen, hörte Nemecek, wie hinter ihm die Schlösser einrasteten. »Eine vorsichtige Frau«, flüsterte ihm Obermayr zu.
Schon ging diese Frau an ihnen vorüber, um mit einer kraftvollen Bewegung die nächste Doppeltür aufzustoßen. Erst jetzt, da sich das gleißende Tageslicht in den Vorraum ergoss, fiel Nemecek auf, dass Steiner keine Schuhe trug. Sie folgten ihrer wortkargen Gastgeberin zu einer weitläufigen Sitzlandschaft, die die rechte Hälfte des Raumes dominierte. Wenn man von einer modernen Stehlampe absah, war die andere Hälfte völlig leer. Mindestens 50 Quadratmeter, schätzte Nemecek und blickte über den spiegelnden Parkettboden auf die vorhanglose Fensterreihe, vor der sich die Kastanienbäume im Wind wiegten. Einige Augenblicke lang schimmerte tatsächlich der Springbrunnen durch das Blätterwerk.
»Frau Steiner«, beendete Obermayr seinen Rundblick, »Sie wissen, warum wir hier sind.«
Mit einer kleinen Bewegung gab Sylvia Steiner zu verstehen, dass ihr das durchaus bewusst war. Sie saß aufrecht auf der Sofakante und hatte ihre langen Beine übereinandergeschlagen. Ob sie ihren Nagellack immer mit ihrer Augenfarbe abstimmte?, fragte sich Nemecek als er die hellblauen Zehen wahrnahm. Ihr rechtes Knie berührte beinahe den Glastisch, auf dem kein einziger Fettfleck zu sehen war. Das sollten seine Töchter sehen, dachte Nemecek. Schließlich behaupteten diese ständig, dass man einen Glastisch nicht sauber halten konnte. Dass sich, wie ihm Sophie einmal vollmundig erläutert hatte, Glas und Reinheit wechselseitig ausschlossen – weswegen man ihnen nicht vorwerfen konnte, dass der Tisch ständig mit Essensresten oder Getränkespuren bedeckt war; geschweige denn von ihnen verlangen konnte, dass sie diesen putzten. »Ist eh für die Katz«, erklärte ihm Sophie in schönstem Wienerisch, dass sich der Aufwand keinesfalls lohnte.
»Wie Sie sich denken können, haben wir einige Fragen«, holte ihn Obermayr von seinem kleinen Familienausflug in die Gegenwart zurück. »Was können Sie uns über Ihren Bruder erzählen?«
Statt auf die Frage einzugehen, legte Sylvie Steiner den Kopf in den Nacken. Dann ließ sie ihren Blick von links nach rechts schweifen, als wäre die Antwort irgendwo im Raum versteckt. Mitten in die Bewegung hinein, sagte sie: »Er war ein Ekel.«
Es klang wie das abschließende Urteil nach einem langwierigen Gerichtsprozess. Schuldig im Sinne der Anklage. Nemecek war baff – und war sich sicher, dass es seiner Kollegin ähnlich ging.
»Geht das noch etwas genauer?«, setzte er nach.
»Er war ein Egoman. Rücksichtslos allen anderen gegenüber, großzügig nur in seiner Selbstüberschätzung«, erklärte Steiner ohne mit der Wimper zu zucken. Ihr Blick war auf Obermayr fixiert.
»Das klingt, als hätte es gute Gründe gegeben, ihn aus dem Weg zu räumen«, provozierte diese.
»Davon können Sie ausgehen«, bestätigte Steiner. Neuerlich ließ sie ihren Blick langsam durch den Raum gleiten, bis sie wieder bei Obermayr angekommen war.
»Haben Sie einen konkreten Verdacht, wer diesen Mord begangen haben könnte?«, hakte diese nach.
»Nein, mein Bruder und ich haben seit Jahren keinen Kontakt mehr. Für mich ist er bereits vor langer Zeit gestorben.«
Kontakt Paul-Sylvie?, notierte Nemecek als Nächstes. Hatte Kampinski nicht berichtet, dass die Geschwister nur ein paar Stunden vor Steiners Tod miteinander telefoniert hatten?
»Gab es dafür einen bestimmten Anlass?«, fragte Obermayr nach, als ob ihr dieser Widerspruch nicht aufgefallen wäre.
»Braucht es denn einen?«, ließ sie Steiner erneut abblitzen. Nemecek spürte Ärger in sich aufsteigen. Was glaubte Sylvie Steiner denn, wer sie war? Und worum es hier ging?
»Frau Steiner«, erhob er die Stimme und war selbst überrascht, wie streng er dabei klang. »Wir sind nicht hier, um mit Ihnen Ratefuchs zu spielen. Ihr Bruder wurde ermordet und es ist unsere Aufgabe, den Täter zu finden.«
»Oder die Täterin«, ergänzte Steiner und schlug nun ihr rechtes über das linke Bein. Ihre Grundhaltung hatte sich dadurch nicht verändert. Nach wie vor waren ihre Hände locker über den Knien verschränkt. Trotzdem hoffte Nemecek inständig, dass nun endlich Bewegung in die Sache kam.
»Es ist Ihre Pflicht, uns bei der Aufklärung mit vollen Kräften zu unterstützen. Verstehen Sie das?«
»So schafft es Paul, sogar noch nach seinem Tod mein Leben zu dominieren«, seufzte Steiner.
»Sie betonen Täterin«, setzte Obermayr nach. »Glauben Sie denn, dass Ihr Bruder von einer Frau ermordet wurde?«
»Bei der Anzahl seiner Affären würde mich das nicht wundern«, antwortete Steiner und verzog die Mundwinkel. »Wahrscheinlich ist er einmal zu weit gegangen.«
»Womit genau?«
»Hören Sie, ich sagte bereits, dass mein Bruder ein Ekel war.«
»Wie dürfen wir uns das vorstellen?«
»Er hat die Menschen benutzt und sie dann einfach weggeworfen. Genau so wie das ganze Geld, das er für seine Spielsucht brauchte.«
»Ihr Bruder war spielsüchtig?«
»Er hat fast unser ganzes Erbe im Casino gelassen.«
»Auch das Ihre?«
Steiner nickte. Nemecek sah deutlich, wie ihre Kiefermuskeln arbeiteten. Vielleicht knirschte sie sogar mit den Zähnen. Zu ihrer Geschichte hätte das allemal gepasst.
»Das muss Sie ganz schön wütend gemacht haben«, setzte er nach.
Steiner sah ihn an. Ihr Gesicht war jetzt wieder genauso ausdruckslos wie zu Beginn ihres Gesprächs. Nemecek...