Föderalismus und Demokratie in der Bundesrepublik
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Föderalismus und Demokratie in der Bundesrepublik

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Föderalismus und Demokratie in der Bundesrepublik

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Über dieses Buch

Föderalismus und Demokratie sind für uns selbstverständliche Merkmale deutscher Gegenwartspolitik. Tatsächlich hatten sie eine lange und komplizierte Beziehungsgeschichte, die weit ins 19. Jahrhundert zurückreicht. Das galt auch für die Geschichte der Bundesrepublik zwischen 1949 und 1994. Föderale Institutionen griffen tief in die demokratische Politik ein. Dass Demokratie und Föderalismus ein Ganzes ergeben würden, war lange unsicher und schwer vorhersehbar. Doch schließlich wurde der Bundesstaat zum Haus der Demokratie.Dieses Buch erzählt vom Verhältnis von Föderalismus und Demokratie in vier Etappen und zwei Längsschnitten. Auf den Weg in den demokratischen Bundesstaat (1945-1949) folgten der unitarische Bundesstaat (1949-1969), der kooperative Föderalismus (1969-1989), anschließend die deutsche Wiedervereinigung und die vertiefte europäische Zusammenarbeit. Zusammengehalten wird das hochkomplizierte System föderaler Politik von den Parteien im Bund und in den Ländern. Die widersprüchliche, kaum geradlinige, aber auch offene Aneignung von Demokratie ist ablesbar am Kulturföderalismus, am Verwaltungsföderalismus und an den finanziellen Beziehungen von Bund und Ländern.

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Information

Jahr
2019
ISBN
9783170325364

1 Einleitung

Der Weg der Westdeutschen in eine demokratische Gesellschaft nach 1949 ist häufig als eine Annäherung an den politischen Westen, genauer an die alten westlichen Demokratien Frankreichs, Großbritanniens und der Vereinigten Staaten beschrieben worden.1 Die Tiefendemokratisierung Westdeutschlands sei demnach in den 1960ern geschehen und in den 1970ern wurde man sich dieses Gewinns bewusst. So lautet zumindest das vorherrschende Narrativ. Dieses Buch erzählt eine andere Geschichte, ohne dass es eine neue Erzählung an die Stelle der alten setzen will. Die Annäherung an den Westen kann nicht bestritten werden. Die folgenden Kapitel schauen auf die westdeutsche Demokratie durch die Linse des Föderalismus. Sie beschreiben die in der deutschen föderalen Tradition liegenden Chancen und Ermöglichungen für die Demokratie. Bereits vor der Revolution von 1848 waren deutsche Demokraten begeistert von der Demokratie in den jungen Vereinigten Staaten und von ihrem föderalen Aufbau.2 Erst nach 1848 und zumal nach 1871 diente der Föderalismus dazu, die Demokratisierung und die Parlamentarisierung im Kaiserreich zu blockieren. 1949 erfand der Parlamentarische Rat den demokratischen Bundesstaat nicht neu. Die entscheidenden Zäsuren des Bundesstaates lagen im 19. Jahrhundert. Die Verfassungsgebenden Versammlungen von 1848, 1867–71 und 1919 hatten Föderalismus und Demokratie immer wieder verschieden kombiniert. Auch 1949 fügten die Mütter und Väter des Grundgesetzes diese beiden Prinzipien neu zusammen. Der Föderalismus sollte jetzt anders als im Kaiserreich die Demokratie stärken. Darin liegt eine selten in den Blick genommene Traditionslinie der westdeutschen Demokratie.
Dieser Rückgriff auf ältere politische Traditionen im Moment der Krise hatte eine historische Parallele in den preußischen Reformen nach der Niederlage gegen Napoleon im Jahr 1806. Auch sie sind als Übernahme von napoleonischen Reformen und von Elementen der Französischen Revolution interpretiert worden.3 Das galt insbesondere für die Rheinbundstaaten, die unter dem direkten Einfluss Frankreichs standen. Für Preußen hat Reinhart Koselleck dagegen herausgearbeitet, dass Reformer wie Karl August von Hardenberg und Theodor von Schön nach 1806 an politische und rechtliche Traditionen aus dem 18. Jahrhundert anknüpften. Das betraf vor allem das preußische Naturrecht und die Tradition des Rechtsstaates. Der Rückgriff auf ältere und eigene Traditionen erlaubte es den Reformern, den preußischen Staat von Grund auf zu reformieren.4 Auch 1949 richtete sich der Blick nach Westen, aber auch zurück in das 19. Jahrhundert. Als die westlichen Alliierten die Rahmendaten für die Verfassungsberatungen vorgaben, stießen sie bei den Ministerpräsidenten und den Parteien nicht zuletzt deshalb auf Zustimmung, weil das keinen Oktroi darstellte, sondern lange Linien der deutschen Geschichte fortsetzte.

Neukombination

Die Abgeordneten im Parlamentarischen Rat vollzogen keinen Bruch mit der Vergangenheit, sondern sie kombinierten Föderalismus und Demokratie, beides Elemente der politischen Ordnung des 19. Jahrhunderts, neu. Föderale Ordnungen waren sogar noch älter und reichten in das Alte Reich und ältere bündische Strukturen zurück.5 Der Parlamentarismus war seit dem Vormärz fest etabliert. 1867 kam das demokratische Männerwahlrecht hinzu. Der Rat der Volksbeauftragten führte im November 1918 das Frauenwahlrecht ein. Die folgenden Seiten erzählen die Geschichte der Verbindung dieser älteren Elemente nach 1949. Es blieb nicht bei der Konstellation von Föderalismus und Demokratie, die die Mütter und Väter des Grundgesetzes 1949 herstellten. Dieses Verhältnis gestaltete sich mehrmals neu. Was 1949 als Föderalismus und Demokratie galt, änderte sich bis 1969 und dann wieder bis 1989 gründlich. An jeder dieser Zäsuren ging eine neue Sicht auf Demokratie mit einem neuen Verständnis des Föderalismus einher.
Es gab in der Bundesrepublik nicht einen großen Durchbruch zur Demokratie. Das Verständnis und die Praxis von Demokratie änderten sich vielmehr permanent. Dass der Wandel der föderalen Institutionen und der Demokratie eng miteinander zusammenhingen, ist die Ausgangsbeobachtung der folgenden Überlegungen. Beide bekannten sich anfangs zum Anti-Zentralismus als Diktaturprävention. Doch schon in den 1950er Jahren standen Föderalismus und Demokratie unter dem Imperativ der Angleichung der Lebensverhältnisse. Beide entwickelten sich unitarisch. Auf den unitarischen Bundesstaat folgte der kooperative Föderalismus mit seiner Verflechtung von Bundestag und Bundesrat, von Mehrheitsentscheidung und Verhandlungskompromiss. 1990 kam mit der deutschen Einheit die Angleichung der Lebensverhältnisse mit Macht zurück auf die Agenda von Föderalismus und Demokratie. Spätestens 1994 trat die europäische Ebene als dritte Ebene von Verhandlung und Kompromiss hinzu.

Konflikte

Treibende Kraft hinter dieser ständigen Neukonfigurierung war die Spannung zwischen Föderalismus und Demokratie. Beide waren mitnichten identisch. Mehr noch: Die deutsche Geschichte bot bis 1949 keine belastbaren Belege dafür, dass sie sich gegenseitig stützen konnten. Nach einer anfänglichen Begeisterung bei den vormärzlichen Liberalen und Demokraten für föderale Modelle aus den USA hieß es nach 1848: Entweder Föderalismus oder Demokratie. Der Föderalismus mutierte von einem Instrument der Gewaltenteilung und demokratischen Repräsentation zu einem der Herrschaftssicherung für die Regierungen und die Fürsten. Die frühen Parteigründungen geschahen vor dem Hintergrund, dass starke föderale Institutionen und ein starker Reichstag sich gegenseitig ausschlossen. Die demokratische Linke machte die Erfahrung, dass der Föderalismus zumindest bis 1918 der Demokratieprävention diente. Die Weimarer Reichsverfassung definierte ihre demokratischen Gehalte entsprechend viel stärker gesamtstaatlich und unitarisch. Als dezentralisierter Einheitsstaat mit einem preußischen Übergewicht wollte die Republik gerade ein Gegenentwurf zum demokratiefeindlichen Föderalismus des Kaiserreichs sein. Die Nationalliberalen hatten 1871 und die Sozialdemokraten 1919 gute Gründe, skeptisch gegenüber dem Föderalismus zu sein. Aber auch in anderen Staaten wie den USA und der Schweiz harmonierten Föderalismus und Demokratie nicht immer. In den USA mündete der Konflikt in der Frage der Sklaverei zwischen der Bundesebene und den Südstaaten in einem Bürgerkrieg. In der Schweiz führten die liberalen Kantone 1847 gegen die katholischen Sonderbundskantone einen Sonderbundskrieg. In beiden Staaten war der Föderalismus stark und demokratische Beteiligungsrechte wurden hochgehalten. Zur Deckung kamen Demokratie und Föderalismus indessen erst spät.

Föderalismus und Demokratie

Dass Föderalismus und Demokratie vielfach in Konflikt zueinander standen, hatte einen prinzipiellen Grund. Der Konflikt war nicht konkreten Umständen geschuldet, sondern ergab sich aus unterschiedlichen Zielen. Der Föderalismus will territorial organisierte Interessen ausgleichen, während Demokratien Konflikte zwischen gesellschaftlichen Gruppen und Funktionen regeln wollen, wie sie typischerweise in Parteien ihren Ausdruck finden. Beide Ziele müssen sich nicht widersprechen. Sie können zusammenkommen. Doch dass sie gleichzeitig verwirklicht werden, ist keineswegs selbstverständlich.6 Schließlich bearbeiten Föderalismus und Demokratie verschiedene Gegensätze mit anderen Mitteln. Die Demokratie will im Idealfall Konflikte durch allgemeine Wahlen und Mehrheitsentscheidungen lösen. Doch dabei bleibt die Bemühung nicht stehen. Tatsächlich werden Kontroversen zwischen Gruppen, lokaler und regionaler Regelungsbedarf auf die gesamtstaatliche Ebene gezogen. Das gilt in der Regel für mehrere Konflikte und politische Projekte. Meinungsverschiedenheiten, die sich an vielen Orten finden, werden so nicht vor Ort entschieden, sondern in eine parlamentarische Entscheidungsmaterie transformiert. Nicht selten sind die Fälle, dass die demokratische Mehrheitssuche dann verschiedene Projekte miteinander verbindet und nach dem Paketprinzip oder dem do-ut-des Prinzip arbeitet, um überhaupt zu Regelungen zu kommen. Schließlich sind Parteien und Fraktionen keine homogenen Blöcke. Der Bundesstaat von 1871 kannte dieses Prinzip, das Konflikte prozeduralisierte, sie in eine Hierarchie brachte und so bearbeitbar machte.
Auch der Föderalismus bearbeitet Konflikte, allerdings mit anderen Mitteln und auf anderen Ebenen. Der Föderalismus ist ein Mehrebenensystem und ordnet Kompetenzen den Ländern, dem Bund oder beiden gemeinsam zu. Das variiert freilich zwischen den föderalen Systemen in Nordamerika und in Europa. Die Länder können Konflikte unter sich regeln und treffen damit eine gesamtstaatliche Regelung, oder sie können diese mit dem Bund entscheiden. Im Föderalismus dominiert das Aushandlungsprinzip, nicht das Mehrheitsprinzip. Als komplexes politisches Ordnungsmodell verbindet er Selbstbestimmung mit Mitbestimmung. Der Föderalismus war – selbst unter den antidemokratischen Vorzeichen des Fürstenbundes von 1871 – eine erfolgreiche Form von Konfliktmanagement und galt auch deshalb nach 1945 als positiver Teil der deutschen Geschichte. Das ist vor allem im Ausland so gesehen worden.
Der Föderalismus kennt einen Bezug zum Raum, den er gliedert und ordnet. Seine Art des Regierens basiert auf Machtteilung, Verhandeln und Ausgleich. Sowohl der territoriale wie auch der systemische Aspekt fanden sich in der deutschen Geschichte seit der Frühen Neuzeit. Die politische Ordnung im Alten Reich war kleinteilig. Konflikte zwischen den zahlreichen Akteuren wurden nicht vertikal entschieden, sondern permanent ausgehandelt. Der »Immerwährende Reichstag« war herrschende Staatspraxis.7 Bis ins 19. Jahrhundert gab es ganz verschiedene Arten und Weisen, Machtteilung zu organisieren. Die begriffliche Vielfalt der staatsrechtlichen Diskussion reichte von »Staaten-Verbund« und »Staaten-Verein« bis zu den nordamerikanischen »Freistaaten« und ihrer »Union«.8
Dieser Analyse liegt ein realistischer Begriff der Demokratie zugrunde, der über Wahlen hinausgeht. Der demokratische Prozess reicht nämlich über die Teilnahme an Wahlen hinaus und umfasst weitere Felder der Kommunikation zwischen Politik und Elektorat sowie andere Foren des gemeinschaftlichen Diskurses. Die demokratische Teilnahme an Wahlen ist erst der Beginn des demokratischen Prozesses, den in der Bundesrepublik nicht zuletzt föderale Institutionen strukturierten. Der nordamerikanische Politikwissenschaftler Benjamin Barber beschrieb eine »starke Demokratie« im Schweizer Kanton Graubünden unter den Bedingungen eines starken Föderalismus und ausgeprägter Machtteilungen, auch wenn er seine Zweifel an deren Zukunftsfähigkeit hatte.9 Die Literatur zur deliberativen Demokratie hat herausgearbeitet, dass föderale Machtteilungen eine höhere Qualität des politischen Diskurses und damit auch bessere Entscheidungen begünstigen.10 Die Machtteilung, zumal vertikal zwischen verschiedenen Ebenen, und die Orientierung am Konsens begünstigte eine »kinder, gentler form of democracy« (Arend Lijphart). Föderale Machtteilung prägte die Qualität und die politischen Ergebnisse der Demokratie und des politischen Diskurses.11 Gerade anspruchsvollere Arten der Demokratietheorie, die Machtteilung, Deliberation und Bürgernähe ins Zentrum stellten, standen dem Föderalismus näher als solche, die Wettbewerb und Konsens einander gegenüberstellten. Demokratische Systeme kannten eine große Variationsbreite. Auffallend viele erfolgreiche Demokratien kannten föderale Institutionen.12
Der Föderalismus bearbeitete territorialisierte Interessen, die Demokratie dagegen gesellschaftlich segmentierte Interessen von sozialen oder religiösen Großgruppen. Die Geschichte der Schweiz nach 1848, aber auch des Kaiserreichs zeigten, wie Konflikte allgemeine, jedoch segmentierte Interessen aufkommen ließen. Der Kulturkampf zwischen Liberalen und Katholiken führte in der Schweiz und im deutschen Kaiserreich zu einer Nationalisierung des Parteiensystems, das die Länder- und Sprachengrenzen übersprang. Die katholische Zentrumspartei wurde zu einer reichsweiten Partei mit Abgeordneten aus Nord und Süd, West und Ost. Umgekehrt entdeckten im deutschen Kulturkampf nach 1872 Liberale in München, Freiburg im Breisgau, Köln und Breslau ihre Gemeinsamkeiten. Der gleiche Mechanismus von Integration durch Konflikt traf auf die sozialdemokratischen Arbeiter unter den Sozialistengesetzen zu. Nicht sozial vergleichbare Lagen brachten die Arbeiter in Stuttgart und Magdeburg zusammen, sondern die Schärfe der Ausgrenzung unter den Sozialistengesetzen.13 Der deutsche Soziologe Georg Simmel arbeitete schon vor 1914 die integrierende Wirkung von Konflikten heraus.14 Dem ist auch diese Studie verpflichtet.
Um bindende politische Entscheidungen zu produzieren, musste eine ständig wachsende Komplexität der politischen Materie so reduziert werden, dass sie politisch bearbeitbar wurde. Der Markt an Gütern und Dienstleistungen, der vor und nach 1871 gleichzeitig mit dem Bundesstaat entstanden war, hatte dafür gesorgt, dass die Handelsgesetzgebung national geregelt wurde. In der Bundesrepublik übte das Bildungssystem einen ähnlichen Druck auf die Schulsysteme der Länder aus, zu gemeinsamen Regelungen zu kommen. Föderale Akteure, Politiker des Bundestages und die Bundesregierung standen angesichts zunehmend komplexerer Materien auf immer mehr Politikfeldern unter steigendem Druck, zu gemeinsam getragenen Entscheidungen zu gelangen. Beispiele für steigenden Regelungsbedarf waren in der Bundesrepublik die Energiepolitik, die Umweltpolitik und die Gesundheitspolitik. Entscheidungen ergaben sich aus Konsens, Kompromiss und Mehrheitsbeschlüssen. Das bedeutete in aller Regel Kommissionsarbeit und Verhandlungen. Nur demokratische Politik war auf Dauer in der Lage, für alle verbindliche Entscheidungen zu erreichen. Die demokratische Entscheidung und der föderale Konsens bildeten die prominentesten Steuerungsmedien hochkomplexer Gesellschaften, die in der Lage waren, Folgsamkeit für Regeln herzustellen.
Entscheidend war, dass der Parlamentarische Rat zuerst zögerlich und nicht immer konsistent auf neue Formen der Konfliktbearbeitung setzte. Das betraf vor allem die Rolle der Parteien, die er gegen alle Widerstände aufwertete. Das Neue an der Bundesrepublik war, dass die Parteien nicht nur im Parlament, sondern auch im Bundesrat Politik gestalteten. Bis 1933 hatten die Regierungen der Länder, oft vertreten durch ihre Bundesratsbevollmächtigten, im Bundesrat, später im Reichsrat zusammengearbeitet. Nach 1949 übernahmen die Parteien diese Rolle. Das war systemisch gesehen neu und unterschied den Föderalismus in der Bundesrepublik von seinen Vorgängern.

Voraussetzungen

Föderalismus und Demokratie waren an Voraussetzungen geknüpft. Woher kam die Autorität des Konsenses und woher die Mehrzahl der Kompromisse? Warum stimmten sich regionale Interessen überhaupt mit anderen ab? Warum bildeten Mitglieder einer sozialen Klasse oder Konfession mit anderen Klassen und Konfessionen zusammen überhaupt eine Großgruppe? Beide, Föderalismus und Demokratie, standen in der Tradition liberaler Erzählungen von Gesellschaft und Nationalstaat. Für die Teile war es in der liberalen Großerzählung nützlich und sinnvoll zusammenzuarbeiten und sich zu koordinieren, weil sie zusammen stärker waren. Zusammen waren sie sogar mehr als ihre Summe, wenn man dem urliberalen Motto »e pluribus unum« folgte. Die Liberalen gingen davon aus, dass der Teil und das Ganze in einer win-win-Situation standen, bei dem beide – nicht nur der Nationalstaat! – gewinnen würden. Die Verfolgung ihres Eigeninteresses gebot den Bundesstaaten, mit den anderen zusammenzuarbeiten. Gemeinsam erreichte man Ziele, die nicht in Reichweite der einzelnen Glieder standen. Damit hing die andere Großerzählung zusammen, die davon ausging, dass die Demokratie typischer- und nicht nur zufälligerweise im Nationalstaat entstand. Nationalstaaten, nicht Reiche, Imperien oder Stadtstaaten bildeten den institutionellen Rahmen der Demokratie – und übrigens auch des Wohlfahrtsstaates. Tatsächlich lässt sich das historisch mit einer Ausnahme bestätigen. Die moderne Demokratie entstand als Verfassungsform in Frankreich, Großbritannien, den USA, den nordischen Staaten und anderswo in Nationalstaaten.
Die einzige Ausnahme von dieser Regel bildete die Bundesrepublik Deutschland nach 1949. Nach 1949 verstanden sich weder die West- noch die Ostdeutschen für sich je als Nationalstaat. Bereits im Hinblick auf die Bundesrepublik, aber auch auf die EU stellte sich die Frage: inwieweit waren Demokratie und Föderalismus an einen nationalstaatlichen Rahmen gebunden? Ließen sie sich auf andere, nicht nationalstaatlich, sondern trans- oder supranational verfasste Räume übertragen? Im Rückblick auf die Geschichte der Bundesrepublik vor und nach 1990 kann man von der erwiesenen Fähigkeit des Föderalismus und der Demokratie sprechen, sich zu relozieren und zu re-dimensionieren. 1949 konnte man sich das ex ante schwer vorstellen. Der historische Erfahrungsraum der westdeutschen ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Deckblatt
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhaltsverzeichnis
  5. 1 Einleitung
  6. 2 Der Weg in den demokratischen Bundesstaat (1945–1949)
  7. 3 Die Unitarisierung des Bundesstaates (1949−1969)
  8. 4 Die Kultur des Föderalismus: Kulturhoheit und Geschichtspolitik
  9. 5 Die Parteien und der Föderalismus
  10. 6 Verhandlungsdemokratie und Politikverflechtung (1969−1990)
  11. 7 Der deutsche Bundesstaat nach 1990
  12. 8 Föderalismus und Demokratie im Wandel
  13. 9 Fazit: Bewegliche Ordnung und geordnete Bewegung
  14. Danksagung
  15. Anmerkungen
  16. Überblicksliteratur
  17. Register
  18. Abbildungsverzeichnis