Politik in Polen
  1. 197 Seiten
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Über dieses Buch

Polen befindet sich derzeit in einer Phase des politischen Umbruchs. Dies gilt sowohl für die Rechtsstaatlichkeit und Liberalität als auch für die Mitgliedschaft in der EU. Politische Beobachter sprechen gar von einer politischen Zäsur vergleichbar der von 1989. Das Buch stellt zunächst die Meilensteine der Entstehung und Transformation des politischen Systems Polens und sodann die wichtigsten Politikfelder dar: von der Sozialpolitik über die Europäische Integration bis zu den deutsch-polnischen Beziehungen. Bachmann gelingt es auf diese Weise, die aktuelle Politik Polens anhand von Traditionslinien aus der Vergangenheit heraus eingängig und plausibel zu erklären. Antriebskräfte und Akteure der politischen Transformation gewinnen ein klares Profil, sodass die Leser begreifen, wie Polen vom europäischen Musterland zum Problemfall der EU werden konnte.

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Information

1 Einleitung

Dieses Buch behandelt die Entwicklung der politischen Institutionen und der Politikfelder in Polen seit der Transformation von 1989/1990. Seitdem ist Polen eine parlamentarische Demokratie, in der allerdings das Kräftegleichgewicht zwischen Regierung, Parlament und Präsident großen Schwankungen unterlag, mit einer pluralistischen Medienlandschaft, einer stark von Deutschland abhängigen sozialen Marktwirtschaft und einer im europäischen Vergleich relativ schwachen Zivilgesellschaft.
Nicht alles, was sich seit 1989 in Polen politisch abgespielt hat, ist für Beobachter von außen verständlich, die in der Regel dazu tendieren, ihnen bekanntere politische Systeme als Bezugspunkt zu wählen. Erschwerend kommt hinzu, dass sich das politische System in Polen mehrmals verändert hat. Dies geschah zum Teil abrupt – etwa als Folge der Verabschiedung einer neuen Verfassung im Jahr 1997 oder aber durch systematische Verstöße gegen eben diese Verfassung nach 2015 – zum Teil aber auch schleichend durch evolutionäre Veränderungen im Parteiensystem, in der Rechtsanpassung an die Europäische Union (EU) und in der Reform der Europäischen Verträge. Diese Veränderungen waren begleitet von öffentlichen Debatten, in denen zumeist die Vergangenheit zur Rechtfertigung aktueller politischer Entscheidungen herangezogen wurde. Das ist der erste Grund, warum die Entwicklung in Polen nach 1989 ohne Rückgriffe auf die Vergangenheit nicht zu begreifen ist. Innenpolitische Debatten, selbst wenn sie globale Themen wie Klimawandel, Ökologie, Frauenemanzipation oder Sozialpolitik betreffen, sind voller Bezugnahmen auf die Zeit der Teilungen Polens, den Zweiten Weltkrieg und die Zeit der Volksrepublik. Stärker als in vielen westeuropäischen Gesellschaften werden in Polen politische Entscheidungen mit historischen Erfahrungen begründet, stärker als dort wird in Kategorien von Wahrheit versus Lüge argumentiert, was das Zustandekommen von Kompromissen, wie sie durch die Struktur und die Prozeduren demokratischer politischer Systeme eigentlich gefördert werden, erschwert.1 Außenstehenden sind diese Vergangenheitsbezüge oft nicht präsent, etwa wenn polnische Abgeordnete im Europaparlament für die Initiierung eines Strafverfahrens gegen die eigene Regierung stimmen, anschließend von ihren innenpolitischen Gegnern mit prorussischen Adligen aus dem 18. Jahrhundert und mit Volksdeutschen zur Zeit der deutschen Besatzung verglichen, oder sogar als Erpresser bezeichnet werden. Wer die impliziten Argumente und die Propaganda verstehen will, die bei diesen Auseinandersetzungen eingesetzt werden, kommt ohne Kenntnisse von polnischer Geschichte nicht aus.
Der zweite Grund, weshalb die Vergangenheitsbezüge für die folgenden Ausführungen von grundlegender Bedeutung sind, liegt in der Entwicklung einiger Institutionen und Ideen begründet, welche die Ereignisse, die Verfassungswirklichkeit und die Politikfelder nach 1989 mitgestaltet haben. Ihre Wurzeln liegen zum Teil in den 1980er Jahren, zum Teil gehen sie aber auch auf ältere Entwicklungen aus der Zeit der Zweiten Republik zurück. Die Tatsache, dass das Verfassungsgericht bereits in den 1980er Jahren und damit in den letzten Jahren der Volksrepublik entstand, kann als Argument dafür angeführt werden, dass Polens politische Transformation bereits vor 1989 begann. Sie kann aber auch dazu dienen, das Verfassungsgericht als überlebtes Relikt des Kommunismus zu diskreditieren. So oder so, wer die jeweilige Argumentation verstehen will, tut gut daran, sich den Kontext der Veränderungen nach der Aufhebung des Kriegsrechts in Polen in Erinnerung zu rufen. Auch die wirtschaftliche Transformation nach 1989 die, wie gezeigt werden wird, sich ebenfalls auf vorherige Reformen stützen konnte und die lange Zeit über alle Parteigrenzen hinweg unbestritten als Erfolgsmodell galt, das man anderen Transformationsländern empfahl, ist inzwischen in die Kritik geraten. Diese Kritik beruht häufig darauf, dass für bestimmte, inzwischen eingetretene Fehlentwicklungen Entscheidungen (und Politiker) aus den frühen 1990er Jahren verantwortlich gemacht werden, ohne dass der Kontext und die Beschränkungen berücksichtigt werden, denen diese Politiker unterlagen. Diese Kritik ist sehr moralisch überhöht und in ihrer Radikalität ahistorisch und richtet sich gegen etwas, was stark verkürzend »die liberalen Eliten« genannt wird. Wie die Transformationskritik ist dieser Begriff bei der populistischen und radikalen Rechten ebenso beliebt wie bei jenen linken Splitterparteien, deren Führungen und Anhänger der Nachwendegeneration entstammen. Diese Art retrospektiver Transformationskritik hat eine gewisse Ähnlichkeit mit den Jugendprotesten der ausgehenden 1960er Jahre in Westeuropa. Auch sie richtet sich nicht nur gegen einzelne Politiker (die meist inzwischen keine Ämter mehr bekleiden), sondern gegen eine ganze, angeblich diskreditierte Generation. Die Transformationskritik ist radikal, kompromisslos und betrifft Ereignisse, welche nicht mehr rückgängig gemacht oder korrigiert werden können, selbst wenn dies die so Attackierten wollten. Jene institutionellen Reformen, die in den letzten Jahren in Polen stattgefunden haben und von ihren intellektuellen Verteidigern nach ungarischem Vorbild gerne als »illiberale Demokratie« bezeichnet werden, sind zwar nicht das Ergebnis messbarer gesellschaftlicher oder sozialer Umbrüche, aber sie haben durchaus eine ideologische Unterfütterung. Diese beruht in einem gemeinsamen Angriff von rechts und links auf Liberalität und Liberalismus. Von der populistischen Rechten werden Liberalität und Liberalismus im Namen eines ethnisch definierten Nationalismus verworfen – die liberale Demokratie sei nicht national und gemeinschaftsstiftend genug –, von der radikalen Linken im Namen sozialer Gerechtigkeit. Auch diese Auseinandersetzung wird mit ständigen Vergangenheitsbezügen geführt, obwohl sie sich eigentlich nur darum dreht, wie hier und jetzt staatliche Macht eingesetzt und Politik gemacht werden soll, um Polen zu mehr nationaler Einheit bzw. mehr Verteilungsgerechtigkeit und Gleichheit zu verhelfen.
Daher beginnt dieses Buch zunächst mit einer historischen Einführung zur Vorgeschichte der aktuellen Politik in Polen. Diese macht deutlich, dass weder Reformen noch demokratische Institutionen erst nach 1989 gleichsam aus dem Nichts entstanden sind. Zwar wird nicht beabsichtigt, die Volksrepublik grundsätzlich zu ›rehabilitieren‹, sondern vielmehr einerseits die Voraussetzungen und andererseits auch die Zwänge aufzuzeigen, mit denen die ersten Regierungen bei ihren Entscheidungen konfrontiert waren. Erst eine Einordnung der polnischen Transformation in den internationalen Kontext und in Vergleiche mit anderen Ländern, die sich demokratisierten, lässt erkennen, wie stark diese Entwicklung path dependent war und wie sehr manche der heutigen Debatten darüber, was man damals hätte anders tun oder lassen sollen, am historischen Kontext vorbeigehen.
Die nachfolgenden Kapitel sind nach Politikfeldern geordnet, von denen jedes Einzelne im Großen und Ganzen chronologisch geordnet ist, womit der Leser Kontinuität und Wandel der einzelnen Politiken seit 1989 nachvollziehen kann. Eine solche Betrachtungsweise macht einige rote Linien sichtbar, die bei der alltäglichen Medienberichterstattung meist untergehen:
• die große Kontinuität in der Außen- und Europapolitik, die alle polnischen Regierungen vor 2015 kennzeichnete und die der radikalen Rhetorik in den Wahlkämpfen und den Ankündigungen der jeweiligen Wahlsieger diametral widerspricht;
• die große institutionelle Kontinuität seit 1989 (und in Teilen sogar darüber hinaus), die einerseits einen radikalen Neuanfang verhinderte, Polen aber andererseits das Schicksal jener Transformationsstaaten ersparte, die Nationsbildung und Staatsaufbau ohne ein solches Erbe in Angriff nehmen mussten und deren Transformationen dann in hybriden, autokratischen Regimen endeten (Russland, Weißrussland und andere frühere Sowjetrepubliken);
• den relativen Bruch dieser Kontinuitäten, den die Ereignisse nach 2015 darstellen;
• und wie sehr dieser Bruch bereits in der Politik der letzten Regierungen vor 2015 angelegt war.
Ein Aspekt, der bei allen Vergleichen zwischen den politischen Systemen Westeuropas und Polens vielfach für tiefgreifende Missverständnisse sorgte, betrifft die Verwendung der Adjektive »rechts« und »links« zur Charakterisierung politischer Parteien, Bewegungen und Strömungen. Diese Bezeichnung hat sich in der Welt nach der französischen Revolution in und für die westeuropäischen Staaten etabliert. Für Polen ist sie indes wenig sinnvoll, da sie sich nur dann auf Polen übertragen lässt, wenn man sie des in Westeuropa gebräuchlichen Inhalts entleert. Polnische Politiker und ihre Anhänger charakterisieren sich selbst gerne nach diesem Schema. Das funktioniert für die Verständigung mit der Öffentlichkeit im Rahmen von Wahlkampagnen, Propaganda und politischen Reden auf einer sehr allgemeinen Ebene. Wenn jedoch ein »rechter« oder »linker« Politiker in einer Diskussion gezwungen wird, seine Forderungen in diesem Rechts-Links-Schema zu verorten, treten die Probleme dieser Kategorien in der Regel offen zu Tage. So kann sich herausstellen, dass Politiker, die sich selbst als rechts bezeichnen, für mehr Umverteilung eintreten und linke Politiker eine liberale Wirtschaftspolitik befürworten.
Diese Begriffsverwirrung kommt daher, dass zur Beschreibung der sozio-politischen Interessenkonflikte die sogenannte cleavage theory herangezogen wird, die im Wesentlichen auf die Arbeiten von Stein Rokkan zurückgeht.2 Sie wird sowohl von westeuropäischen Beobachtern als auch von den Akteuren in Polen selbst bewusst oder unbewusst benutzt, um die Gräben, die die Parteien in Polen voneinander trennen, zu beschreiben. Stein Rokkan ging davon aus, dass diese Gräben Ergebnis von dramatischen sozialen Verwerfungen in der Vergangenheit sind, die die Interessenkonflikte zwischen großen sozialen Gruppen so verfestigt haben, dass sich diese noch bis in die 1960er Jahre in den westeuropäischen Parteiensystemen verfestigten. Nach dieser Theorie waren für die Entwicklung der Parteiensysteme im 20. Jahrhundert vor allem die Reformation und die Französische Revolution, die industrielle Revolution mit ihrem Gegensatz zwischen Kapitel und Arbeit und der Kampf zwischen Stadt und Land bzw. zwischen Peripherie und Zentrum prägend. Die meisten dieser Ereignisse haben aber Polen nur am Rande oder gar nicht berührt und konnten deshalb auch nicht zur Entstehung dauerhafter gesellschaftlicher Gräben führen. Das gilt für die Reformation ebenso wie für die Französische Revolution, die beide die Position der katholischen Kirche in Polen weitgehend unangetastet ließen. Als das Gebiet der Adelsrepublik unter Preußen, Österreich und Russland gegen Ende des 18. Jahrhunderts aufgeteilt wurde, trug die übernationale Struktur der katholischen Kirche sogar zur Erhaltung eines damals nur im Adel verwurzelten Nationalgefühls bei, gerade weil sie sich dem Einfluss der Teilungsmächte entzog. Während sich große Teile Westeuropas im 19. Jahrhundert industrialisierten, blieb Polen bis nach dem Zweiten Weltkrieg ein Agrarland. Erst die forcierte Industrialisierung im Stalinismus führte zur Urbanisierung und zur Entstehung einer Arbeiterklasse, doch da die Produktionsmittel verstaatlicht waren, entwickelte sich daraus kein Interessenkonflikt zwischen Kapital und Arbeit, sondern einer zwischen Arbeitern und Staat, was zu Klientelismus anstatt zu Klassenkampf führte. Der einzige dauerhafte Graben, der in der Tat bis heute das Parteiensystem in Polen kennzeichnet, war jener zwischen Stadt und Land. Er ging aus dem Gegensatz zwischen Adel und Bauernschaft hervor, den die erste Gruppe für sich entscheiden konnte. Seit der Zeit der Adelsrepublik wurde die Nation mit dem Adel gleichgesetzt. Allerdings hatte der Begriff der Nation damals noch einen ethnische Grenzen überschreitenden Gehalt und schloss auch Adlige nichtpolnischer Herkunft und nichtkatholischer Glaubensrichtungen ein. Erst die nationaldemokratischen Bewegungen des 19. Jahrhunderts trugen das schon ethnisch begründete Nationalbewusstsein in die städtischen und ländlichen Unterschichten. Infolge der Verwerfungen des Ersten und Zweiten Weltkriegs verschwand der Adel als formale Gruppe, seine Wertvorstellungen blieben jedoch eng verbunden mit der Vorstellung von der Nation und prägten noch über Generationen das Denken der städtischen, intellektuellen Eliten. Sie dienten selbst dem ländlichen Kleinbürgertum und nach 1989 dem sich langsam entwickelnden städtischen Bürgertum als Orientierung.
Doch während im symbolischen Bereich das »adlige Ethos«, wie es in Polen gerne genannt wird, den Sieg davontrug und zu einem »nationalen Ethos« wurde, blieb der Konflikt zwischen Stadt und Land, ausgetragen zwischen den städtischen Eliten der großen Ballungsgebiete und der politisch aktiven, von der katholischen Kirche sehr stark beeinflussten ländlichen Bevölkerung bestehen. Vor 2015 wurden die Interessen und Wertevorstellungen der Provinz dabei stets von mehreren Parteien repräsentiert. Erst bei der Wahl von 2015 gelang es der Partei »Recht und Gerechtigkeit«, die Wählerschaft der Provinz fast vollständig hinter sich zu vereinen. Zu diesem Konflikt zwischen Zentrum und Peripherie kommt in Polen noch ein tief verwurzeltes Misstrauen bei den dahinterstehenden sozialen Gruppen hinzu, das in der Regel mit dem Verweis auf die Geschichte gerechtfertigt wird. Während in Westeuropa die Bauernbefreiung als Ergebnis einer nationalstaatlichen Emanzipationsbewegung erfolgte, war sie in Polen das Ergebnis von Entscheidungen der Teilungsmächte, die damit nationalstaatliche Bestrebungen schwächen wollten. In Preußen, dem russischen Reich und Österreich erfolgte die Bauernbefreiung als Reaktion auf Adelsaufstände gegen die Teilungsmacht mit dem Ziel, die Bauernschaft dem polnischen Adel zu entfremden und an den Monarchen der jeweiligen Teilungsmacht zu binden. Dies gelang auch weitgehend. Als sich der polnische Adel 1830 und 1863 gegen die russische Vorherrschaft erhob, blieben große Teile der Bauernschaft und der ethnischen Minderheiten passiv oder unterstützten sogar die russische Staatsmacht. Proteste in der freien Stadt Krakau, die damals Teil des Habsburger Reiches war, wurden erstickt, indem die österreichischen Behörden einen Bauernaufstand anzettelten, in dessen Verlauf adlige Güter geplündert wurden. Das ist der historische Hintergrund der Kluft zwischen adligen und städtischen Eliten einerseits und dem ländlichen Polen andererseits. Die in Polen oft als »Polen B« bezeichnete Provinz sieht dabei ihrerseits den Kosmopolitismus und die Westorientierung der adlig geprägten städtischen Eliten als Verrat an althergebrachten Traditionen und den Interessen von Dorf und Kleinstadt.
Noch ein Rückgriff auf die Geschichte ist zum Verständnis der aktuellen Entwicklung in Polen notwendig. Er bezieht sich auf eine Entwicklung, die aus deutscher Sicht befremdlich erscheint, aber auch in anderen westeuropäischen Ländern wie Italien und Österreich zu beobachten war. Die Rede ist von der Existenz einer durch die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs und durch den Holocaust nicht diskreditierten nationalistischen Rechten. In manchen Ländern gehörten nationalistische, korporatistische Bewegungen, die sich am italienischen Faschismus orientierten, zu den ersten Opfern der Nationalsozialisten und waren damit nach 1945 bei weitem nicht so diskreditiert, wie in Fällen, wo solche Bewegungen mit Hitlerdeutschland kollaboriert hatten. Das war in Polen ähnlich.
Sympathien für den Nationalsozialismus waren in Polen marginal, was sowohl an den Interessengegensätzen zwischen dem polnischen Nationalstaat und Deutschland lag, die schon lange vor Hitlers Machtübernahme bestanden hatten, als auch daran, dass die NS-Rassenlehre von polnischen Nationalisten nicht übernommen werden konnte, da sie Slawen als Untermenschen betrachtete. Es gab allerdings eine politische Strömung in der Zweiten Polnischen Republik, die sich auf Mussolinis Faschismus berief und sich faschistischer Unterstützung erfreute. Das waren die Nationalradikalen, die sich als radikale Protestbewegung der jüngeren Generation von der alten Nationaldemokratie abspalteten. Sie propagierten Autarkie, lehnten Bündnisse mit Deutschland und Russland ab, waren stramm antisemitisch und versuchten allerdings mit wenig Erfolg während des Zweiten Weltkriegs eine eigenständige, mit keiner ausländischen Macht verbündete Partisanenbewegung ins Leben zu rufen. In der Endphase der Zweiten Republik lieferten sie sich Straßenschlachten mit jüdischen und sozialistischen Organisationen und traten so radikal auf, dass die »Nationalradikale Organisation« (auf Polnisch »Organizacja Narodowo-Radykalna«, abgekürzt ONR) die meiste Zeit ihres Bestehens verboten war. Führer der bekannteren ONR-Fraktion Falanga war Bolesław Piasecki, der unter dem Obristenregime Józef Piłsudskis im berüchtigten Lager Bereza Kartuska interniert wurde.3 Einige ONR-Aktivisten dienten sich nach dem deutschen Überfall auf Polen der Besatzungsmacht an und beteiligten sich an antisemitischen Übergriffen, wurden dann aber in der Nähe von Warschau bei Massenhinrichtungen ermordet. Piasecki wurde kurzzeitig verhaftet, kam aber auf Fürsprache Mussolinis wieder auf freien Fuß. Bei Kriegsende kam er in sowjetische Gefangenschaft, wurde aber nach einem Gespräch mit einem hohen sowjetischen Geheimdienstoffizier freigelassen, gab seine antikommunistische Haltung auf und gründete die katholische Blockpartei Pax, die aber von der Katholischen Kirche nie anerkannt wurde. Piasecki machte seinen Frieden mit dem kommunistischen System und trat für das Bündnis Volkspolens mit der Sowjetunion ein. Er brachte es bis zum stellvertretenden Staatsratsvorsitzenden.
Pax spielte in der Volksrepublik eine wichtige Rolle, obwohl es der Partei nicht gelang, die Katholische Kirche dauerhaft in einen Romtreuen und einen parteinahen Flügel zu spalten. Pax half, nationalistische Strömungen in der Gesellschaft zu kanalisieren und für die Führung der PVAP kontrollierbar zu machen. Ihre große Stunde kam 1967–1968 mit jenen Ereignissen, die unter dem Namen »der polnische März« in die Geschichtsschreibung eingegangen sind und deren Nachwehen bis heute zu beobachten sind. Damals kulminierten mehrere Entwicklungen gleichzeitig und führten zu einem öffentlich ausgetragenen Machtkampf innerhalb der Führung der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP), der dramatische gesellschaftliche Folgen hatte. Ähnlich wie in Westeuropa hatte die unmittelbare Nachkriegszeit Polen einen Babyboom beschert, dessen Betroffene Ende der 1960er Jahre in großer Zahl auf den Arbeitsmarkt, an die Universitäten und in die staatliche Bürokratie strömten, wo ihr Aufstieg von Mitgliedern der Kriegsgeneration behindert wurde. Um die Protagonisten der Kriegsgeneration zu diskreditieren, griffen die Jungen ähnlich wie ihre Kommilitonen in Westeuropa auf die Vergangenheit zurück. Sie warfen der Kriegsgeneration allerdings nicht deren Rolle während des Zweiten Weltkriegs vor, sondern die Beteiligung an der Stalinisierung des Landes in den 1950er Jahren. Damit machten sie sich die seit 1956 populäre Forderung nach einer Entstalinisierung zu eigen, ohne das Machtmonopol der PVAP in Frage zu stellen. Viele der...

Inhaltsverzeichnis

  1. Deckblatt
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Vorwort
  6. 1 Einleitung
  7. 2 Demokratisierung
  8. 3 Polens Demokratisierung im internationalen Vergleich
  9. 4 Staatsaufbau und Verfassung
  10. 5 Die Außenpolitik
  11. 6 Die Europapolitik
  12. 7 Die deutsch-polnischen Beziehungen
  13. 8 Die Geschichtspolitik
  14. 9 Die Wirtschafts- und Sozialpolitik
  15. 10 Die neue Verfassungsordnung nach 2015
  16. 11 Ausblick
  17. Anmerkungen
  18. Anhang