Marktplatz der Sensationen
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Marktplatz der Sensationen

  1. 560 Seiten
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Über dieses Buch

Fassung in aktueller RechtschreibungKisch, der Rasende Reporter, kehrt zurück zu seinen Prager Wurzeln.In 33 Reportagen berichtet er über die Stadt seiner Jugend: Prag. Die Stadt ist noch nicht angekommen, sie trauert sichtlich dem k.u.k nach, während sich ihre Bewohner von den furchtbaren Schrecken der Weltkriege (mal des Ersten, mal des Zweiten) erholen müssen.Eben noch hatten Sie einen Kaiser, nun sind sie eine Republik. – Wer soll sich denn da noch zurechtfinden?So führen manchmal komische, manchmal tragische Ereignisse nicht selten zu Ergebnissen, die heute oftmals grotesk erscheinen. Wenn bspw. die ehemals jungen Journalisten der Tageblätter nun zu Greisen geworden davon schwafeln, dass ja eh schon "alles einmal da gewesen" sei, dann kann der Leser nicht umhin, ihnen auch zähneknirschend recht zu geben. Lernt der Mensch also doch nicht aus der Geschichte?Mit 62 FußnotenNull Papier Verlag

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Information

Jahr
2019
ISBN
9783962817091

Die Himmelfahrt der Galgentoni

Wahr­lich, ich sage euch, die Buh­le­rin­nen und die Zöll­ner wer­den euch ein­füh­ren ins Him­mel­reich.
Evang. Mat­thäi
Sel­ten habe ich so wüs­te Nacht­lo­ka­le ge­se­hen wie die rings um den Pra­ger Ge­mü­se­markt und Fleisch­markt. Nicht als Nacht­lo­ka­le wa­ren sie ge­dacht, son­dern als Mor­gen­lo­ka­le, wo die Kut­scher, die Bau­ern und die Bäue­rin­nen, die Fisch- und die Blu­men­händ­le­rin­nen, die Metz­ger­bur­schen und die Markt­hel­fer im Mor­gen­grau­en ih­ren Kaf­fee oder ihre Sup­pe schlür­fen soll­ten. Aber die­se Stät­ten für Früh­auf­ste­her wur­den zu Sam­mel­be­cken für Spätschla­fen­ge­her. Denn da sich ihre Tore just zu je­ner Stun­de öff­ne­ten, in der die an­de­ren Gast­stät­ten von der po­li­zei­li­chen Sperr­vor­schrift ge­schlos­sen wur­den, traf sich hier all das, was das Bett scheu­te oder scheu­en muss­te, Kell­ner, Mu­si­kan­ten, Zei­tungs­set­zer, Jour­na­lis­ten, Pro­sti­tu­ier­te, Säu­fer, Ob­dach­lo­se, Zu­häl­ter. Und die bie­de­ren Land­leu­te und Markt­leu­te wur­den in den Hin­ter­grund ge­drückt.
In viel­hun­dert­jäh­ri­gen Häu­sern sta­ken die­se Knei­pen, und jede hat­te ihre Ge­schich­te. Un­ter dem Ei­chen­tisch der Schen­ke »Zur Höl­le«, wo im­mer Be­trun­ke­ne lie­gen, lag 1378 Her­zog Wen­zel von Lu­xem­burg, als Kam­mer­her­ren ein­tra­ten, um ihm den Tod sei­nes Va­ters zu mel­den, des Deut­schen Kai­sers Karl IV. Sie tru­gen den sinn­los Be­trun­ke­nen ins Schloss hin­auf und setz­ten ihn auf den Thron.
Von der größ­ten Ze­che, die je im »Grü­nen Frosch« ge­macht ward, er­zäh­len noch heu­te Wirt und Stamm­gäs­te, als wä­ren sie da­bei­ge­we­sen. Aber es sind schon drei­hun­dert Jah­re her, seit Scharf­rich­ter Myd­larz hier die zehn Schock Meiß­ner Sil­bertha­ler nach dem Ta­ge­werk ver­trank, für das er sie ver­dient hat­te: für die Mas­sen­hin­rich­tung der böh­mi­schen Adels­her­ren.
In der Ka­schem­me »Ba­tail­lon« gibt es kei­ne Tel­ler, nur Mul­den, die in die Ti­sche ein­ge­schnit­ten sind; in die­se Mul­den wird aus ei­nem Schlauch die Sup­pe ge­spritzt. Die Blechlöf­fel sind mit Ket­ten am Tisch be­fes­tigt, da­mit sie der Gast nicht mit­neh­men kön­ne.
Hier be­zog Dok­tor Un­ger, Uni­ver­si­täts­do­zent für Staats­recht und Ab­ge­ord­ne­ter des Land­tags, sei­nen per­ma­nen­ten Auf­ent­halt, als er er­fuhr, dass sei­ne Frau Or­gi­en mit sei­nen Kol­le­gen feie­re. Be­vor er sich be­wusst zu Tode trank, ver­mach­te er sein Ver­mö­gen den neun­zig Stamm­gäs­ten des »Ba­tail­lon«. Da­für soll­ten sie – so stand es im Te­sta­ment –, je­der mit ei­ner Fla­sche Ha­fer­schnaps in der Hand, an sei­nem Be­gräb­nis teil­neh­men, un­ter­wegs auf sein See­len­heil trin­ken und sein Lieb­lings­lied sin­gen »Vor­bei, vor­bei ist al­les, vor­bei mein Le­bens­glück …«
Hin­ter dem Lei­chen­wa­gen schrit­ten die Wit­we in schwar­zem Schlei­er, der Oberst­land­mar­schall von Böh­men mit Zwei­spitz, gold­ge­stick­tem Frack und De­gen, der Rek­tor und die De­ka­ne der Uni­ver­si­tät in Tala­ren und Hals­ket­ten; und die Pe­del­le in pur­pur­nem Or­nat tru­gen die Zep­ter der Fa­kul­tä­ten. Ne­ben ih­nen und zwi­schen ih­nen aber dräng­te sich der zer­lump­te, sau­fen­de, grö­len­de Chor der Er­ben. Nach we­ni­gen Schrit­ten brach die Wit­we vor Scham zu­sam­men. Am Grab­hü­gel ver­such­te der Rek­tor sei­ne Rede zu hal­ten, die me­lo­dra­ma­tisch vom Ge­brüll des Lie­des »Vor­bei, vor­bei …« be­glei­tet wur­de. Sei­ne Ma­g­ni­fi­zenz konn­te nicht zu Ende spre­chen; ein De­kan sank in Ohn­macht und wur­de da­von­ge­tra­gen, die an­de­ren Trau­er­gäs­te flüch­te­ten in pa­ni­schem Schre­cken, die­weil die Ba­tail­lons­brü­der den Platz be­haup­te­ten und dem to­ten Kum­pan wei­nend die ge­leer­ten Ha­fer­schnaps­fla­schen ins Grab schleu­der­ten.
Ein Schwes­ter­lo­kal des »Ba­tail­lon« war die »Mi­mo­se«. Der be­schei­de­ne Name stamm­te wohl aus der Bie­der­mei­er­zeit, aber für die Gäs­te war er ein Fremd­wort, das sie sich nicht mer­ken konn­ten, wes­halb sie es »Phi­mo­se« nann­ten. Grö­ßer als die Wirts­stu­be war der Hof, in dem Ge­bir­ge von lee­ren Kis­ten stan­den. Sie ge­hör­ten dem im glei­chen Hau­se be­find­li­chen Lei­nen­wa­ren­ge­schäft Br­umlick, wur­den je­doch in der Nacht vom »Mi­mo­se«-Wirt an Lie­bes­paa­re ver­mie­tet. Der Kell­ner Hon­za Luft, sonst als Ath­let ge­fürch­tet, war we­gen sei­ner Ge­schick­lich­keit im Her­aus­zie­hen von Spä­nen als Hel­fer be­liebt.
Ich habe in der »Mi­mo­se« vie­len ge­fähr­li­chen Zu­sam­men­stö­ßen bei­ge­wohnt, und alle wur­den von Hon­za Luft ge­schlich­tet, knapp be­vor es zum Blut­ver­gie­ßen kam. Nur ein­mal sah ich sei­ne In­ter­ven­ti­on kläg­lich schei­tern. Das war, als zwei Ve­teran­in­nen der Pro­sti­tu­ti­on auf­ein­an­der los­gin­gen. Die eine stot­ter­te, und die an­de­re fluch­te in ei­nem wil­den Rot­welsch, dem ich nur ent­neh­men konn­te, dass es um einen Gast ging, den die Stot­tern­de der Flu­chen­den ab­spens­tig ma­chen woll­te. Plötz­lich be­gann die Stot­te­rin »Gal­gen­to­ni, Gal­gen­to­ni« zu brül­len und »die­se da wird ge­holt, be­vor ei­ner auf­ge­hängt wird«. Da sprang die als »Gal­gen­to­ni« Apostro­phier­te auf sie zu, warf sie zu Bo­den und schlug, al­len Tren­nungs­ver­su­chen des Hü­nen Hon­za Luft spot­tend, so lan­ge auf die un­heim­lich gel­len­de Fein­din ein, bis die­se ver­stumm­te und leb­los dalag. In die­sem Au­gen­blick trat die Po­li­zei ein und ar­re­tier­te die Gal­gen­to­ni.
Die Schil­de­rung, die ich als Zeu­ge die­ses Frau­en­du­ells zu schrei­ben ver­such­te, miss­lang, weil ich nicht wuss­te, was mit der An­spie­lung ge­meint war, die die­se bra­chia­le Wut aus­ge­löst hat­te. Ich nahm mir vor, die Part­ne­rin­nen ge­le­gent­lich dar­über zu be­fra­gen. Je­doch kei­ne der bei­den er­schi­en mehr in der »Mi­mo­se«. Vi­el­leicht war in­fol­ge der Schlä­ge­rei die eine ver­ur­teilt und die an­de­re tot oder bei­den das Lo­kal ver­bo­ten.
Eine an­de­re der Markt­s­pe­lun­ken hieß »Café Me­lan­trich«. Auch hier sa­ßen an den Ti­schen Ge­stal­ten, die sich durch nichts von den Stamm­gäs­ten des »Ba­tail­lon« oder der »Mi­mo­se« un­ter­schie­den. Den­noch stell­ten sie eine Eli­te dar ge­gen­über den Au­ßen­sei­tern, die sich im Kor­ri­dor dräng­ten, Kra­kee­ler, Ge­walt­tä­ter, Epi­lep­ti­ker oder Aus­sät­zi­ge. Ih­nen er­laub­te Herr Isi­dor Nat­schera­detz, ge­nannt »Mun­go«, nicht den Ein­tritt in das In­ne­re sei­nes Lo­kals. Ste­hend muss­ten sie ihre Ze­che kon­su­mie­ren und nei­disch ein Spa­lier für die Pri­vi­le­gier­ten bil­den, die un­ge­hin­dert im in­ne­ren Hei­lig­tum ein und aus ge­hen durf­ten.
In die­sem Spa­lier be­merk­te ich ei­nes Ta­ges die bei­den Duel­lan­tin­nen aus der »Mi­mo­se«. Ich ging auf die Gal­gen­to­ni zu, und un­ser Ge­spräch be­gann mit ih­rer Fra­ge, ob ich ihr einen Schnaps be­zah­len wol­le. Ich zahl­te nicht nur ihr einen Schnaps, son­dern auch der Stot­te­rin und so­gar ih­rer an­de­ren Nach­ba­rin, die als Frie­da Knie­fall an­ge­spro­chen wur­de. All­viert tran­ken wir ein­an­der zu und wa­ren fast Freun­de. Als ich je­doch mit der Fra­ge her­aus­rück­te, wes­halb denn die Gal­gen­to­ni da­mals so wü­tend ge­wor­den, ver­stumm­te sie un­wil­lig. Ver­geb­lich re­de­ten Stot­tern­de und Frie­da Knie­fall – die eine schimp­fend, die an­de­re gleis­ne­risch – auf sie ein, mir Aus­kunft zu ge­ben.
Von Zeit zu Zeit ging Mun­go Nat­schera­detz mit miss­traui­schem Ge­sicht vor­bei; er schi­en sich von ei­nem In­ter­view mit den ver­ru­fens­ten sei­ner Stamm­kun­din­nen kei­ne Re­kla­me für das Lo­kal zu ver­spre­chen.
Erst nach der drit­ten Run­de Schnaps er­klär­te sich die Gal­gen­to­ni be­reit, mir zu ver­ra­ten, worin ihre Be­zie­hung zum Gal­gen be­stand, aber sie knüpf­te eine Be­din­gung dar­an: ich müss­te zu ihr kom­men in ihre Woh­nung, dort wer­de sie mir al­les ge­nau er­zäh­len. An die­sem Be­such lag ihr mehr als an Schnaps oder Geld, ihre Wir­tin und ihre Mit­be­woh­ne­rin­nen soll­ten se­hen, dass sie noch Gäs­te emp­fan­ge!
In ei­ner un­be­schreib­lich elen­den Kam­mer im Le­der­gäss­chen saß ich vie­le nächt­li­che Stun­den lang bei der Gal­gen­to­ni. Müh­se­lig muss­te ich die De­tails ih­rer Le­bens­ge­schich­te her­aus­ho­len, aber ein Re­de­schwall brach aus ihr, als sie sich, so­zu­sa­gen vor ei­nem ima­gi­nären Rich­ter, zu ih­rer Ver­tei­di­gung auf­schwang und zu An­k­la­ge­re­den ge­gen eine pol­ni­sche Wan­da, die Stot­ter­bet­ty und die Frie­da Knie­fall, ge­gen Mun­go Nat­schera­detz und ge­gen die Sit­ten­po­li­zei. Sie ver­lang­te von dem ima­gi­nären Rich­ter nicht nur einen glor­rei­chen Frei­spruch für sich, son­dern auch die Ver­ur­tei­lung je­ner Fein­de und Fein­din­nen.
Ihr Schick­sal aber war ein Schick­sal zwi­schen blaues­ter Ro­man­tik und graues­ter Rea­lis­tik, der Sturz aus ei­nem ein­ge­bil­de­ten Pa­ra­dies in die scheuß­lichs­te Gos­se, in der sich nur der Wunsch spie­gel­te, in je­nes Pa­ra­dies zu­rück­zu­keh­ren.
Ein paar Wo­chen spä­ter woll­te ich die Gal­gen­to­ni wie­der spre­chen, fand sie je­doch we­der auf dem Kor­ri­dor des Café Me­lan­trich noch in ih­rer muf­fi­gen Bude im Le­der­gäss­chen. Dort sag­te man mir, sie sei im Kran­ken­haus, im Kran­ken­haus er­fuhr ich, dass sie ge­stor­ben sei.
Nun fährt sie also zu dem ima­gi­nären Rich­ter hin, auf des­sen Ur­teil sie sich mit ih­ren Plä­doy­ers vor­be­rei­tet hat. Si­cher­lich voll­zog sich die­se Him­mel­fahrt so, wie es sich die Gal­gen­to­ni vor­ge­stellt hat. Freun­de, lasst uns dar­an nicht zwei­feln! Am Sam­mel­platz der See­len, wo die Vor­stadt der Welt en­det, war­tet ein ge­wöhn­li­cher Po­li­zei­wa­gen. Und doch kein ganz ge­wöhn­li­cher. Es ist ein Po­li­zei­wa­gen für Hö­hen­fahrt, denn der Klep­per, der ihm vor­ge­spannt ist, hat wei­ße Fit­ti­che, und auch der Po­li­zei­wacht­meis­ter, der auf und ab geht, ist ge­flü­gelt. Nicht lan­ge braucht er der Fahr­gäs­te zu har­ren. Seht, dort kommt schon je­mand.
Im Nacht­hemd, ein wei­ßes Tuch um Kopf und Kinn ge­knüpft, in der einen Hand einen Kranz, in der an­de­ren eine bren­nen­de Wachs­ker­ze, knickst Frie­da Knie­fall vor dem Po­li­zei­wacht­meis­ter. Di­rek­ten­wegs geht sie auf den Wa­gen zu, di­rek­ten­wegs will sie ins Pa­ra­dies.
»Schutz­männ­chen, mein Schutz­en­gel­chen«, piepst Frie­da Knie­fall, »ich kom­me di­rek­ten­wegs ins Him­mel­reich. Das hat mir vor ei­ner Stun­de der hoch­wür­di­ge Herr Pfar­rer ver­spro­chen, als er mir die Letz­te Ölung ge­ge­ben hat.« Fräu­lein Frie­da Knie­fall, habe der geist­li­che Herr zu ihr ge­sagt, Sie kom­men di­rek­ten­wegs ins Him­mel­reich …
Freund­lich er­klärt ihr der Wacht­meis­ter, nie­mand kom­me so­gleich ins Him­mel­reich, alle See­len wer­den zu­nächst dem Fe­ge­feu­er ein­ge­lie­fert. Die­ser Um­weg stört die Frie­da nicht all­zu sehr, sie hat ja die Zu­si­che­rung vom Herrn Pfar­rer, im Him­mel auf­ge­nom­men zu wer­den. Aber warum fährt der Wa­gen noch nicht ab, da sie doch schon hier ist?
Ja, man müs­se bis Mit­ter­nacht war­ten. »Wir sind heu­te der letz­te Trans­port; wer bis vier­und­zwan­zig Uhr stirbt, fährt noch mit uns hin­auf.«
In der Tat kommt eben ein an­de­rer Pas­sa­gier, Herr Mun­go Nat­schera­detz. Er ent­schul­digt sich, dass er die Herr­schaf­ten habe war­ten las­sen, er ist über­zeugt, nur auf ihn habe man mit der Ab­fahrt ge­war­tet, und ver­langt eine Fahr­kar­te ers­ter Klas­se in den Him­mel, ohne Um­stei­gen, Schlaf­wa­gen wo­mög­lich. »Kos­tet, Herr Kon­duk­teur?«
Wie oft schon mag der Wacht­meis­ter die Aus­kunft ge­ge­ben ha­ben, dass es kei­ne di­rek­te Li­nie in den Him­mel gebe! Herr Nat­schera­detz hat ein über­le­ge­nes La­chen zur Ant­wort: »Das sa­gen Sie! Sie schei­nen nicht zu wis­sen, wer ich bin!« Er liest sei­ne To­des­an­zei­ge vor: »Wir be­trau­ern in dem Heim­ge­gan­ge­nen einen hoch­pri­ma Cha­rak­ter von vor­züg­li­cher, erst­klas­si­ger Qua­li­tät …« Her­nach, der Wir­kung si­cher, die die­ser Text ge­macht ha­ben muss, will er die Wagen­tür öff­nen. Aber der Wacht­meis­ter hält ihn zu­rück, und Frie­da Knie­fall äu­ßert mit ei­nem Seuf­zer: »Wir müs­sen uns in himm­li­sche Ge­duld fas­sen.«
Mun­go Nat­schera­detz ist bass er­staunt, die Frie­da hier zu se­hen, jo­vi­al streckt er ihr die Hand hin, aber Frie­da Knie­fall will hier mit dem Wirt der übel­be­leu­mun­de­ten Ka­schem­me nichts zu tun ha­ben.
»Ich ken­ne Sie nicht«, äfft Mun­go Nat­schera­detz ihr nach, »und seit zwan­zig Jah­ren ver­keh­ren Sie bei mir im Lo­kal, um sich Gäs­te zu schnap­pen.«
Dar­über erschrickt Frie­da Knie­fall, denn wenn das der Wacht­meis­ter hört und hö­hern Orts mel­det, kann ihr das sehr scha­den, der Zu­si­che­rung des geist­li­chen Herrn zum Trotz. Spit­zig flüs­tert sie Mun­go Nat­schera­detz zu, seit lan­gem ver­keh­re sie nicht mehr in sei­nem Café, seit der Zeit näm­lich, da ihr Bräu­ti­gam dort all ihr Geld ver­spielt habe.
Nun ist es Herr Nat­schera­detz, der erschrickt, denn mit der Be­schul­di­gung, eine Spiel­höl­le ge­we­sen zu sein, könn­te ihm, sei­ner To­des­an­zei­ge zum Trotz, die Höl­le heiß ge­macht wer­den.
Zum Glück für bei­de kann der Wacht­meis­ter von dem Ge­spräch nichts hö­ren, weil sich aus der Fer­ne ein Gas­sen­hau­er nä­hert, von ei­ner hei­se­ren Stim­me ge­schmet­tert. Ist das über­haupt eine Stim­me zu nen­nen? Ja. Denn wie aus ei­nem Mund sa­gen Mun­go Nat­schera­detz und Frie­da Knie­fall, die Stim­me kom­me ih­nen be­kannt vor.
Und da er­scheint auch schon un­se­re Gal­gen­to­ni im Mond­schein­licht. Sie stoppt ihr Lied erst, als sie die ver­trau­te Sil­hou­et­te ei­nes Po­li­zei­wa­gens vor sich sieht. Wie sie es wohl im­mer ge­tan, ver­sucht sie die Wagen­tür mit dem Fuß auf­zu­sto­ßen. Hier aber scheint das nicht die rich­ti­ge Art und Wei­se zu sein, der Wacht­meis­ter schiebt sie zur Sei­te. Die Gal­gen­to­ni nimmt das nicht übel. Sie ist so froh, aus dem Spit­tel raus zu sein, dass ihr kein Po­li­zist die Stim­mung ver­mas­seln kann. Nur un­ge­dul­dig ist sie, sie will in den Him­mel; sie brau­che kein Bil­lett, ruft sie, sie habe eine Jah­res­kar­te, so­gar schon kon­trol­liert, ein­mal wö­chent­lich vom Herrn Po­li­zei­arzt bei der Hu­ren­vi­si­te.
Ent­setzt raunt Frie­da Knie­fall dem Herrn Nat­schera­detz zu, das sei doch die Gal­gen­to­ni.
Herrn Nat­schera­detz zu er­zäh­len, dass das die Gal­gen­to­ni sei, ist auf Ehre sehr gut! Herr Nat­schera­detz hat sie nicht in die Gast­stu­be ge­las­sen, auf dem Kor­ri­dor ste­hend, muss­te sie den Kaf­fee trin­ken. Und jetzt will sie in den Him­mel!
Ja­woll, das will die Gal­gen­to­ni, und mög­lichst schnell. »Sol­len wir denn hier war­ten, bis es ir­gend­ei­nem Hot­ten­tot­ten in Ita­li­en be­liebt, die Bei­ne steif zu ma­chen?«
»Mit sol­cher Be­neh­mi­tät will sie in den Him­mel«, mur­melt Mun­go Nat­schera­detz sei­nem Bart zu.
Toni hat es ge­hört. Sie faucht ihn an, hier habe er nichts mehr zu be­feh­len, son­dern zu schwei­gen, wid­ri­gen­falls sie ihn vor sei­ne Ad­ler­na­se sto­ßen müss­te, dass er die En­gel pfei­fen hört, be­vor er noch mit der Grü­nen Min­na ab­ge­fah­ren ist. Da­bei fällt ihr ein, dass die Grü­ne Min­na, die Rheu­ma­tis­mus­kis­te da, noch im­mer nicht Mie­ne macht, ab­zu­damp­fen.
»Ich will mir hier doch kein Ge­schäft auf­ma­chen«, denkt sie laut, sehr laut so­gar. »Das ist nicht mein Strich, so ein mie­ses Re­vier such’ ich mir nicht aus. Wie ein Kind freu’ ich mich seit zwei­und­fünf­zig Jah­ren auf mei­ne Him­mel­fahrt, und jetzt soll ich Schlan­ge an­ste­hen? Also los jetzt, Him­mel, Arsch und Zwirn, sonst pas­siert was!«
Frie­da Knie­fall be­kreu­zigt sich, der Him­mel be­schüt­ze uns, be­tet sie, und der Wacht­meis­ter schwingt sei­nen Gum­mi­knüp­pel. Die Toni rät ihm ein­dring­lich, kei­ne Wel­len mit sei­nen Flü­geln zu ma­chen. Ihre Be­stim­mungs­sta­ti­on sei der Him­mel, und der war­te schon auf sie.
»Oder aber die Höl­le«, sagt der Wacht­meis­ter, wo­für er von Mun­go Nat­schera­detz be­lobt wird, das sei eine aus­ge­zeich­ne­te Ab­fuhr ge­we­sen, ein­fach bril­lant!
Das sei ihr scheißegal, brüllt die Toni, kei­nes­falls wer­de sie ihre Pe­da­le hier an­frie­ren las­sen, das sei kein Him­melss­trich für sie. »Wenn die Fuh­re nicht gleich ab­ge­ht, wich­se ich in den Schim­mel hin­ein, dass euch die Pfer­de­äp­fel um die Ohren sau­sen und die gan­ze Milch­stra­ße aus­ein­an­der­läuft.«
»So eine Aus­drucks­wei­se hab’ ich noch nicht er­lebt, seit ich tot bin«, be­teu­ert Mun­go Nat­schera­detz. Der Wacht­meis­ter ist wü­tend: »Hal­ten Sie den Mund«, sagt er zu Toni, »sonst …«
Toni krem­pelt sich die Är­mel auf und geht auf ihn los: »Sonst? Sonst was?« zischt sie. »Jetzt hat’s aber zwölf ge­schla­gen!«
Und da schlägt es wirk­lich zwölf, und der Wacht­meis­ter schlägt den Ton ei­nes Bahn­hof­schaff­ners an: »Ein­stei­gen die Herr­schaf­ten, nicht so drän­gen.«
Mun­go Nat­schera­detz drängt sich vor, Toni stößt ihn zur Sei­te. Kann man’s ihm übel­neh­men, dass er ver­är­gert fragt: »Gib­t’s denn da kei­ne ers­te Klas­se? Muss ich mit der Chon­te1 im Wa­gen fah­ren?«
»Mit so ei­ner Per­son«, as­sis­tiert ihm Frie­da Knie­fall, »wer mir das bei Leb­zei­ten ge­sagt hät­te!« Nie­mals noch sei sie in ei­nem Po­li­zei­wa­gen ge­fah­ren.
»Wirk­lich nicht?« sagt Toni. Dann kön­ne sich Fräu­lein Frie­da Knie­fall ja ein Taxi neh­men, so­gar eins für sich al­lein und ih­ren Jung­fern­kranz, wenn sie fürch­te, dass Herr Nat­schera­detz ihn im Wa­gen zer­drücken könn­te.
Mun­go Nat­schera­detz über­hört das, er ist da­mit be­schäf­tigt, den Wa­gen miss­trau­isch zu mus­tern: »Das heißt ei...

Inhaltsverzeichnis

  1. Titel
  2. Impressum
  3. Inhaltsverzeichnis
  4. Danke
  5. Von den Balladen des blinden Methodius
  6. Im Innern von »S. Kisch & Bruder«
  7. Wirklich gedruckt
  8. Das tätowierte Porträt
  9. Vorträge und Theater
  10. Deutsche und Tschechen
  11. Die alten Herren
  12. Kämpfe um die Lokalnotiz, speziell um Selbstmorde
  13. Vom großen Zorn dieser Reporter
  14. Sonnenthal im letzten seiner Tode
  15. Debüt beim Mühlenfeuer
  16. Weihnachtsbescherung
  17. Die unabsehbaren Konsequenzen
  18. Die Mutter des Mörders
  19. Die Wasserkatastrophe von Konopischt
  20. Zyankali gegen den Generalstab
  21. Tötet der Buchstabe?
  22. Die zusammengewachsenen Schwestern
  23. Die Himmelfahrt der Galgentoni
  24. Der Mordversuch und der Mord an meinem Onkel
  25. Magdalenenheim
  26. Ein Mädchen, das des Mörders harrt
  27. Wie ich erfuhr, dass Redl ein Spion war
  28. Von der Reportage
  29. Perverses Vorspiel
  30. Ein Reporter wird Soldat
  31. Kriminalfall wie keiner
  32. Ausgangsstation
  33. Gesungene Lokalchronik
  34. »Auswärtige« Berichterstattung
  35. Kaiserlich-Königlich Allzumenschliches
  36. Vom Papst persönlich
  37. Verrat der Ordre de Bataille
  38. Das weitere Verlagsprogramm