Die pragmatistische Transformation der Erfahrung
Autonomie durch Erfahrung
§ 101 Eine explizite Verteidigung der Auffassung, dass im Denken mehr auf dem Spiel steht als die kritische Klärung beliebiger Inhalte, findet sich im Pragmatismus. Vertreten durch die Klassiker John Dewey und Charles S. Peirce soll er im Folgenden als eine weitere Variante postformalistischen Denkens in den Blick genommen werden. Als Anknüpfungspunkt dient dabei die Feststellung, dass für diese Autoren das Denken (»thought« bei Dewey und »inquiry« bei Peirce) überhaupt nur deshalb bedeutsam für das Leben und für die philosophische Reflexion ist, weil Denken darin besteht, in die Welt kausal einzugreifen – weil es eine Praxis ist. Dieser Pragmatismus geht einher mit einem ebenso praktischen Verständnis der Erfahrung, der den Begriff der rationalen Autonomie, wie ich im Folgenden zeigen möchte, endlich konsequent aus seiner formalistischen Isolation holt. In der zeitlichen Abfolge der Positionen kehren wir mit diesen Autoren wieder zum Beginn des 20. Jahrhunderts zurück. Wir stehen nach der Kritik an McDowell jedoch auch inhaltlich erneut bei der Ausgangsfrage, die wir mit dem Wiener Kreis eingeführt haben: Wie lässt sich die Modernität der Wissenschaft, die in ihr gesehene Einheit von Kritik und Erfahrung, philosophisch fassen?
Eine erste kursorische Zusammenfassung der Grundposition, soweit sie von den hier diskutierten Autoren geteilt wird, lässt ihre postformalistische Stoßrichtung sofort erkennbar werden. Diese Klassiker verbinden Vernunft und Erfahrung, indem sie das Denken konstitutiv als eine wirksam-widerständige und dadurch erfahrungsgesättigte Praxis begreifen. In pragmatistischer Sicht ist es entsprechend eine irreführende Verkürzung, Wissenschaft schematisch als ein primär theoretisches Verfahren vorzustellen. Die Pragmatisten heben die praktische Dimension der Wissenschaft hervor und damit die auch von den heutigen Wissenschaftshistorikern immer wieder betonte »Unreinheit« eines Erkenntnisprozesses, in dem gebastelt, arrangiert, geahnt, probiert und durchaus auch ins Blaue hinein geraten wird.180 Für den Pragmatismus ist das Experiment Inbegriff eben dieser praktischen Dimension der Wissenschaft, und es gilt als maßgeblich für die erfolgreiche Allianz von Erfahrung und Kritik verantwortlich. Das pragmatistisch verstandene Experiment hat dabei den Charakter einer Kreisbewegung, wie er auch in der deutschen Tradition der philosophischen Hermeneutik affirmativ als ein produktiver »Zirkel des Verstehens« eingeführt wurde: Im experimentellen Handeln wird versucht, mit Hilfe der Erfahrung die Phänomene der Erfahrung besser zu verstehen.181 Im so verstandenen Experiment ist die moderne Einheit von Kritik und Erfahrung buchstäblich mit den Händen zu greifen. Es zeigt, dass (und wie) das Denken als Handeln funktioniert – was dann auch die postformalistische Grundthese der hier diskutierten Pragmatisten ist.
Und doch ist diese pragmatistische Grundposition, wie ich im Folgenden insbesondere mit Blick auf Peirce zeigen möchte, nicht immun gegen den Formalismus. Denn der Formalismus, wie er hier mit dem Wiener Kreis eingeführt wurde, ist immer schon mehr als eine spezifische Position zur Logik. Er markiert auch den Anspruch, eine Führungsrolle der Wissenschaft oder, vorsichtiger formuliert, des wissenschaftlichen Denkens zu begründen. In formalistischer Sicht verwirklicht sich in der modernen Wissenschaft das moderne Leitbild der Kritik, und es ist die Aufgabe der reflexiven Selbstbesinnung der Philosophie, das Denken insgesamt an dieser Wirklichkeit auszurichten – so auch die Behauptung des Manifests (Neurath 1981), das ja explizit über die Wissenschaft im engeren Sinne hinausgeht und eine wissenschaftliche »Weltauffassung« einfordert.
Der Formalismus ist eben auch ein kultureller Szientismus, der die Wissenschaft und ein wissenschaftliches Weltverhältnis zum Inbegriff des vernünftigen Umgangs mit der Welt überhaupt erklärt. In diesem weiteren Verständnis wird deutlich, dass die pragmatistische Kerneinsicht einer konstitutiven Verschränkung von Denken und Handeln allein noch keine endgültige Abkehr vom Formalismus bedeutet. Auch wenn die Wissenschaft als eine Praxis betrachtet wird, kann sie weiterhin hierarchisch ausgezeichnet bleiben. Der Unterschied zwischen Theorie und Praxis lebt dann in dem Unterschied zwischen Wissenschaft und Alltag fort. In diesem Kapitel werde ich diese Beobachtung nutzen, um auf indirektem Wege – durch eine Kritik dieser Lesart – die Konturen eines konsequenten postformalistischen Pragmatismus zu entwickeln.
§ 102 Die folgenden Ausführungen beginnen mit Peirce, der eine szientistische Deutung der Praxis der Vernunft vertritt. Peirce’ Pragmatismus ist, wie ich zeigen werde, noch näher am Empirismus, als es einer effektiven Formalismuskritik förderlich ist. Er vermeidet zwar die kategorische Trennung von Erfahrung und Logik, wie sie der Wiener Kreis vorführt. Doch er schränkt die von ihm reformulierte kritische und fallibilistische Rationalität explizit auf den Bereich der wissenschaftlichen Forschung und Methode ein. Dort, wo es um lebenswichtige Belange geht (»matters of vital importance«), stößt bei Peirce die wissenschaftliche Rationalität an ihre Grenzen, und wir werden aufgefordert, uns besser auf die Instinkte oder die Weisheit der Tradition zu verlassen.
Das ist der erste Grund, weshalb die Diskussion des Pragmatismus mit Peirce beginnt: Er zeigt, wie ein pragmatistischer Postformalismus sich nicht verstehen sollte. Peirce’ Szientismus zwingt dazu, näher zu spezifizieren, was der formalismuskritische Kern der pragmatistischen Verschränkung von Theorie und Praxis sein muss. Doch es gibt noch einen zweiten Grund, Peirce an den Anfang dieses Kapitels zu stellen. Und der lautet: Peirce ist zugleich auch der pragmatistische Autor, der die Grundlage für ein effektives postformalistisches Verständnis der Vernunft legt, wie es dann auch bei Dewey, dem zweiten hier diskutierten Pragmatisten, explizit entwickelt wird.
Die Behauptung, dass Peirce’ Pragmatismus szientistisch ist, muss somit relativiert werden. Peirce ist ein Autor, dessen genaue Positionen notorisch schwer zu fixieren sind. Die Quellenlage, aber auch die Vielfalt von Ansätzen und Neuansätzen, die Peirce in seinem Leben unternahm, verbieten es, ihm hier eine in jeder Hinsicht eindeutige Position zuzuschreiben. Peirce’ Pragmatismus hat szientistische Züge, das kann nicht geleugnet werden; insbesondere in den früheren und mittleren Schriften ist der Szientismus deutlich präsent. Doch dieser Aspekt wird – in den Schriften aus derselben Zeit – konterkariert durch weitreichende postformalistische Einsichten in die Verbindung von Denken, Handeln und Erfahren. Auf diese Einsichten konnten andere Pragmatisten, insbesondere Dewey, aufbauen, denen wiederum kaum Szientismus vorgeworfen werden kann.182 Dieses Kapitel beginnt also mit Peirce als einem Autor, der sich in zwei Richtungen lesen lässt – und der durch diese Ambivalenz zugleich erlaubt, die pragmatistische Formalismuskritik präziser zu fassen.
Gerade weil Peirce selbst nicht eindeutig zu positionieren ist, werde ich die wichtigsten Merkmale des pragmatistischen Szientismus nicht direkt aus seinen Schriften gewinnen. Dafür ziehe ich die Interpretation von Cheryl Misak (2004) hinzu. Misak liest Peirce als einen Empiristen und spitzt damit seinen ambivalenten Szientismus gewissermaßen zur Kenntlichkeit zu. Sie sieht in ihm einen radikal empiristischen Pragmatisten, der die wissenschaftliche Methode – und damit die Vernunft – dadurch auszeichnet, dass sie sich idealerweise fallibel von der Erfahrung selbst leiten lässt, ohne von Vorurteilen, sozialem Druck oder anderen Einflüssen abgelenkt zu werden. Misaks Verteidigung dieser Lesart erlaubt, den problematischen Empirismus in Peirce’ Pragmatismus zu identifizieren und kritisch zu korrigieren.
Misaks Interpretation ist auch für den Gesamtverlauf dieser Untersuchung instruktiv. Es ist kein Zufall, dass Misak Peirce als standhaften und unzweideutigen Empiristen liest. Misak vertritt die Ansicht, dass der Pragmatismus und der Logische Empirismus in der postanalytischen Philosophie eine fruchtbare Fusion eingegangen sind, und sie kritisiert Autoren wie Rorty oder Dewey dafür, en harten Grund der wissenschaftlichen Objektivität verlassen zu haben (Misak 2013b). Unabhängig von der Frage, wie berechtigt diese Vorwürfe sind, zeigt sich in solchen Urteilen, dass Misaks Interpretation von Peirce in einer im weitesten Sinne analytischen Perspektive operiert. Daher verfehlt sie die genuine Innovation von Peirce’ Erfahrungsbegriff, nämlich seine Abkehr vom deklarativen Paradigma. Die folgende Kritik an Misaks Peirce-Deutung führt somit die bisherige Kritik der analytischen Tradition fort. Es soll gezeigt werden, dass die pragmatistische Verbindung von Denken und Erfahrung erst dann zu einem konsequenten Postformalismus führt, wenn die Erfahrung – wie es das Experiment vorführt – in ihrer zeitlichen Offenheit und Eigendynamik ernstgenommen wird.
§ 103 Peirce arbeitete selbst als Experimentator und hatte praktische Erfahrung, auf die er in seinen Schriften immer wieder auch hinweist (EP II, 331 f.; EP I, 120). Philosophisch löst er das Experiment aus der subalternen Position gegenüber der Theorie, die es im Wiener Kreis einnimmt, und führt es als eine innovative Form der Praxis ein, die mit der widerspenstigen Erfahrung arbeitet, anstatt sie nur als einen Gegenstand der Reflexion zu betrachten. Hier ist Wissen nicht das Produkt der Kontemplation, sondern die Folge von Eingriffen, durch die etwas geklärt wird.183 Nicht punktuelle Deklaration (»Das ist rot!«), sondern zeitlich ausgedehnte experimentelle Untersuchungen (»Bleibt das auch rot?«) sind demnach die Beispiele, an denen die Erfahrungsbindung des Denkens sichtbar wird. Sie zeigen, dass wir der Erfahrung nicht vollständig ausgeliefert sind, weil (und insofern) wir sie handelnd beeinflussen können. Und dieser Einfluss ist nicht beschränkt auf sichtbare Handlungen und manipulative Eingriffe, also auf Praxis im herkömmlichen Sinne. Auch theoretische Innovationen, wie etwa neue Ideen oder Begriffe, führen zu anderen Erfahrungen. Entscheidend ist, dass wir auf den Wandel der Erfahrung Einfluss nehmen können.
Mit dem Experiment als Paradigma einer rationalen Einflussnahme auf den Verlauf der Erfahrung wird deutlich, dass die verbreitete Annahme falsch ist, der klassische Pragmatismus interessiere sich einseitig nur für die Konsequenzen des Handelns.184 Der pragmatistische Fokus auf die Konsequenz ist untrennbar verbunden mit der Einsicht, dass Konsequenzen auch Bedingungen haben. Eben diese Verbindung nutzt das Experiment in seiner Grundform: Es variiert die Bedingungen und notiert die resultierenden Konsequenzen. Das Experiment blickt nicht einfach in die Zukunft; es stellt sich zwischen die Bedingungen und die Konsequenzen, es lotet ihr Verhältnis aus.
Diese Mittelstellung nimmt das Experiment auch und gerade dann ein, wenn unerwartete Konsequenzen eintreten, die sich mit den Bedingungen nicht zu decken scheinen. Auch dieses Ergebnis eines Experiments ist immer schon reflexiv, da es darauf verweist, dass die gegebenen Bedingungen offenbar missverstanden wurden. Das Experiment irritiert also das Verständnis dessen, was da geschieht. Und dies durchaus aktiv. Mit den unerwarteten Folgen wird klar, dass die bisherigen Handlungsansätze und Verständnisse – die leitenden Begriffe und Vorstellungen – problematisch sind.
So verstanden, unterläuft die experimentelle Praxis die dichotome Unterscheidung zwischen aktivem Denken und passiver Erfahrung, die der deklarative Erfahrungsbegriff zieht. Im Experiment zeigt sich die Erfahrung nicht als passives Gegenüber des Denkens, sondern als treibendes Moment einer reflexiven Bestimmung dessen, was erfahren wird – als ein Moment des Denkens selbst. Dieser Erfahrungsbegriff, in dem sich Momente der Aktivität und Passivität überlagern, gibt die Frontstellung zur Theorie auf. Er verbindet, wie es im Experiment auch geschieht, Denken und Erfahrung praktisch miteinander. Mit ihm geht der klassische Pragmatismus entscheidend über die bisherige Diskussion dieser Untersuchung hinaus. Es wird möglich, Erfahrung nicht mehr als einen bloßen Bezugspunkt des Denkens zu sehen, sondern als sein Prinzip.
Die interpretatorische Leitthese der folgenden Ausführungen ist, dass Dewey und Peirce – bei allen Unterschieden zwischen ihren Positionen – mit diesem experimentellen Erfahrungsbegriff arbeiten und dass dies ihre entscheidende postformalistische Innovation ist. Konsequent fortgeführt, hat diese Konzeption zur Folge, dass der Begriff der Autonomie nicht mehr in einem unversöhnlichen Gegensatz zur Fremdbestimmung stehen kann. Die Fremdbestimmung des Denkens – sofern damit nicht bloßer Zwang gemeint ist – kann nicht mehr als eine (aus der Sicht des Denkens) rein passive Einwirkung verstanden werden, zu der es nachträglich Stellung nimmt. Das tastende, suchende Experiment führt vor Augen, das solche Einwirkungen – wie etwa bestimmte Wahrnehmungen – auch das Resultat von Handlungen und Manipulationen sind und daher sich keineswegs nur passiv einstellen.
Dieser aktiv-passive Erfahrungsbegriff lässt die Grenze zwischen Geist und Welt durchlässig werden, indem er sie dynamisiert. Die objektive Affizierung durch die Welt und die denkende Selbstbestimmung entfalten sich erst in der Zeit als identifizierbare Kräfte, deren Zuordnung aber immer wieder neu auf dem Spiel steht. Auch diese Konsequenz wird am Experiment gut erkennbar: Eine der wichtigsten Fragen der experimentellen Praxis ist, ob ein überraschendes empirisches Resultat wirklich ein Missverständnis auf der Seite der Theorie anzeigt, ob also tatsächlich ein unerwartetes Resultat vorliegt oder ob – was häufig der Fall ist – das Resultat auf eine mangelhafte Durchführung des Experiments verweist (»Arte...