»Die sich weitende Kluft zwischen Wissbarem und Gewusstem und die Missdeutungen des eigentlich Wissbaren werden wahrgenommen und als bedrohlich empfunden […] Was also ist zu tun? […] Es bedarf vermehrter und besserer Vermittlung.«
(Wolf Singer, ehem. Direktor des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung)
1 Warum ein Buch zum Wissensc haftsjournalismus?
Das Erdbeben, das am 11. März 2011 Japan erschütterte, und der Tsunami, der darauf folgte, beschädigten Atomkraftwerke und katapultierten Wissenschafts- und Wissensthemen in alle Nachrichtensendungen, in jede Zeitung und jede Zeitschrift. Wochenlang wurden Geophysiker, Atomphysiker, Strahlenmediziner und Umweltexperten befragt und Fachbegriffe erklärt; über Ticker liefen Messdaten und Prognosen. Schaubilder erläuterten Plattentektonik, Siedewasserreaktoren und atomare Kettenreaktionen. Wer keinen Fachmann hatte, der sucht sich einen, wer keine Fachkenntnis hatte, las sie sich an. Nachrichtenredakteure und Politikreporter jonglierten Wissenschaftsfragen – mit mäßigem Erfolg. Die wenigsten Redaktionen haben diese ungewohnt wissenschaftslastige Zeit der Japanberichterstattung gut gemeistert. Was die große Stunde der Wissenschaftsjournalisten hätte werden müssen, verkam vielerorts zum Auftritt der Alarmisten.
Den meisten Redaktionen gelang es zwar, die Fülle der Neuigkeiten weiterzugeben; die Ereignisse einzuordnen, klug zu bewerten und damit brauchbar zu machen, glückte nur wenigen. Die tagesschau berichtet am 24. März 2011 um 20 Uhr über die Lage in Japan:
Nachrichtenzuschauer sahen bei diesen Worten fassungslos, wie der offenbar todesmutige Ishihara ein Glas Wasser austrank. Nicht erwähnt wurde, dass die Belastung des Wassers 210 Bequerel betrug. Der Grenzwert für Trinkwasser liegt in Deutschland bei 370 Bequerel pro Liter. Wasser mit so geringer Belastung trinken wir möglicherweise jeden Tag. Eine »Mutprobe«?
Was guter Wissenschaftsjournalismus leistet, zeigte dagegen die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG. Schon wenige Tage nach dem Beben erinnerte man sich dort an den Informations-GAU, der nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl 1986 die Menschen verunsicherte:
Schon einen Tag zuvor erklärte die Zeitung klar, präzise und elegant, was es mit dem »Abschalten« der Reaktoren auf sich hat; wie ein Bennstab und ein Siedewasserreaktor funktionieren und was eine Kernschmelze ist und was das bedeutet. Ein Glossar erläuterte Bequerel, Sievert und andere allgegenwärtige Fachausdrücke.
Beispiel: Berichterstattung über Fukushima
Einen Tag nach dem Beben schreibt die sonst so volksnahe bild-Zeitung unter der Überschrift: »ATOM-ALARM!«:
Unerwähnt bleibt, was eine »destabilisierte Kühlung« bedeutet und ob achtfach erhöhte Radioaktivität gefährlich ist (BILD, 13.3.2011).
Neun Autoren, darunter zwei ausgewiesene Wissenschaftsjournalisten, tragen im SPIEGEL, der drei Tage später erscheint, zusammen, was sie über Fukushima in Erfahrung bringen konnten. Sie schreiben vom »Stahlbehälter, in dem die glühenden Brennstäbe schwimmen,« die freilich weder glühen wie Grillkohle, noch schwimmen. Sie verwenden Zahlen, die sie nicht einordnen, und werfen Fragen auf (SPIEGEL, 14.3.2011).
Am gleichen Tag bringt die Tageszeitung die WELT ein Protokoll, das vor widersprüchlichen und nicht eingeordneten Messdaten strotzt:
Offen bleiben die Fragen: Was sind Mikrosievert? Was ist der zulässige Höchstwert, wo ist Miyagy, nah oder fern, und was ist normal? Kurz: Ist das schlimm?
Am nächsten Tag beantwortet bild die nahe liegende Frage »Was macht die Radioaktivität in meinem Körper?« in einem Interview mit einem Strahlenbiologen:
Nicht zu Unrecht wird manchen deutschen Medien Panikmache vorgeworfen.
Immerhin, nach über einer Woche versucht das Magazin FOCUS die allgegenwärtigen Fragen sachlich zu beantworten. Das Ergebnis ist nicht nur sprachlich ungeschickt und stilistisch unschön, sondern für Laien schlicht unverständlich:
Dem Normalverbraucher, der sich angesichts einer drohenden Atomkatastrophe sorgt und Informationen möchte, helfen diese Ausführungen nicht. Was ist ionisierend? Was haben Mobiltelefone damit zu tun? Braucht man Elektronen zum Leben? Rätselhafte Nachrichten werden von kryptischen und abstrakten »Erklärungen« flankiert, die mehr Fragen aufwerfen als sie beantworten.
Das Fernsehen experimentierte mit Experten unterschiedlichster Herkunft, die fachlich vermutlich unangefochten, aber schlecht befragt und wenig aussagekräftig waren, bis man den Wissenschaftsjournalisten und Physiker Ranga Yogeshwar entdeckte. Er ist ein Wissenschaftsjournalist, wie man ihn sich wünscht: beschlagen, besonnen, eloquent, klug und recherchefreudig. Im zeit magazin sagte er über die Zeit der manischen GAU-Berichterstattung:
Die Naturkatastrophe und das Atomunglück waren Ausnahmezustände. Das gute an ihnen ist, dass sie sehr deutlich zeigen, wie wichtig gute Journalisten sind, die in den Wissenschaften zu Hause sind, oder Wissenschaftler, die ihr Wissen verständlich vermitteln können. Aber braucht es für diese Erkenntnis eine Katastrophe?
Angesichts der Vielfalt von Wissenschaftsthemen und ihrer Brisanz sollte klar sein, dass auch der journalistische Umgang damit nicht nur vielfältig und spannend, sondern auch gesellschaftlich und wirtschaftlich relevant ist. Trotzdem müssen Wissenschaftsjournalisten in manchen Medien immer noch kämpfen – sei es um Gehör in der Konferenz, Geld für die Recherche und Platz in Blatt und Sendeplan. Dabei zeigt nicht nur das Reaktorunglück von Fukushima, wie weltbewegend »Wissenschaft« ist, und dass in diese Rubrik auch im Alltagsgeschäft so ziemlich alles fällt, was wirklich von Belang ist – von wenigen Kultur- und Finanzthemen abgesehen.
Die Frage, wie mit Seuchen wie BSE, Hühner- oder Schweinegrippe umzugehen ist, berührt nicht nur die Politik, sondern jeden einzelnen. Klimawandel und Energiethemen – früher Steckenpferde von Ökologen und Ingenieuren – beschäftigen den Bundestag. Ob die gesetzlichen Krankenkassen die Kosten für ruinös teure »innovative« Medikamente übernehmen sollen, ob Reihenuntersuchungen wie Darmspiegelungen sinnvoll sind, sind ebenso Wissenschaftsthemen wie die Schulpolitik. Was kann man aus einer Zahlensammlung wie der PISA-Studie lesen und was folgt daraus: Lernen Kinder besser in homogenen Gruppen, wenn sie also früh nach Leistungsniveau getrennt wurden, oder profitieren die Starken von den Schwachen und umgekehrt? In welcher Klasse ist es sinnvoll eine Fremdsprache einzuführen?
Die Wissenschaft sucht nach Antworten auf solche Fragen und formuliert sie auch – wenn auch in einer Sprache, die dem Laien unverständlich ist. Für die allgemeinverständliche, populäre Darstellung sorgen Wissenschaftsjournalisten. Aber gibt es eine populäre Wissenschaft? Max Planck beantwortete die Frage kategorisch und pessimistisch: »Wissenschaft kann niemals im eigentlichen Sinn des Wortes populär werden.« Planck beharrte darauf, dass der Laie den Methoden, mit denen die Wissenschaft ihr Material heranschafft, in der Regel verständnis- und hilflos gegenüberstehe (Fischer 2008).
Und doch ist Wissenschaft so populär wie nie. Wissenschaftssendungen bekommen gute Sendeplätze, leicht verständliche und sensationsbegeisterte Wissenschaftsmagazine wie P.M. oder »Welt der Wunder« erreichen doppelt bis dreifach höhere Auflagen als die seriöseren »Spektrum der Wissenschaft« oder »Zeit Wissen«. Wissenschaftszentren und -Museen gibt es in jeder größeren Stadt, und jede Universität veranstaltet eine Kinderuni. Ist Wissenschaft also doch populär?
Wissensjournalismus ist populär
Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass die beliebteren Formate nicht Wissenschafts-, sondern Wissensjournalismus betreiben. Wissensjournalismus vermittelt Themen auf unterhaltsame Art. Es muss nicht neu sein, es muss packen. Die wichtigste Frage des Wissensjournalisten lautet: »Was interessiert meinen Leser oder Zuschauer?« Da werden Sensationen und Visionen bemüht. Wissenschaftler dienen dem Wissensjournalisten als Experten, die das Wissen erklären. Ihre Arbeit, das Forschen, spielt keine große Rolle.
Wissenschaftsjournalisten dagegen berichten in allererster Linie über Forschung, über den Wissenschaftsbetrieb und die Ergebnisse, die er produziert. Den Wissenschaftsjournalisten beschäftigt die Frage: »Was ist passiert?« und erst danach, wie er es seinem Leser, Hörer oder Zuschauer nahe bringen kann.
Die Grenzen zwischen Wissens- und Wissenschaftsjournalismus sind aber fließend. Die Protagonisten operieren zwischen Fachchinesisch und Boulevard. Im besten Falle verstehen sie die Wissenschaft und machen sie Laien verständlich. In den folgenden Kapiteln wird deshalb nicht mehr zwischen Wissens- und Wissenschaftsjournalismus unterschieden. Die Tücken der Materie und das Handwerkszeug sind die gleichen: Wer über Wissenschaft berichtet, muss mit wissenschaftlichen Publikationen umgehen können, mit Sprache und mit Zahlen.
Ob Massenimpfungen oder medizinische Tests sinnvoll und der Einsatz teurer Medikamente gerechtfertigt sind, kann nur beurteilen, wer Grundregeln der Statistik beherrscht. Ein Landtag kann nur dann vernünftig über Schulreformen entscheiden, wenn die Abgeordneten verstehen, welche Lernmethoden am besten funktionieren, in welchem Alter eine Fremdsprache am besten aufgenommen werden kann und welche Schulformen reüssieren. Neurologen, Pädagogen und Soziologen können auf eine Menge Material zugreifen, das belegt, dass viele Entscheidungen kontraproduktiv sind. Doch wie sag ich’s meinem Landespolitiker? Natürlich liest der keine Fachzeitschrift und kennt die Protokolle von Lernexperimenten nicht. Der Wissenschaftsjournalist ist gefragt, der die Materie durchdringt, die Ergebnisse wertet und die Essenz verständlich vermittelt.
Man braucht sie also, die Wissenschaftsjournalisten. Man braucht Menschen, die Fachwissen und Sachverständnis mit journalistischem Handwerk verbinden. Als wäre das nicht Anspruch genug, gelten für Wissenschaftsjournalisten noch andere Regeln als für Vertreter anderer Ressorts.
Wissenschaftsjournalismus ist eine Wissenschaft für sich
Auf den Politikseiten darf der Journalist vieles voraussetzen. Er darf davon ausgehen, dass die Leser wissen, warum eine bestimmte Debatte gerade hitzig geführt wird, und was z. B. der Bundesrat ist, muss er nicht erläutern – schließlich ist das Allgemeinwissen.
Der Wirtschaftsteil richtet sich sowieso nur an beschlagene Interessierte. Die Tatsache, dass täglich nach der Tagesschau Börsennachrichten gesendet werden, mag zu der irrigen Annahme verleiten, dass jeder Bundesbürger wisse, wie die Börse funktioniert und was der Nasdaq ist. Natürlich ist das nicht so. Wirtschaftsberichte werden für ein Fachpublikum geschrieben, Menschen, die Bilanzen lesen können und in Sachen Marketingstrategien und Weltmarktdynamik firm sind.
Im Feuilleton dürfen eitle Kunstschreiber verschwurbelte Wurstsätze konstruieren und französische und lateinische Phrasen unübersetzt stehen lassen. Das zeigt, dass sie davon ausgehen, dass die Leser dieser Seiten hochkultiviert sind und damit etwas anzufangen wissen. Der Chefredakteur liest diese Stücke im Zweifel sowieso nicht, weil ihn die Kritik an einer Theaterinszenierung, die er nicht gesehen hat, nicht interessiert. Für Buchrezensionen gilt das Gleiche.
Und nun kommt die Wissenschaft. In den meisten Medien geht man hier und nur hier davon aus, dass man beim Leser keinerlei Vorkenntnisse erwarten darf. Kein Fremdwort darf unübersetzt, kein Fachbegriff unerläutert bleiben. Wissenschaftsthemen findet der Chefredakteur irgendwie wichtig und liest deshalb die Stücke, tut sich aber mit dem Verstehen schwer. Er weiß nicht, was ein Quark ist oder ein Enzym. Ihm ist nicht klar, was eine offene Studie kennzeichnet und was man unter historisch-kritischer Methode zu verstehen hat. Er findet aber, dass das auf 120 Zeilen ruhig so erläutert werden kann, dass er es endlich auch versteht.
Das ist kaum überzeichnet. Doch Wissenschaftsjournalisten haben es nicht grundsätzlich schwerer. Sie werden handwerklich und inhaltlich zwar mehr gefordert als viele Kollegen in anderen Sparten; dadurch können sie aber auch mehr. »Moderner Wissenschaftsjournalismus nimmt vieles von dem vorweg, was der elitäre Teil des Feuilletons und andere den Geisteswissenschaften zugewandte Formate womöglich noch lernen müssen. […] Populäre Medienthemen aus Naturwissenschaften, Technik und Medizin sind inzwischen so erfolgreich, dass Kulturexperten und Geisteswissenschaftler bereits Rat beim Wissenschaftsjournalisten suchen, wie man mit ihren Themen ebenfalls besser in den Massenmedien ankommen könnte«, schreibt Holger Wormer (Wormer 2009).
Gute Wissenschaftsjournalisten müssen mehr und können mehr: Ihr Ressort bietet phantastische Möglichkeiten. Kaum ein Themenfeld ist ergiebiger, aktueller und lebendiger als die Wissenschaft. Forschung und Fortschritt sind ständig neu, anders und immer im Fluss. In der Wissenschaft geht es nicht nur um neue Erkenntnis, sondern um alles, was das Leben spannend macht: Geld, Leidenschaft, Macht, Politik, Ansehen, Scheitern, Vertuschung, Bestechung, Betrug und die nicht enden wollende Suche nach Lösungen, Heilung, Erklärungen, Sinn.
Wissenschaft erklärt die Welt und der Wissenschaftsjournalist erklärt die Wissenschaft
»Alarmierende neue Studie: Armes Deutschland – Die Kluft zwischen Arm und Reich wird immer größer – Mittelschicht in unserem Land schrumpft dramatisch« titelte das Boulevardblättchen hamburger morgenpost (16.6.2010). Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hatte eine Studie veröffentlicht mit dem Titel »Polarisierung der Einkommen: Die Mittelschicht verliert«. Darin schreiben die Autoren: »Im längerfristigen Trend ist einerseits nicht nur die Zahl der ärmeren Haushalte stetig gewachsen – sie wurden im Durchschnitt auch immer ärmer.« Andererseits gebe »es im Trend immer mehr Reichere, die im Durchschnitt auch immer reicher würden.«
Das Geschrei war groß. Gewerkschaften, die politische Opposition und diverse Sozialverbände leiteten aus den wissenschaftlichen Erkenntnissen des DIW sogleich Forderungen ab – von Mindestlöhnen über neue Beitragsbemessungsgrenzen bis hin zu einem neuen Erbrecht und Steuererhöhungen. Die Autoren der sehr angreifbaren Studie erlauben sich am Ende ihres Werks eine Warnung vor Fremdenfeindlichkeit und Ausländerhass, die sich aus den Statusängsten der Mittelschicht (die die Studie zu Unrecht schürt) ergeben könnten. Dazu zitieren die Forscher Studien, die keinerlei Zunahme von Fremdenfeindlichkeit in der Krise, ja nicht einmal Statusangst feststellen.
Es ist schön, wenn in erhitzten politischen Debatten Wissenschaftler harte Fakten und klare Zahlen sprechen lassen. Noch schöner ist ...