B. Was Menschen wissen können: Ästhetik und Logik als Organon der Erkenntnis
Voraufliegt jeder disziplinären Einteilung verschiedener Wissenschaften die Untersuchung ihrer Möglichkeit. Da jede Wissenschaft in irgendeiner Weise nach Erkenntnis strebt und zugleich nicht jede Erkenntnis wissenschaftlicher Natur zu sein scheint, erfordert eine Erklärung der Möglichkeit von Wissenschaft zum einen die Untersuchung des Wesens von Erkenntnis überhaupt und zum anderen die Auszeichnung spezifisch wissenschaftlicher Erkenntnis. Die Bearbeitung dieser epistemologischen Fragen hat nach Baumgarten ihren systematischen Ort im organischen bzw. instrumentellen Teil der Philosophie. Er behandelt dort noch ohne weitere Spezifikation Erkenntnis überhaupt und deren Unterteilung in sinnliche und verstandesmäßige.56 Baumgartens Erkenntnistheorie umfasst daher Ästhetik und Logik und besitzt universale Geltung für jedes ›Erkennen und Behaupten‹, sofern es sich auf Qualitäten des Seienden richtet.57 Wird die Philosophie nun als Weltweisheit bestimmt, setzt folglich auch deren Möglichkeit als Wissenschaft bereits jenes Organon voraus. Dies heißt freilich nicht, dass eine solche umfassende epistemologische Untersuchung außerhalb der Philosophie stünde. Denn sofern sie spezifische Formen von Erkenntnis, insbesondere wissenschaftliche, thematisiert, setzt sie auch die Unterscheidbarkeit solcher Formen und entsprechend differenzierte Vermögen des erkennenden Geistes voraus. Damit ist die Untersuchung bereits auf endliche bzw. menschliche Erkenntnis fokussiert, welche – anders als etwa die eines unendlichen Geistes bzw. Gottes – verschiedene Erkenntnismöglichkeiten umfasst. Solche Epistemologie fällt daher, systematisch betrachtet, in die Disziplin der empirischen Psychologie, d. h. eines Teils der Metaphysica specialis. Eine systematische Analyse des baumgartenschen Denkens hat demnach genau an diesen Punkten anzusetzen.
Mit diesem organischen Aufbau folgt Baumgarten der klassischen aristotelischen Differenzierung zwischen genetischer und systematischer Priorität der gewonnenen Erkenntnisse: Trotz der systematischen Priorität dessen, was seiner Natur nach, mithin von sich aus das erste Zu-Erkennende ist, wird eine didaktisch und methodisch kontrollierte Anordnung philosophischer Forschung an dem ansetzen, was für uns das Erste ist, das erkannt werden kann.58 Die erkenntnistheoretische Grundlegung der Philosophie erfolgt also zunächst im Rahmen der Metaphysica specialis, und zwar derjenigen Disziplin, die sich mit kontingenten Gegenständen geistiger Natur beschäftigt.59 Indes muss es dieser ersten Untersuchung, die überhaupt in der Philosophie geführt werden kann, darum gehen, was der spezifisch menschliche Geist erkennt, und nicht darum, was die Seele als solche ist oder was ein Geist als solcher erkennen kann. Anderenfalls nämlich ginge die Untersuchung von der Möglichkeit einer Erkenntnis aus, ohne deren Wirklichkeit beachtet zu haben. Damit hätte sie den Boden der Philosophie bereits verlassen, weil sie ohne eigenen Beleg schlicht die Möglichkeit von Erkenntnis setzte, d. h. zum Gegenstand eines Glaubens machte. Verfährt sie hingegen wissenschaftlich, kann die Untersuchung gar nicht sogleich zu einer allgemeinen Seelenlehre (Pneumatik) führen, sondern muss zunächst auf der Ebene einer empirischen Psychologie bleiben. Gerade weil also die Untersuchung der Möglichkeit von Erkenntnis mit ihrer Wirklichkeit beginnen und daher sowohl sinnliche als auch propositionale Erkenntnis analysieren muss, ist die organische Philosophie Theorie des spezifisch menschlichen Erkennens und seiner Grenzen.
I. Erkenntnis
Gemäß seiner genetischen Methode bestimmt Baumgarten einen allgemeinen Begriff von Erkenntnis im Sinne der empirischen Psychologie und unterscheidet ihn damit zugleich von dem spezielleren der Wissenschaft: »Eine Erkenntnis ist eine Zusammensetzung von Vorstellungen, also sind Erkenntnis und Wissenschaft verschieden.«60
Da »Wissenschaft die gewisse Erkenntnis aus Gewissem«61 ist und Erkenntnis und Wissenschaft sich unterscheiden sollen, obwohl die Definition von Wissenschaft Erkenntnis einschließt, muss deren Differenz an der Vorstellungszusammensetzung liegen. Nicht jede Erkenntnis bzw. nicht jede Vorstellungszusammensetzung ist schon Wissenschaft. Solche Zusammensetzungen können in dreifacher Weise verschieden sein: Entweder in der Art der Zusammensetzung der Vorstellungen oder in der Art der Vorstellungen, die zusammengesetzt sind, oder in beidem. Klar ist jedenfalls zunächst, dass Wissenschaft eine besondere Art von Erkenntnis ist, und zwar eine solche, zu der die Eigenschaft der Gewissheit gehört.
1. Bewusstheit
Dies für den Moment dahingestellt, lässt sich bereits zweierlei festhalten: Zum einen kann es keine Erkenntnis geben, die einfach ist, d. h. in genau einer Vorstellung besteht, so dass Erkenntnis in einer Zusammensetzung von wenigstens zwei Vorstellungen zu einer Einheit bestehen muss. Zum anderen setzt das Haben von Vorstellungen irgendeine, aktive oder passive, mentale Tätigkeit voraus. Da es sich beim Erkennen aber nicht um das schiere Auftreten irgendwelcher isolierter Vorstellungen, sondern um deren Zusammensetzung handelt und Vorstellungszusammensetzungen nicht von etwas oder jemand anderem als dem Vorstellenden selbst stammen oder geliefert werden können, setzt Erkenntnis mentale Aktivität voraus, mithin Denken. Denken kann nun aber gar nicht anders als bewusst vollzogen werden. Denn bereits um festzustellen, dass da irgendeine Vorstellung ist, ohne schon wissen zu müssen, was deren Gegenstand sei, muss diese Vorstellung irgendwie vom vorstellenden Geist unterschieden werden. Jeder Denkakt enthält also zumindest eine Vorstellung des vorstellenden Geistes von sich selbst und eine beliebige, von dieser nicht nur unterscheidbare, sondern auch in ihrer Verschiedenheit wenigstens implizit thematische Vorstellung. Genau in diesem Akt der Unterscheidung besteht nach Baumgarten Bewusstsein: »Was wir von anderen unterscheiden, das stellen wir uns vor / des sind wir uns bewusst / das bemerken wir / das nehmen wir wahr. Eine bewusste Vorstellung ist ein Gedanke.«62 Jeder Gedanke erfüllt folglich Baumgartens Definition von Erkenntnis, da er mindestens zwei verschiedene Vorstellungen enthalten muss. Deren Zusammensetzung setzt offenbar weder die bewusste Anwendung logischer Regeln noch das Wissen darum voraus, was es ist, das da vorgestellt wird. Vielmehr genügt für Erkenntnis bereits das Bewusstsein der Existenz eines beliebigen mentalen Inhalts. Mit anderen Worten: Man kann erkennen, dass da irgendetwas ist – etwa man selbst –, ohne zu wissen, was das ist. Erkennen ist Unterscheiden, und Unterscheiden ist Denken.
Denken besteht also im Haben bzw. der Sukzession verschiedener mentaler Inhalte,63 und es ist jederzeit bewusst, weil Denken Bewusstheit ihrer Verschiedenheit – wenigstens in Form der Differenz von Vorstellendem und Vorgestelltem – einschließt. Weil aber auch intramentale Veränderung nichts anderes sein kann als die Verwirklichung eines entsprechenden mentalen Vermögens, sind in metaphysischer Hinsicht Vorstellungen wiederum nichts anderes als die Verwirklichungszustände eben jenes Vermögens. Diese Kraft, bewusste Vorstellungen haben zu können, mithin zu denken, nennt Baumgarten »Seele«.64 Die empirische Psychologie wird demnach eine Wissenschaft von den dem menschlichen Geist möglichen Bewusstseinsinhalten sein, d. h. von Vorstellungen, sofern sie Erkenntnis darstellen, und ihrem Erwerb. Die empirische Psychologie liefert demnach das Fundament jeder auf den menschlichen Geist bezogenen Theorie von Erkenntnis und somit Wissenschaft. Aufgrund dieser Festlegung des Bereiches empirischer Psychologie wird jenes Fundament selber ebenfalls Gegenstand von Erkenntnis sein können. Weil nämlich Gedanken eo ipso bewusst sein müssen und die menschliche Seele nichts anderes als ein Vermögen ist, bewusste Vorstellungen zu haben, erfordert das Programm der empirischen Psychologie zunächst gerade keine Erforschung oder gar wissenschaftliche Einsicht in Wesen und Möglichkeit der Seele, sondern nur die Feststellung, dass es Erkenntnis, d. h. bewusste Vorstellungen, gibt. Denn aus der Wirklichkeit von Erkenntnis kann man ohne Weiteres auf deren Möglichkeit schließen. Aber die Erklärung, wie Erkenntnis möglich ist, setzt keine erfolgreiche Untersuchung des zugrundeliegenden Vermögens unabhängig von seiner Verwirklichung, d. h. so etwas wie Seele überhaupt, voraus. Vielmehr genügt die Analyse der Arten, wie Vorstellungen zusammengesetzt sein können. Schließlich ist jede bewusste Vorstellung bzw. jeder Gedanke Erkenntnis, und Erkenntnisse müssen stets aus Vorstellungen zusammengesetzt sein, die selbst ebenfalls irgendwie bewusst sein können müssen. Sonst könnte mangels ihrer Unterscheidbarkeit ja gar keine Zusammensetzung vorliegen.
Nun mag auf den ersten Blick diese Restriktion der empirischen Psychologie auf mögliche Bewusstheit bei einem Autor vielleicht irritieren, dessen Bekanntheit nicht zuletzt davon herrührt, dass er sich ganz besonders um den Bereich der sogenannten dunklen Vorstellungen verdient gemacht und deren Ort auch noch »Grund der Seele«65 genannt hat. Es ist allerdings daran zu erinnern, dass die Dunkelheit dieser Vorstellungen nicht bedeutet, dass man nicht weiß, dass man irgendwelche Vorstellungen hat, sondern nur, dass man gerade nicht weiß, was ihre Gegenstände sind. Ihre Unbewusstheit besteht zwar in ihrer aktualen Ununterschiedenheit im vorstellenden Geiste, jedoch folgt aus dessen kontingentem Bewusstseinsinhalt keineswegs ihre Ununterscheidbarkeit. Wie sich das Meeresrauschen, an dessen Beispiel Leibniz den Begriff der petits perceptions verdeutlicht, aus den einzelnen Geräuschen unendlich vieler differenter Wellen zusammensetzt, die aktual nicht als einzelne wahrgenommen werden,66 liegt die Unbewusstheit dunkler Vorstellungen bloß darin, dass sie aktual nicht als einzelne von anderen unterschieden oder identifiziert werden. So schreibt Baumgarten unmittelbar vor Einführung des berühmten Seelengrundes:
Manches denke ich deutlich, manches verworren. Indem man etwas verworren denkt, unterscheidet man dessen Merkmale nicht, dennoch stellt man vor bzw. nimmt man wahr. Denn wenn man die Merkmale des auf verworrene Weise Vorgestellten unterscheiden würde, würde man, was man auf verworrene Weise vorstellt, deutlich denken: wenn man die Merkmale des verworren Gedachten durchaus nicht wahrnehmen würde, vermöchte man durch diese das verworren Vorgestellte nicht von anderen zu unterscheiden. Also stellt man, indem man etwas verworren denkt, manches auf dunkle Weise vor.67
Die Art und Weise, wie etwas vorgestellt wird, ändert also zuerst einmal nichts an der Bewusstheit des Vorstellens selbst. Vielmehr resultieren aus den verschiedenen Vorstellungsweisen Unterschiede in der Bewusstheit des Vorstellungsinhalts. Diese Unterschiede sind allerdings nur gradueller, nicht absoluter Natur. Denn auch einen verworren vorgestellten Inhalt kann man immer noch von anderen, auch ebenso verworren vorgestellten Inhalten unterscheiden. Dazu ist es keineswegs nötig, diese Inhalte eindeutig identifizieren und in dieser Form aussagen zu können. Die Bewusstheit der Differenz wird vielmehr durch die Inhalte selbst erzeugt, deren Merkmale zwar jederzeit vollständig vorgestellt werden – sonst wären die Vorstellungen ja nicht unterscheidbar und demzufolge nicht verschieden, sondern identisch, mithin gar nicht mehrere, sondern eine –, aber freilich werden jene Merkmale ebenso wenig schon durch ihr bloßes Vorgestelltwerden ausdrücklich thematisch bzw. bewusst. Dies Geschäft der bewussten Unterscheidung der Charakteristika verschiedener Vorstellungen und damit auch ihrer Identifikation obliegt vielmehr der Tätigkeit des vorstellenden Geistes nach Maßgabe seiner individuellen Erkenntnisvermögen. Mentale Inhalte sind daher prinzipiell von allen anderen möglichen Vorstellungen unterscheidbar und infolgedessen singulär. Daraus folgt weiterhin, dass nicht der vorstellende Geist die Vorstellungen, die er hat, irgendwie aus sich erzeugt, sondern nur seine Gedanken, d. h. das Bewusstsein der Differenziertheit seiner Vorstellungen, das von relativer Dunkelheit bis zu vollständiger Deutlichkeit reichen kann. So etwas wie eine absolut dunkle Vorstellung, deren Gegenstand per se nicht von anderen unterschieden werden könnte,68 kann deswegen nicht gedacht werden, weil sie gar keine Vorstellung mehr wäre. Kann der menschliche Geist – und nur um den geht es ja in der empirischen Psychologie – aber keine singulären Inhalte aus sich erzeugen, müssen sie ihm gegeben werden.
Dies geschieht durch sinnliche Wahrnehmung, welche durch den Leib vermittelt wird. Da der Leib selbst ein bestimmtes Ding und als solches Teil des Universums ist, sind die basalen singulären Inhalte des Geistes durch die Position des Körpers im Universum bedingt: »Aus der Stelle meines Leibes in diesem Universum kann erkannt werden, warum ich dies dunkler, jenes klarer, jenes deutlicher erkennen mag, d. h. meine Vorstellungen richten sich nach der Stelle meines Leibes in diesem Universum.«69 Aus dieser positionellen Bedingtheit aller mentalen Inhalte des menschlichen Geistes ergibt sich nun auch deren Singularität: Weil jede Vorstellung das gesamte aktuale Universum aus derjenigen Perspektive repräsentiert, welche durch die Position des wahrnehmenden Leibes eindeutig bestimmt ist, da nur ein materieller Körper gleichzeitig an ein und demselben Ort sein kann, besteht jeder mentale Inhalt, der durch einen Leib vermittelt wird, in der Gesamtvorstellung des Universums inklusive des jeweils aktuellen Zustandes des wahrnehmenden Leibes und des vorstellenden Geistes aus dieser singulären Perspektive. Diese »perceptio totalis« umfasst daher alle Arten von Vorstellungen, die sich als deren Teile durch ihren Grad bewusster Differenziertheit unterscheiden.70 Infolgedessen ist jene vollständige Vorstellung des Universums jederzeit in relativ dunkler Weise gegeben. Zugleich ist diese Gesamtvorstellung trotz ihrer Totalität nur partial,71 gerade weil sie perspektivisch bedingt ist und diese Perspektive – jedenfalls durch einen endlichen Geist – nicht in Richtung einer singulären Gesamtvorstellung transzendiert werden kann, die selber weder räumlich noch zeitlich bedingt wäre.72 Ist also der ›Grund der Seele‹ der Ort der dunklen Teile der Gesamtvorstellung – denn eine vollständig dunkle Vorstellung kann es ja gar nicht geben –, enthält er auch jederzeit alles Material, das zu einer vollständig deutlichen Vorstellung des Gesamtzustandes des Universums aus der Perspektive des vorstellenden Geistes zureichte. Jede Vorstellung, die in sinnlicher Wahrnehmung ihren Ursprung besitzt und daher die eines Einzeldings oder -ereignisses ist, muss demnach einen solchen dunklen Bereich besitzen und demnach prinzipiell verworren sein. Besteht nun seitens des vorstellenden Geistes Bewusstheit über die Existenz des dunklen Teils der Gesamtvorstellung, ist dies gleichbedeutend mit der Bewusstheit ihres unendlichen Inhalts, die zu einer intensiveren Beschäftigung mit ihr motivieren kann. Nun gilt dies zwar von jeder einzelnen Vorstellung, sofern diese irgendwie sinnlich vermittelt ist. Gleichwohl kann die Existenz ihres dunklen Teiles mehr oder weniger auffallen. So wird die Gewöhnung an die alltägliche Wiederholung ähnlicher Vorstellungen von Einzelnem wie etwa eines Weckerklingelns, einer Zahnbürste oder eines Murmeltiergrußes mangels ihrer ausdrücklichen Bewusstheit wenig Gelegenheit zur Erforschung ihres dunklen Teils bieten. Vorstellungen von Dingen oder Ereignissen, die gleichsam von sich aus auf ihre Singularität verweisen, wie etwa Gedichte, Gemälde, Musiken usw. mögen dagegen eher zu einer intensiveren Beschäftigung Anlass geben, aus der sich die Bewusstheit der Existenz jenes dunklen Teils vielleicht eher ergeben wird. Solche »vielsagenden Vorstellungen« nennt Baumgarten »perceptiones praegnantes«.73 Diese unterscheiden sich demnach nicht ontologisch von Alltagsvorstellungen und bilden deswegen auch keine eigene Art von Vorstellungen. Vielmehr liegt ihre Prägnanz in ihrer Wirkung auf den vorstellenden Geist. Ihre Ungewöhnlichkeit, die freilich kontextabhängig und deshalb kontingent ist, kann – muss aber nicht – intensivere Beschäftigung mit ihnen veranlassen und zur Einsicht in ihren – zumindest in extensionaler Deutung – begr...