– NORBERT FISCHER –
Womit muß der Anfang im Denken gemacht werden?
Der Zugang zur Gottesfrage bei Levinas durch kritische Anknüpfung an Heidegger und Kant1
»Das Leben kan allein den ersten Anfang machen«2
1. Hinführung zum Problem des ›Anfangs‹ bei Levinas
Emmanuel Levinas ist ein an der westeuropäischen (vor allem der deutschen) Philosophie geschulter jüdischer Autor mit osteuropäischen Wurzeln, dessen Schriften inzwischen weit verbreitet sind.3 Er selbst hat besonders seine Auseinandersetzung mit Husserl und Heidegger hervorgehoben, später auch den Einfluß Kants und die Nähe zu ihm erwähnt. Hier wird der Versuch gemacht, seinen Zugang zur Gottesfrage als kritische Anknüpfung an Heidegger und Kant zu verstehen.4 Nachdem das Studium des ersten Hauptwerks von Levinas eingesetzt hatte, erwachte alsbald ein breiteres Interesse an seinem Denken, das er in späteren Arbeiten entfaltet und zugespitzt hat.5 Da die Lage inzwischen ruhiger geworden ist, kann die Besinnung auf das Bleibende einsetzen.6
Levinas hat sich in Totalité et Infini mehrfach kritisch zum Ansatz Martin Heideggers geäußert.7 Zu beachten ist insbesondere der Hinweis zu Beginn des ›Vorworts zur deutschen Übersetzung‹, Totalité et Infini sei »aus einer unablässigen Aufmerksamkeit auf ›Sein und Zeit‹ entstanden«.8 Zwar argumentiert er klar gegen eine ›Fundamentalontologie‹, wie Heidegger sie vorträgt,9 weil die ›Metaphysik‹, in seinem Sinne gedacht, jeder ›Ontologie‹ vorauszugehen habe (TU 49–58). Demgemäß sieht er die ›Ethik‹ als ›Erste Philosophie‹ und als »Königsweg der metaphysischen Transzendenz« (TU 32; 442). Mit Heidegger folgt er der phänomenologischen Methode, gegen ihn bestreitet er den ›Anfang‹ bei der theoretischen Philosophie als der ›Ersten Philosophie‹; dezidierter als Kant weist er der reinen praktischen Vernunft das Primat in der Philosophie zu.10 Seine Interpretation der Lehre Kants vom ›Primat der reinen praktischen Vernunft‹ hat Levinas auch in einer kleineren Abhandlung ausgearbeitet, die bisher kaum wahrgenommen worden ist.11 Er erklärt nicht nur, bei Husserl und Heidegger in die Schule gegangen zu sein (TU 7), sondern deutet auch an, daß Husserls phänomenologische Methode ihm die Verbindung von Ethik und ›metaphysischer Exteriorität‹ ermöglicht habe, die für ihn auch ein Weg zurück zu Kant wurde.12 In giftiger Diagnose, in der er Kernworte von Heideggers Nietzsche-Deutung aufgreift, durch die Heidegger Einsicht in das ›Wesen des Nihilismus‹ suchte, betitelt er die ›Ontologie‹ – nicht die von Heidegger beargwöhnte ›Metaphysik‹ – als »Philosophie der Macht«. Dazu erklärt er (TU 442): »Die Moral ist nicht ein Zweig der Philosophie, sondern die erste Philosophie.«13
Methodisch ist Levinas, wie er berichtet, in der Ausbildung seines Denkens an Heideggers Sein und Zeit orientiert, inhaltlich in wachsender Zustimmung an der praktischen Philosophie Kants; allerdings bezieht er sich auch auf andere Autoren, denen er wichtige Anregungen verdankt.14 Der Zugang zur Gottesfrage, den Emmanuel Levinas verfolgt, wird hier nun in einer Auslegung der denkerischen Situation gesucht, die sich bei Heidegger und Kant zeigt, auch wenn sich in ihr nicht das volle Spektrum der Einflüsse widerspiegeln sollte und sie der Ergänzung bedürfte.15 Kant und Heidegger arbeiteten auf höchstem Niveau an den Fragen der Metaphysik und maßen der Gottesfrage vom Anfang bis zum Ende ihres Denkwegs eine entscheidende Bedeutung zu.16 Sie verfolgten, entgegen den verfehlten Meinungen, die Verfechter ›wissenschaftlicher‹ Systeme dogmatischer Metaphysiken vortrugen, gerade nicht das Ziel, ›die‹ Metaphysik zu zerstören, sondern versuchten, deren Problemgehalt zu verstehen, vor allem im Blick auf die Gottesfrage.17 Heidegger sucht den ›göttlichen Gott‹, den er im Widerspiel zum ›Gott der Metaphysik‹ denkt.18 Seine Rede von der ›onto-theo-logischen Verfassung der Metaphysik‹, die auf der Auslegung Gottes als ›causa sui‹ gründet, kann zudem im Anschluß an die scharfe Kritik der Onto-Kosmo-Theologie verstanden werden, wie Kant sie in der Kritik der reinen Vernunft vorgetragen hat.19 Beider Suche nach dem ›lebendigen Gott‹ hat Levinas fortgeführt, sofern er Gott als den nennt, der in einer Inversion der Aktivität ›ins Denken einfällt‹ und sich gerade nicht als ›Produkt‹ der Suche im Rahmen einer ›panoramahaften Darstellung des Seins‹ vorstellen läßt.20
Im folgenden wird die Absicht, die Levinas auf den von ihm in Totalité et Infini begangenen Weg führte, einerseits als kritische Destruktion und als positive Fortführung von Ansätzen Heideggers ausgelegt,21 andererseits als zustimmende Rückkehr zu Motiven Kants, aber auch als kritisch-ergänzende, ›phänomenologische‹ Fundierung und Erweiterung des von Kant vorgetragenen Ansatzes.22 Obgleich Heidegger seine Aufgabe zuweilen als ›Überwindung der Metaphysik‹ bezeichnet und er Kants Anliegen, zum Glauben Platz zu bekommen, zu diskreditieren versucht hat,23 gibt es gute Gründe für die Annahme, es sei auch ihm stets um die ›Sache‹ einer Metaphysik gegangen, sofern diese von den Fragen nach Gott und dem wahrem menschlichen Leben zu handeln hat.24 Auch Levinas beginnt die Untersuchung mit uns als dem Seienden, das Fragen stellt und ihnen ausgesetzt ist. Für ihn lautet die entscheidende Frage aber alsbald, »ob wir nicht von der Moral zum Narren gehalten werden«.25 Diese Untersuchung ist Thema des zweiten Kapitels unter dem Titel ›Innerlichkeit und Ökonomie‹, in dem es wesentlich um die ›Selbstheit des Ich‹ geht.26
Das Thema dieses zweiten Kapitels von Totalité et Infini hat mit dem Thema der beiden ersten Abschnitte von Sein und Zeit zu tun, also mit dem, was ausgearbeitet und publiziert vorliegt.27 Im Zentrum des ersten dieser beiden Abschnitte geht es um das ›Inder-Welt-sein des Daseins‹ und das ›Verfallen des Daseins an die Welt‹,28 im zweiten um das ›eigentliche Ganzseinkönnen des Daseins‹, also um die Frage, wie das Dasein ›ganz‹ und ›eigentlich‹ es ›selbst sein kann‹.29 Im dritten Abschnitt, der unter dem Titel ›Zeit und Sein‹ zwar geschrieben war, den Heidegger aber verbrannt hat, weil er ihn für unzureichend hielt, war es, wie es in einem Brief an Max Müller heißt, um die ›transzendenzhafte Differenz‹ und so auch um die Gottesfrage gegangen.30 Nachdem Heidegger daran gescheitert war, das Thema des dritten Abschnitts des ersten Teils von Sein und Zeit sachgemäß zu entfalten, kam es zur ›Kehre‹ seines Denkens, durch die er sich in neuen Ansätzen der Arbeit zuwandte, die dem Plan nach vom dritten Abschnitt gefordert war. Die Vermutung, daß Heidegger mit der ›transzendenzhaften Differenz‹ zugleich die Gottesfrage im Sinn hatte, ist nicht nur plausibel, sondern drängt sich auf.31 Levinas aber war wie Heidegger noch immer am Platonischen Stufenweg orientiert, wie Augustinus ihn weiter verfolgt hatte32 und der auch noch Kants Ausarbeitung der kritischen Philosophie zugrundelag.33
Heideggers Stellungnahmen zu Kants theoretischer Philosophie waren in Sein und Zeit zwiespältig,34 und sind es in seinen späteren Äußerungen geblieben.35 Die praktische Philosophie hat Heidegger (wenigstens vorerst) ausgeblendet oder übergangen,36 obwohl es Anknüpfungen gibt und Heidegger implizit die Forderung der Reinheit des Moralprinzips vorauszusetzen scheint.37 Explizit macht er den ›Leitfaden alles philosophischen Fragens dort fest, woraus es entspringt und wohin es zurückschlägt‹.38 Von diesem ›Anfang‹ aus fragt er (OVM 64): »Wie kommt der Gott in die Philosophie, nicht nur in die neuzeitliche, sondern in die Philosophie als solche?« Von Hegel, nach dessen spekulativer Einsicht ›das Resultat der Anfang ist‹, übernimmt er die These, daß Gott »das unbestrittenste Recht hätte, daß mit ihm der Anfang gemacht werde«.39 Obwohl Gott im spekulativen Denken stets »die Ursache als die Causa sui« sei, beharrt Heidegger auf dem Anfang beim fragenden Menschen, wie ihn auch Kant und Levinas bevorzugen. Zum Bedenken dieser drei ›Anfänge‹ wird zunächst Heideggers Anfang und die gegen diesen zielende Kritik von Levinas untersucht. Danach geht es um Kants Anfang und dessen Stellung bei Levinas. Nach einem Rückblick auf diese Anknüpfungen wird zum Schluß der Levinassche Anfang in der phänomenologischen Begründung der Ethik als Weg zur Gottesfrage verfolgt.
2. Heideggers Anfang mit der Fundamentalontologie und dessen Kritik durch Levinas
Der Abbruch der Ausarbeitung von Sein und Zeit hatte auch äußere Gründe.40 Seltsam bleibt, daß Heidegger sich erst spät entschlossen hat, den Hinweis zu tilgen, daß die Publikation von Sein und Zeit nur den ›ersten Teil‹ enthält (und diesen nicht einmal vollständig), obwohl der fragmentarische Charakter im ›Aufriß der Abhandlung‹ klar hervortritt.41 Im zweiten Paragraphen, der die ›formale Struktur der Frage nach dem Sein‹ zum Thema hat, heißt es: »Jedes Fragen ist ein Suchen. Jedes Suchen hat seine vorgängige Direktion aus dem Gesuchten.«42 Falls das letztlich Gesuchte auch für Heidegger notwendig mit Gott zusammenhinge, erschiene seine Philosophie insgesamt in anderem Licht. In der Struktur jeder Frage unterscheidet er das ›Gefragte‹, das ›Befragte‹ und das ›Erfragte‹.43 Wenn das ›Gefragte‹ das jeweils faktisch Untersuchte wäre (nämlich das Inder-Welt-sein des Daseins, so wie es »zunächst und zumeist und immer schon ist«: ›foris‹), könnte danach als ›Befragtes‹ das ›Dasein‹ neu in den Blick rücken, nämlich als das Seiende mit Seinsverständnis, das ist und die Aufgabe hat, ganz und eigentlich es selbst zu sein (›intus‹). Das ›Erfragte‹ könnte schließlich »das eigentlich Intendierte« sein, das auf die ›transzendenzhafte Differenz‹ verweist, die implizit schon »im Gefragten« intendiert war und sich dennoch zugleich auf Gott als den bezieht, der nach Augustinus ›interior intimo meo‹ ist.44 Da Hei...