Was die deutschen Universitäten von den amerikanischen lernen können und was sie vermeiden sollten
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Was die deutschen Universitäten von den amerikanischen lernen können und was sie vermeiden sollten

  1. 296 Seiten
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Was die deutschen Universitäten von den amerikanischen lernen können und was sie vermeiden sollten

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Über dieses Buch

In diesem engagierten und kenntnisreichen Buch wendet sich der Autor gegen die falsche Übertragung isolierter Elemente der US-amerikanischen Universitätsstruktur auf das deutsche Modell und plädiert stattdessen für eine ganzheitliche Sicht der anstehenden Probleme und Aufgaben. Er macht eine Fülle von Vorschlägen, wie mit der verfahrenen Situation an den deutschen Hochschulen nach Bologna umgegangen werden sollte, und zeigt, wie die unbestreitbaren Stärken der deutschen Universität zu neuer Entfaltung gebracht werden können.Nur Wenige würden bestreiten, dass sich die deutschen Universitäten in einer Krise befinden, und zwar nicht erst seit den missglückten Bologna-Reformen. Von Jaspers' Grundsatzschrift zur »Idee der Universität« über Peter Szondis Plädoyer für eine ›freie‹, nämlich selbstbestimmte Universität bis zu Reinhard Brandts »Wozu noch Universitäten?« haben engagierte Denker ihr Unbehagen über den Zustand der deutschen Universität artikuliert.Ausdruck der gegenwärtigen Krise ist nicht zuletzt die Uneinigkeit darüber, wo die Probleme überhaupt liegen und wo Lösungen zu suchen wären. Dabei richtet sich der Blick immer öfter auf das vorgeblich überlegene »amerikanische Modell«. US-amerikanische Universitäten schneiden in internationalen Rankings im Vergleich mit den deutschen in der Tat deutlich besser ab – aber kaum ein Reformer kennt die vielfältige Hochschullandschaft der USA wirklich aus der Innensicht.Der Autor, der beide Systeme aus langjähriger Erfahrung überblickt, setzt sich in seiner spannend zu lesenden Studie zunächst mit der Idee und dem Aufstieg der deutschen Universität seit dem frühen 19. Jahrhundert auseinander, bevor er die Stärken und Schwächen des amerikanischen Hochschulsystems untersucht: Die Vielfalt privater und öffentlicher Universitäten, administrative Flexibilität, Wettbewerbsstrukturen und Leistungsanreize, vor allem jedoch die konsequente Ausrichtung auf die Bedürfnisse der Studierenden kennzeichnen den amerikanischen Erfolg.In Deutschland ist das Vertrauen in die Besonderheit und Leistungsfähigkeit des deutschen Systems auf dem Tiefpunkt, und das ist schade: Jede weitere Reform sollte zum Ziel haben, die traditionellen Vorteile und Stärken der deutschen Universität zu stützen. Gleichzeitig kann Deutschland von den Erfahrungen in anderen Ländern profitieren. Bologna wird sich nicht zurückdrehen lassen, aber es gibt auch in der gegenwärtigen Situation gangbare Wege, die deutsche Universitätsidee zu erneuern und in der Praxis voranzubringen.

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Information

Verlag
Meiner, F
Jahr
2014
ISBN
9783787330324

I. Idee und Wirklichkeit der Universität

1. Die historische Größe der deutschen Universität

Von den Anfängen bis zur Versandung

Institutionen der höheren Bildung reichen zwar bis weit in die Antike und das frühe Mittelalter zurück – man denke an die platonische Akademie und die Klöster des Christentums –, die ersten Universitäten entstanden in Europa jedoch erst zwischen dem 12. und 13. Jahrhundert. Damals wuchs die Nachfrage nach Gelehrten, welche es verstanden, die Überlieferung der heidnischen Antike, die in zunehmendem Maß durch zeitgenössische Übersetzungen der hellenistischen Philosophie und Wissenschaft Verbreitung fand, mit der christlichen Offenbarung zu verschmelzen. Ferner ergab sich eine Nachfrage nach Fachleuten mit akademischer Berufsausbildung, speziell nach Juristen. Unter den ältesten Universitäten, denen in Italien und Frankreich, spezialisierte sich Bologna auf die Rechtswissenschaft, und Paris, schnell die angesehenste Universität überhaupt, spezialisierte sich auf Theologie, zusammen mit Logik und Naturphilosophie. Ohne eigene Gebäude oder Bibliotheken (Bücher wurden von den Studenten üblicherweise gegen Geld ausgeliehen), waren die ältesten Universitäten im Wesentlichen eine aus den Studenten und ihren Lehrern zusammengesetzte Körperschaft – universitas magistrorum et scholarium –, ein Gebilde, das sich spontan entwickelte. Eine solche häufig sehr überschaubare Körperschaft war flexibel genug, auch umzuziehen. Das geschah z. B. 1409, als Professoren und Studenten Prag verließen und eine Universität in Leipzig gründeten.
Im Lauf der Zeit nahm das Wort ›Universität‹ mehr und mehr die Bedeutung an, das curriculare Ganze zu bezeichnen: universitas studiorum. Der Lehrkörper gliederte sich in die facultas artium (was wir in den USA heute arts and sciences nennen und in Deutschland noch im 19. Jahrhundert die philosophische Fakultät hieß) sowie die medizinische, die theologische und die juristische Fakultät. Unterrichtet wurde auf Lateinisch. Studiert wurden zunächst die freien Künste: Die drei Elementarkünste, das trivium, nämlich Grammatik, Rhetorik und Dialektik, konzentrierten sich auf den Erwerb sprachlicher Fertigkeiten, für die Fortgeschrittenen schloss sich das quadrivium an, nämlich Geometrie, Arithmetik, Musik und Astronomie. Nach Abschluss ihres Studiums der freien Künste konnten die Studenten mit Medizin, Jurisprudenz oder Theologie weitermachen. In der Frühzeit war Wissensvermittlung, nicht Forschung, der universitäre Hauptzweck, auch wenn die beste Universität, Paris, berühmte Gelehrte berief, etwa Albertus Magnus, Thomas von Aquin und Bonaventura. Das ganze Mittelalter hindurch, bis in die frühe Neuzeit, war allen der stark konfessionelle Charakter der Universität gegenwärtig; die Theologie galt als die führende Disziplin.
Wie andere Institutionen mit solch einer langen Geschichte erlebte auch die Universität ihre Höhen und Tiefen. Das lag sowohl an wirtschaftlichen, sozialen und intellektuellen Konjunkturen als auch an nationalen und konfessionellen Faktoren und an den Konstellationen herausragender Persönlichkeiten. Humanismus und Reformation führten zur Gründung zahlreicher neuer Universitäten, Wittenberg z. B. und Königsberg, doch schwächten Reformation und Gegenreformation zugleich den Universalismus der Universitätskultur und führten an etlichen britischen und deutschen Universitäten zu konfessionellen Säuberungen.
Die ersten Universitäten im deutschsprachigen Gebiet, Prag, Wien und Heidelberg, waren Gründungen des 14. Jahrhunderts (Heidelberg ausdrücklich nach dem Pariser Vorbild). Da das Lateinische in ganz Europa die Verkehrssprache an den Universitäten war, war es jedoch nicht so wichtig wie später, als die Nationalsprachlichkeit sich durchsetzte, wo die Institutionen sich befanden, dennoch verdient es Beachtung, dass Universitäten in vielen europäischen Ländern, einschließlich Portugal, Polen und Ungarn, gegründet wurden, bevor das Deutschland in den Grenzen von heute in Heidelberg seine erste Universität erhielt. Der Unterricht auf Deutsch ist erfolgreich durch Christian Thomasius gegen Ende des 17. Jahrhunderts eingeführt worden. Um ihr jeweiliges Territorium zu fördern, ergriffen viele Fürsten und Städte die Initiative zur Gründung weiterer Universitäten. Mehr als ein halbes Dutzend, wie Würzburg, Leipzig und Tübingen, wurden im Lauf des 15. Jahrhunderts gegründet. Gegen Ende des Jahrhunderts waren Wien, Köln und Leipzig die größten Universitäten im Reichsgebiet. An diesen drei studierte mehr als die Hälfte der deutschen Studenten (Eulenburg 54–55). Vom 16. bis zum 18. Jahrhundert hatten die meisten Universitäten nur ein paar hundert Studenten. Noch in den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts hatten mehr als ein halbes Dutzend deutscher Universitäten weniger als hundert Studenten.
Im 18. Jahrhundert machten Universitäten ganz allgemein, in Deutschland und auch sonst, keinen guten Eindruck. In der Regel hielt man die Universität für unfruchtbar, ihr Wissen galt als erstarrt, und von den Professoren dachte man, sie vermittelten den Studenten nichts anderes als dieses erstarrte Wissen. Die meisten Universitäten hatten den Studenten kaum mehr als erweiterten Schulunterricht zu bieten, wobei der Schwerpunkt auf den alten Sprachen und der Interpretation klassischer Texte lag. Sich in den Klassikern auszukennen, galt als intellektueller Befähigungsnachweis, und die Werke der Klassiker galten als wissenschaftliche Quellen. Doch um scharfsinniges Denken zu prüfen, gab es andere, scheinbar praktischere Mittel. Die Fortschritte in Astronomie und Physik ließen viele klassische Texte als überholt erscheinen. Die Unzufriedenheit mit dem fehlenden Praxisbezug und der fehlenden Einbeziehung der modernen Wissenschaft führte dazu, dass, häufig durch Autodidakten, die Forschung nach außen verlagert wurde, wobei es auch zur Gründung unabhängiger Einrichtungen der beruflichen Ausbildung kam, etwa für Ingenieure. Es wurde behauptet, jenes praktische, nützliche Wissen, nach dem so große Nachfrage bestand, lasse sich anderswo besser erwerben. Es verwundert denn auch nicht, dass die meisten bedeutenden Köpfe des 17. und 18. Jahrhunderts – man denke an Bacon, Hobbes, Descartes, Spinoza, Locke, Leibniz, Voltaire und Rousseau – außerhalb der Universitäten tätig waren.
Abgesehen davon, dass sie nur wenige Studenten hatten, waren die Universitäten auch finanziell schlecht ausgestattet. Ihrer schlechten Reputation halfen die studentischen Duelle und Tumulte gewiss nicht ab. Außerdem sah man in den Universitäten die Bewahrer alter Zöpfe. So kam es, dass 1793, im Zuge der Französischen Revolution, die französischen Universitäten abgeschafft wurden. Stattdessen schuf Frankreich eigene Fachhochschulen, die für die Berufsausbildung von Ärzten, Ingenieuren, Juristen und Lehrern bestimmt waren. Erst 1896 wurde die Bezeichnung ›Universität‹ für mehrere Fakultäten unter einem Dach wieder eingeführt, und erst 1968 verschmolz Frankreich seine Fakultäten zu einer einzigen und nahm den Grundsatz der Einheit von Forschung und Lehre an (Ben-David, Centers 16 und 107). Die französischen Universitäten waren den staatlichen Behörden ganz und gar unterstellt, Prüfungen wurden von Beamten ausgerichtet und überwacht. Damals sah man in der Staatskontrolle die Befreiung von dem früheren Einfluss und der Kontrolle durch Kirche und Adel.
Trotz der Unfruchtbarkeit der Universität während des 18. Jahrhunderts kam es in manchen Gegenden Europas zu interessanten Entwicklungen. Ein Beispiel dafür war Schottland, ein wichtiges Zentrum der Aufklärungsphilosophie und -wissenschaft, dessen Wirkung auf das US-amerikanische College beträchtlich war. Die schottischen Universitäten bezogen moderne Gegenstände ein, einschließlich der Naturwissenschaft, doch aus verschiedenen Gründen erwies sich dieser Schwung als nicht nachhaltig genug (Sloan).

Die deutsche Umgestaltung der Universität

Auch Deutschland war eine Ausnahme. Deutschland entwickelte ein Modell, das nicht allein an Boden gewann, sondern die Idee der Universität revolutionierte, und zwar über Europa hinaus. In den vierziger Jahren des 18. Jahrhunderts erfreute sich Halle, ein Zentrum sowohl der Aufklärung als auch des Pietismus, des vermutlich besten Rufs aller deutschen Universitäten. Göttingen und Jena, mit 874 bzw. 561 Studenten, galten als groß, doch Halle war die größte deutsche Universität, mit 1.076 Studenten (Ellwein 332). Göttingen führte neue Fächer ein, z. B. Geschichte und Philologie, und verlegte sich stark sowohl auf Mathematik und Naturwissenschaft als auch auf die Rechtswissenschaft. Dafür wurde es berühmt. Göttingen stand nach 1750 an der Spitze (Turner 504). Auch Jena erlangte große Ausstrahlungskraft dank seiner Philosophie und Ästhetik, einer Kombination von Koryphäen und jüngeren Intellektuellen (Fichte, Schiller, Schelling, Hegel, den Gebrüdern Schlegel und Goethe im benachbarten Weimar).
Halle und Jena wurden während der napoleonischen Besatzungszeit geschlossen, doch ihre revolutionären Fortschritte trugen Früchte in der Gründung der Berliner Universität 1810, der es in vielen Fällen glückte, die besten Professoren zu berufen. Unter den ersten waren Fichte, Schleiermacher, Hegel und Schelling. Göttingen, Halle, Jena und Berlin waren die Geburtsstätten der modernen Universität. Die deutschen Universitäten steigerten nicht nur ihre Qualität, sie gestalteten die Idee der Universität um. Man könnte mit Emphase sagen, dass die Universität auf christlichem Boden entstand, die moderne Universität aber auf deutschem Boden.
Die quer durch Deutschland unternommenen Reformen unterschieden sich von denen in Frankreich. Statt die verschiedenen Fakultäten zum Zweck der Berufsausbildung auseinanderfallen zu lassen, war man in Berlin von Idealismus und Romantik beseelt, vom Vorrang der Wahrheit gegenüber anwendungsorientiertem Wissen, wie Kant ihn im Streit der Fakultäten verfochten hatte, und nicht zuletzt von der Suche nach Totalität. Es ging um die Einheit des Wissens über alle Disziplingrenzen hinweg und um den intrinsischen Wert der philosophischen Fakultät, die jetzt die Theologie von der Spitze verdrängte. Statt direkt staatlicher Kontrolle zu unterstehen, sicherten sich die deutschen Universitäten Autonomie. Anstatt, wie in Frankreich, die Universität und die Idee der Universität zu schwächen, stärkten auf diese Weise die deutschen Reformen die Universität in Theorie und Praxis. In Frankreich wurde das neue Curriculum von Fachhochschulen getragen. In Deutschland hingegen waren neue wissenschaftliche Ansätze und das Ideal der Forschung die Triebkräfte. Links des Rheins und rechts des Rheins spiegelte sich in der Hochschulreform die französische Abschaffung alter Privilegien. In Deutschland richtete sich das persönliche Ansehen nicht nach Herkommen und sozialem Stand, sondern bei den Professoren nach ihren wissenschaftlichen Leistungen und bei den Studenten nach ihren Prüfungsleistungen. Beide Gruppen wurden durch neue Freiheiten in ihrer Stellung gestärkt.
Sehr bald wurden die in Göttingen, Halle, Jena und Berlin zu beobachtenden Fortschritte für alle deutschsprachigen Universitäten vorbildlich. Das waren, wie gesagt, winzige Universitäten, verglichen mit dem, was wir heute kennen. 1830 hatte Bonn zum Beispiel 53 Professoren und 865 Studenten, Tübingen 37 Professoren und 823 Studenten, Kiel 27 Professoren und 311 Studenten (Ellwein 334). Doch gerade die beschränkte Größe erleichterte die Erneuerung.
An der deutschen Forschungsuniversität des 19. Jahrhunderts herrschte nicht länger der Geist der Wissensübermittlung; entscheidende Triebkraft war nun die Entdeckung neuer Wahrheiten. Die Verbindung von Forschung und Lehre, eine völlig neue Errungenschaft der deutschen Universität, wurde das Vorbild für die Universität der Zukunft. Schon 1749 schrieb die preußische Regierung vor, dass, wer Professor werden wollte, publiziert haben musste (Clark 259–260). Daraus wurde die Habilitation als die den deutschen Gelehrten ausweisende Qualifikation. In Deutschland hatte man die Vorstellung, dass die Professoren nicht das, was andere entdeckt oder gedacht hatten, lehrbuchmäßig aufbereiten, sondern selber wissenschaftlich als Vorbild wirken sollten, indem sie den Studenten zeigten, wie man das vorhandene Wissen erweitert. So sagte Schleiermacher: »Der Lehrer muß alles, was er sagt, vor den Zuhörern entstehen lassen; er muß nicht erzählen, was er weiß, sondern sein eignes Erkennen, die That selbst, reproduciren, damit sie beständig nicht etwa nur Kenntnisse sammlen, sondern die Thätigkeit der Vernunft im Hervorbringen der Erkenntniß unmittelbar anschauen und anschauend nachbilden.« (62–63)
Auch wenn sie mit den deutschen Denkern darin übereinstimmten, dass Bildung und Wissen Selbstzwecke seien, hielt Kardinal Newmans berühmte Schrift Idea of a University von 1852 noch immer an der Vorstellung fest, dass die Universität vorrangig mit der Lehre befasst sein müsse. An den deutschen Universitäten hingegen vereinigten sich Lehrer und Forscher in ein und derselben Person. Es wurde für wichtig gehalten, dass Studenten mit großen Gelehrten persönlich in Berührung kommen. Das vordringliche Erziehungsziel sei, Studenten an die Forschung heranzuführen und ihnen dabei zu helfen, selbständig zu werden. Für Fichte war »die Bildung des Vermögens zum Lernen« wichtiger als die erlangte Gelehrsamkeit selbst (131). Prüfungen und Hausarbeiten, behauptete Fichte, hätten nicht den Unterricht wiederzukäuen, sondern Zeugnis von der geistigen Eigenaktivität des Studenten abzulegen, von der Fähigkeit, das Gelernte sich anzueignen und auf den verschiedensten Gebieten weiterzuentwickeln (130–34).
Obwohl sie finanziell auf den Staat angewiesen waren, behaupteten die deutschen Universitäten in der Forschung und im Curriculum ihre Autonomie. Akademische Freiheit wurde ein beherrschendes Prinzip. Das schloss auch Autonomie unter dem Aspekt ein, dass zum einen der Staat sich nicht darin einzumischen habe, wie die Universität sich intern organisiert, und zum andern die Freiheit von der Kirche. Die akademische Freiheit schloss ferner die Autonomie jedes Einzelnen als Forscher und Lehrer ein. Anstatt sich der Tradition fügen zu müssen, sei er frei, in der Wahrheitssuche alle Positionen in Betracht zu ziehen. Indem er aus seiner eigenen Forschungstätigkeit heraus lehrte, würden die Studenten sich auch mit größerer Wahrscheinlichkeit von der Lehre begeistern lassen.
Die Seminarform, durch welche die Studenten als Lernende zum Zuge kamen, ursprünglich eingeführt in der Philologie, dann in der Geschichte, wurde ein Merkmal der deutschen Universität. Von Göttingen ist sie ausgegangen, schon in den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts, um dann binnen ein, zwei Generationen im deutschen Hochschulunterricht eine zentrale Stellung einzunehmen. Fichte verteidigte das Seminar aus philosophischen Gründen als eine Ergänzung zu den Vorlesungen und zum rein aufnehmenden Lernen (13–34).
Unter dem Einfluss Alexander von Humboldts, des Bruders des Berliner Universitätsgründers Wilhelm von Humboldt, kamen neue Forschungszweige hinzu. Angeregt von der idealistischen Philosophie verteidigte die Universität im philosophischen, nicht theologischen Sinn die Idee einer Einheitswissenschaft. Anreize gab es nicht nur für die Forschung, sondern auch für die Lehre. Noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verschafften größere Hörerzahlen auch ein höheres Einkommen. Während zu Anfang des 19. Jahrhunderts die Geisteswissenschaften erheblich ausgebaut wurden, führte in der zweiten Jahrhunderthälfte die Errichtung moderner Forschungseinrichtungen, etwa von Laboratorien, auf breiter Basis zur Entwicklung der Naturwissenschaften. Weltberühmt war das chemische Labor von Justus Liebig in Gießen, das ab 1826 über Jahrzehnte bestand. Hier überflügelte Deutschland seine Nachbarn Frankreich und England, die immer noch im Stückwerk, in behelfsmäßigen Laboratorien und in der Tätigkeit von Amateuren, den wissenschaftlichen Fortschritt vorantrieben. Deutschland hingegen hatte großartige Laboratorien zu bieten mit Heerscharen qualifizierten wissenschaftlichen Nachwuchses. Leuchten der Wissenschaft, wie Liebig und der große Mathematiker Carl Friedrich Gauss in Göttingen, förderten die Reputation der deutschen Universität. Diese Entwicklung hielt über mehrere Generationen an. Im frühen 20. Jahrhundert forschten und lehrten in Berlin zwei der größten Physiker aller Zeiten, Max Planck und Albert Einstein.
In den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts war das deutsche Modell ausgereift, und es war allem überlegen. Übernommen wurde es nicht nur in den anderen deutschsprachigen Ländern, sondern auch in Teilen Nord-, Süd- und Osteuropas, so etwa von Skandinavien, Griechenland und Russland (Clark 28–29). Bis Ende des 19. Jahrhunderts war Deutschland das Modell für England und die Vereinigten Staaten geworden. Dort veranlasste es Änderungen in den überkommenen Strukturen. Schließlich geriet auch Frankreich unter deutschen Einfluss. Sogar Japan, trotz seines, wie in Frankreich, ausgeprägten Zentralismus, entschied sich für das deutsche, nicht das französische System. Aus der ganzen Welt strömten die Studenten nach Deutschland, wo neue Methoden in der Altphilologie, der vergleichenden Literaturwissenschaft, der Bibelkritik, der Geschichte und den Naturwissenschaften entwickelt wurden, um dort bei Meistern ihres Faches zu studieren. Von der ersten Blüte der deutschen Universitäten bis zum Zweiten Weltkrieg zog es etwa zehntausend amerikanische Studenten nach Deutschland (Thwing 40). Das fin de siècle bildete hier den Höhepunkt. 1895/96 waren 517 Amerikaner an deutschen Universitäten eingeschrieben (Veysey 130). »Dass Deutschland der Alleininhaber der Wissenschaft sei«, schrieb Bliss Perry, »darüber gab es für uns junge Leute der achtziger Jahre ebenso wenig einen Zweifel, wie es einen solchen für George Ticknor und Edward Everett gegeben hatte, als sie 1814 von Boston nach Göttingen aufgebrochen waren« (88–89). Der deutsche Begriff der ›Wissenschaft‹ hatte für Amerikaner jener Zeit einen nahezu magischen Zauber. James Morgan Hart erinnerte sich seiner deutschen Studienjahre: »Unter ›Wissenschaft‹ verstehen die Deutschen das Wissen im höchsten Sinn des Wortes, nämlich die leidenschaftliche, methodische, unabhängige Wahrheitssuche in jeder nur möglichen Gestalt, aber unter völliger Absehung von jeder Nutzanwendung« (250). In einer Disziplin nach der andern setzten Deutsche die Maßstäbe, in der Geschichte beispielsweise durch Leopold von Ranke und Theodor Mommsen, in der Altphilologie durch Ulrich von Wilamowitz, in der Soziologie durch Max Weber und Georg Simmel.
Fünf Prinzipien bilden die wesentlichen Merkmale der Idee der Universität. Zwei davon, die fächerübergreifende Einheit des Wissens und das Wissen als Selbstzweck, sind aus der langen Glanzzeit der deutschen Universitäten gestärkt und neu hervorgegangen. Die drei anderen, nämlich die Einheit von Forschung und Lehre, die akademische Freiheit und das Bildungsideal, sind geradezu deutsche Erfindungen.
Wie sie die mittelalterliche, theologisch bestimmte Idee der Einheit von Sein und Wissen beerbt hat und wie dies aufgenommen und weitergeführt worden ist – erstens im enzyklopädischen Ansatz des deutschen Idealismus, zweitens in der heute zunehmend anerkannten Forderung nach Interdisziplinarität –, ist die Universität durch die Integration der Disziplinen und die Suche nicht nur nach Fachwissen, sondern nach den Beziehungen zwischen den verschiedenen Wissenszweigen bestimmt. Eben das spornt zur Suche nach immer einfacheren und zugleich umfassenderen Theorien an, und das ist auch der Grund, warum die verschiedenen Fächer – Mathematik, Naturwissenschaften, Sozialwissenschaften, Philosophie, dazu Architektur, Betriebswirtschaftslehre, Ingenieurwissenschaften, Rechtswissenschaft und Medizin – sich institutionell unter einem Dach befinden. Insofern unterscheidet sich die Universität von solchen Einrichtungen, die sich auf einzelne Fächer konzentrieren, auf die Künste etwa, Erziehungswissenschaft, Managerausbildung oder Technik, also von der während der Aufstiegsphase der deutschen Universität in Frankreich üblichen Praxis – einer Praxis, die in den Entwicklungsländern und in privatwirtschaftlich organisierten Lehrinstitutionen inzwischen zunehmend üblich ist. Die Einheit weicht hier isolierten Anwendungen. Hingegen macht die Durchlässigkeit der Fachgrenzen und die Suche nach Einheit, wie schwierig sie sich auch gestalten mag, nach wie vor die Idee und das Ideal der Universität aus.
Wie schon die Griechen und die frühen Christen die Kontemplation zum Wert erhoben haben, so anerkennt die Universität, dass das wissenschaftliche Studium intrinsischen Wert hat und Erkenntnis ihren Sinn und Zweck in sich selbst trägt. Die Universität fördert daher die Grundlagenforschung, ohne nach einer Nutzanwendung zu fragen. Allen voran förderte die deutsche Universität die reine Forschung und rückte die philosophische Fakultät systematisch ins Zentrum. Diese Umwertung kehrte die aus dem Mittelalter überkommene Rangordnung der Fakultäten um. Infolge der deutschen Revolution des höheren Bildungswesens erschien die Anwendung, verglichen mit der reinen Wahrheitssuche und der Fähigkeit der Lehrenden und Lernenden, die Wahrheit zu entdecken, zweitrangig.
Natürlich fügte die heutige Universität der Einsicht in den intrinsischen Wert des Wissens und der Forschung auch die Einsicht in ihren sozialen Nutzen hinzu. Er umfasst im Wesentlichen zwei Momente: die Ausbildung einer vielfältig einsetzbaren Bevölkerungsgruppe, die zur sozialen Mobilität und zu einer gebildeten Bürgerschaft beiträgt, und die Anwendung von Wissenschaft und Technik, um die Gesellschaft in ihren zivilisatorischen Lebensbedingungen voranzubringen. Die Studenten erfahren nicht nur den intrinsischen Wert des Studiums und die Wissenschaft als Selbstzweck, sie entwickeln auch Fertigkeiten, die es ihnen erlauben, eine ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Über den Autor
  3. Titel
  4. Impressum
  5. Inhalt
  6. Vorwort
  7. KAPITEL 1: Idee und Wirklichkeit der Universität
  8. KAPITEL 2: Die Hauptmerkmale des amerikanischen Universitätswesens
  9. KAPITEL 3: Herausforderungen und Chancen des Wandels in Deutschland
  10. Fußnoten
  11. Zitierte Literatur
  12. Danksagungen