Kritischer Kommentar zu Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798)
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Kritischer Kommentar zu Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798)

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Kritischer Kommentar zu Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798)

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Über dieses Buch

Die Vorlesung zur Anthropologie oder Menschenkunden, die Kant jeweils im Wintersemester 1772/73 bis 1795/96 hielt, sollte den Studenten zur Orientierung in ihren künftigen Welterfahrungen außerhalb der Universität dienen. Sie ist außerhalb seines eigenen philosophischen Systems angesiedelt und nicht als Philosophie geführt worden.Trotzdem gibt es sowohl in den Vorlesungsnachschriften als auch in dem 1798 von Kant herausgegebenen Buch Anthropologie in pragmatischer Hinsicht vielfache Beziehungen zur eigenen Philosophie Kants; in dieser wird jedoch nie eindeutig auf die pragmatische Anthropologie Bezug genommen noch kommen in dieser letzteren die Begriffe »Imperativ«, »kategorisch«, »transzendentalphilosophisch« vor. Der Kommentar sucht das spannungsreiche Verhältnis der erhaltenen Kantischen Handschrift zum gedruckten Buch zu klären; es werden die werk-immanenten Verknüpfungen herausgearbeitet, Verbindungen zu anderen Kantischen Schriften angezeigt und Quellen und thematische Parallelentwicklungen in der europäischen Literatur erörtert.

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Information

EINLEITUNG

1. Die Idee des Werks

Die Anthropologie in pragmatischer Hinsicht hat zu keiner Auseinandersetzung zwischen Anhängern und Gegnern geführt, und es gibt bis heute keine namhafte Studie, die dem Buch von 1798 gewidmet ist.1 Das Werk provoziert keine Stellungnahme; es ist ein Sachbuch, das informieren will, es bringt keine Theorie, die sich militant gegen andere Theorien oder gar die Metaphysik wendet, wie es andere Anthropologien taten. Friedrich Schleiermachers ablehnende Rezension2 hat keine gleichrangigen Verteidiger auf den Plan gerufen, sondern allenfalls die Interesselosigkeit des Publikums verstärkt. Zwar wurde das Werk mit 2000 Exemplaren in erster Auflage gedruckt und übertraf mit dieser Auflagenstärke alle früheren Werke Kants;3 bereits 1 800 erschien zur Ostermesse eine zweite Auflage, aber es gab keine öffentliche Auseinandersetzung um die Schrift und ihre Thesen, die Spuren hinterlassen hätte.4
Anders als die Kantische Anthropologie verfolgte David Humes Treatise of Human Nature – also ausweislich des Titels ebenfalls eine Anthropologie -das empiristische Programm der Destruktion der spekulativen oder rationalistischen Philosophie und ihre Ersetzung durch die »science of man«. Die auf Erfahrung und Beobachtung gegründete Wissenschaft vom Menschen liefere »the only solid foundation of the other sciences«, wie es in der Einleitung heißt. Unter dem Einfluß Humes schrieb Herder: »Philosophie wird auf Anthropologie zurückgezogen.«5 Später wird die Anthropologie Ludwig Feuerbachs dieses Programm aufnehmen. Die Grundsätze der Philosophie der Zukunft (1843) verkünden erneut die Reduktion der Philosophie auf Anthropologie: »Die neue Philosophie macht den Menschen mit Einschluss der Natur, als der Basis des Menschen, zum alleinigen, universalen und höchsten Gegenstand der Philosophie – die Anthropologie also, mit Einschluss der Physiologie, zur Universalwissenschaft.«6 Kants empirischer Anthropologie dagegen fehlt jede empiristische Zielsetzung. Die Anthropologie wird als »pragmatisch« bezeichnet; später wird der Pragmatismus in Fortsetzung des anthropologischen Empirismus ebenfalls den Versuch unternehmen, apriorisch argumentierende Theorien durch Evidenzen des Alltags auszuhebeln. An diesen -ismen nimmt die Kantische pragmatische Anthropologie nicht teil; sie verzichtet sogar konsequent, wenn unsere Überlieferung nicht trügt, auf die Eingliederung in die Philosophie – von seiner pragmatischen Anthropologie scheint Kant nicht als einer philosophischen Disziplin gesprochen zu haben. Die pragmatische Anthropologie ist eine Enzyklopädie der Kantischen Philosophie auf empirischer Ebene; sie ist nicht in das (wechselnd konzipierte) System der Transzendentalphilosophie oder kritischen Philosophie integriert, sondern stellt sich neben die eigentliche Philosophie und erörtert doch deren Probleme in der Dimension, die einer Disziplin im Empirischen – bei vielfältigen Anleihen und Brücken zur reinen Philosophie – möglich ist. Was sie lehrt, ist im Prinzip von empirischer Allgemeinheit; die universellen, auch apriorischen Strukturen und Vorgaben begründet sie nicht, sondern entleiht sie stillschweigend den korrespondierenden philosophischen Disziplinen, bedacht, keine Konflikte entstehen zu lassen. Dieses irenische Unternehmen hat keine Auseinandersetzungen und sich profilierende Kontraste in der Interpretation entzündet.
Welches ist die leitende, einheitsstiftende Idee des Werks? »Anthropologie« kündigt eine theoretische Untersuchung des Menschen an; »in pragmatischer Hinsicht« dagegen eine Einschränkung auf die Befassung nur mit den praktischen Aspekten, und die »Vorrede« fügt drittens eine moralische Pointe hinzu: Das Buch hat zum Thema, was der Mensch »als freihandelndes Wesen aus sich selber macht, oder machen kann und soll.« (119,13–14)
Die Anthropologie bestimmt (in Teil 1) und charakterisiert (in Teil 2) den Menschen, aber wodurch ist sie selbst im ganzen bestimmt und charakterisiert? Welches ist ihre durchgängige Leitidee?
Doch vorweg eine Klärung des Wortes »Idee«. Kant selbst spricht von der »Idee im Ganzen« seiner KrV (B XLIV), und er kann sich dabei auf die Vernunftidee beziehen, der das System der Kritik seine Einheit verdankt: »Ich verstehe aber unter einem Systeme die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee.« (A 832) Vernunftideen leiten den Verstandesgebrauch, der sich durch die apriori notwendigen, weil der Vernunft zugehörigen Ideen erst als einheitlicher konstitutiert (A 327 ff.). Nun bilden die pragmatische Anthropologie und das Buch, in dem sie ihre Darstellung findet, kein System unter einer Vernunftidee; sie ist nur eine systematisch abgefaßte empirische Wissenschaft (119,9; 120,27 und 121,29). Wenn wir trotzdem versuchen, die »Idee« des Werkes zu skizzieren, dann mit einem weiter gefaßten Ideenbegriff, wie er in der Neuzeit vielfältig für eben diesen Zweck mit der »Idea operis«, »Idea dell’ Opera« verwendet wurde. Während die »Idee im Ganzen« der KrV doch wohl bedeuten müßte, daß derjenige, der sich ihrer bemächtigt, das Werk ohne die Kenntnis der Schrift selbst für sich hervorbringen könnte, können und müssen wir im Fall der Anthropologie nur die Hauptgesichtspunkte kennen, die zur Orientierung bei der Lektüre dienen. Wenn es in der Vorlesungsankündigung des Sommersemesters 1775 heißt: »Die physische Geographie, die ich hierdurch ankündige, gehört zu einer Idee, welche ich mir von einem nützlichen akademischen Unterricht mache [...]« (II 443,12–13), und wenn zu dieser Idee auch die im Wintersemester folgende Anthropologie-Vorlesung gezählt wird, dann wird hier der Ideenbegriff nicht im Sinn eines apriorischen Vernunftbegriffs, sondern unterminologisch gebraucht. Keine der beiden Disziplinen hat eine Vernunftidee zur Grundlage, und keine bildet entsprechend im strengeren Sinn ein System, das als Ganzes seine Teile bestimmt.
Es ist sicher nicht möglich, das eine gemeinsame Thema der pragmatischen Anthropologie aus der Artikulation des Stoffes in zwei Teile mit den Titeln »Didaktik« und »Charakteristik« zu gewinnen, und auch die beiden Untertitel geben für diesen Zweck nichts her: »Von der Art, das Innere sowohl als das Äußere des Menschen zu erkennen« und »Von der Art, das Innere des Menschen aus dem Äußeren zu erkennen«.7 Eine bessere Anweisung gibt der schon angesprochene Satz der »Vorrede«, die pragmatische Menschenkenntnis gehe auf das, »was er [der Mensch] als freihandelndes Wesen aus sich selber macht, oder machen kann und soll.« (119,13–14) Interpretieren wir diesen Leitsatz mit einiger Freiheit, so stoßen wir auf drei Themenbereiche. Einmal wird vom faktischen Tun (und dessen psychologischer Motivation) gehandelt, sodann von der Klugheit des Handeln-Könnens, und drittens folgt eine Sphäre des Sollens. Diesen dreifachen Aspekt menschlichen Handelns finden wir tatsächlich in der Anthropologie. Sie bietet einmal eine Phänomenologie menschlichen Agierens und Reagierens im Hinblick auf die psychologischen Motive. In dieser Ebene ist sie Erbe der »psychologia empirica« Christian Wolffs und Alexander Baumgartens, angereichert mit vielfältigem neuen Material, eingebettet in eine immer schon teleologisch konzipierte Natur des Menschen. Sie stellt zweitens diese Psychologie und Phänomenologie unter ein neues Ziel; die Informationen sollen einer Handlungswissenschaft dienen, sie sollen pragmatisch verwertbar sein, d.h. dem Menschen eine Orientierung im praktisch-klugen Umgang mit anderen Menschen, aber auch mit sich selbst liefern. Daher der Titel: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Tatsächlich enthält der Titel jedoch eine Unterbestimmung des Inhalts des Buches, denn die Schrift kulminiert in der Untersuchung der Bestimmung der menschlichen Gattung. Die Gattung im ganzen ist kein menschliches Subjekt, das mir in meinem pragmatischen Handeln in der Welt begegnen könnte; es gehört jedoch zum moralischen Selbstverständnis des Menschen, sich in Harmonie mit der Vernunft-Bestimmung der menschlichen Gattung zu wissen. Daher führt die »Summe der pragmatischen Anthropologie in Ansehung der Bestimmung des Menschen« (324,33–34) auf den das rein Pragmatische transzendierenden Zielpunkt des Handelnden, »sich der Menschheit würdig zu machen.« (325,4)
Wir haben, so zeigt sich, drei Ebenen der Untersuchung vor uns. Die erste macht uns mit Phänomenen und möglichst auch deren Erklärung in einer empirischen Psychologie vertraut, die zweite restringiert diese (für sich beliebigen) Phänomene und ihre psychologische Motivation auf die Vielfalt des menschlichen Handelns im Hinblick auf einen klugen Gebrauch anderer Menschen (und unserer selbst), und die dritte fügt diesen Befund in eine für die Moral relevante Natur- und Vernunftbestimmung der menschlichen Gattung.
Einige Hinweise zu den drei Bereichen der Kantischen Anthropologie. Die empirische Psychologie als eigentümliche Interessensphäre des akademischen Unterrichts gewinnt spätestens 1765–1766 Konturen, greifbar für uns durch die »Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen« (II 303–313). Kant fängt, so das Programm, die Metaphysikvorlesung »nach einer kleinen Einleitung von der empirischen Psychologie an, welche eigentlich die metaphysische Erfahrungswissenschaft vom Menschen ist; denn was den Ausdruck der Seele betrifft, so ist es in dieser Abtheilung noch nicht erlaubt zu behaupten, daß er eine habe.« (II 309,1–5) Kant übernimmt diese Konzeption der empirischen Psychologie 1772–1773 mit der durch die Dissertation erzwungenen Korrektur, daß eine »metaphysische Erfahrungswissenschaft« ein hölzernes Eisen ist und folglich empirische Psychologie nicht in die Metaphysik als einer reinen, dezidiert nicht-empirischen Vernunftlehre gehören kann, sondern eine selbständige theoretische Sachdisziplin ist. Sie steht als besonders einfach, weil metaphysikfrei, am Anfang des Studiums.
Die Transformation dieses ersten Programms zu einer nicht mehr theoretischen, sondern praktischen oder pragmatischen Disziplin findet vermutlich um 1773 statt;8 sie ermöglicht es, den Weltbegriff in den Vordergrund zu stellen. Zusammen mit der »Physischen Geographie« hat die Vorlesung jetzt, ab Mitte der siebziger Jahre, die Aufgabe, die Brücke von der Schule bzw. Universität zur Welt zu stiften. So steht es prononciert im Vorlesungsprogramm vom Sommer 1775. Die akademische »Vorübung in der Kenntniß der Welt« diene dazu, »allen sonst erworbenen Wissenschaften und Geschicklichkeiten das Pragmatische zu verschaffen, dadurch sie nicht bloß für die Schule, sondern auch für das Leben brauchbar werden, und wodurch der fertig gewordene Lehrling auf den Schauplatz seiner Bestimmung, nämlich in die Welt, eingeführt wird. Hier liegt ein zwiefaches Feld vor ihm, wovon er einen vorläufigen Abriß nöthig hat, um alle künftige Erfahrungen darin nach Regeln ordnen zu können: nämlich die Natur und der Mensch. Beide Stücke aber müssen darin kosmologisch erwogen werden, nämlich nicht nach demjenigen, was ihre Gegenstände im Einzelnen Merkwürdiges enthalten (Physik und empirische Seelenlehre), sondern was ihr Verhältniß im Ganzen, worin sie stehen und darin ein jeder selbst seine Stellung einnimmt, uns anzumerken giebt.« (II 443,14–25) Von der bloß empirischen Psychologie sagt Kant jetzt, nach der Änderung der Vorlesung von einer theoretischen zu einer pragmatischen Disziplin, sowohl in einem Brief an Marcus Herz vom Herbst 1773 (X 145,34–36) wie auch in der publizierten Anthropologie von 1798 (VII 119,14–22), daß sie gewissermaßen wehrlos ist gegenüber einer Nachfrage nach dem physiologischen Substrat psychologischer Phänomene und Prozesse; so gerät z.B. die empirische Untersuchung des Gedächtnisses in die Lage, das Gehirn in die Forschung einzubeziehen; diese Nachforschung jedoch, so Kants Überzeugung, führt faktisch zu keinem Ergebnis. Die pragmatische Wende rettet die empirische Untersuchung vor diesem Überschritt, da die Erforschung der Korrelation von Geist und Körper keinen Beitrag zum weltklugen Verhalten liefern kann, man sich also aus diesem Grund nicht auf sie einzulassen braucht. Dies ist ein Gewinn, den die neue Konzeption der Anthropologie verbuchen kann. Daneben vermag sie jetzt, die Aufzählung psychologischer Fakten und auch Kuriositäten unter ein Ziel zu stellen, die Ermöglichung klugen Handelns der künftigen Weltbürger.
Das Buch endet mit der Untersuchung des Charakters und der Bestimmung der menschlichen Gattung insgesamt. Wie verhält sich dieser Schluß und vielleicht auch Zielpunkt der Anthropologie zu dem, was die Menschen faktisch tun und was sie unter dem Gesichtspunkt der Klugheit tun können, also der Anthropologie als einer pragmatischen Disziplin? Es lassen sich drei Gesichtspunkte angeben, die vom nur pragmatischen Können zum Sollen und von den vielen Menschen zur Menschheit führen. Einmal kann man von der allgemeinen Erwägung des immer nur distributiven klugen Handelns zur Frage gelangen, in welchem Totum dieses Handeln eigentlich zu verstehen ist. Betrachtet man die menschlichen Motive und das menschliche Tun und Lassen pragmatisch, also im Hinblick auf das, was man aus sich selbst machen und wozu man andere Menschen gebrauchen kann, so gewinnt man keine letzte Einheit aller menschlichen Zwecke. Die Frage, worauf das Handeln der Menschen in der Welt insgesamt hinausläuft, wird von der bloßen Klugheitslehre nicht beantwortet. Die Untersuchung des komplexen individuellen Handelns gelangt unter der Leitung der Vernunft und ihrer Suche nach einer abschließenden Einheit zum Ganzen, in dem sich das verstreute menschliche Handeln vollzieht. Dieses Ganze ist das Geschick der Menschheit überhaupt. Die Vernunft leitet zweitens zugleich als praktische von den pragmatischen Möglichkeiten zu einem Sollen der Menschheit im ganzen. Ich denke, daß das in der »Vorrede« angeführte »soll« (119,14) am besten geschichtsphilosophisch und somit vom Ende der Schrift her zu verstehen ist. Die Menschheit im ganzen ist dazu bestimmt, einen Friedenszustand zwischen Republiken zu errichten – dies ist das »Soll«, in dem alle vereint sind. Damit ist nicht geleugnet, daß der Mensch in der pragmatischen Anthropologie auch als moralisches Individuum angesprochen wird und etwa die Frage der Charakterbildung mit ihrem »soll« unabhängig vom Gattungsgeschick erörtert wird. Aber dabei ist das »soll« zugleich in der Weise vermittelt, daß uns pragmatisch interessiert, ob ein Mensch einen stabilen oder gar moralischen Charakter hat oder nicht. Dies zu wissen, gehört in die Domäne der Klugheit. Die finale Bestimmung der Gattung im ganzen überschreitet dagegen die Dimension der bloßen Klugheit. Von der Bestimmung der Gattung im ganzen erhellt nun zugleich drittens, wie die Übel und die Sinnlosigkeiten, auf die wir im einzelnen stoßen, im ganzen doch als vernünftig zu verstehen sind. Der Blick aufs Ganze versöhnt uns mit dem Befund in der pragmatischen Ebene, daß der Mensch erstens (Titel: Erkenntnisvermögen) seine Gedanken verheimlicht und andere täuscht und belügt, daß zweitens (Titel: Gefühl der Lust und Unlust) der Schmerz die Grundtönung der gefühlten Existenz ist und daß drittens (Titel: Begehrungsvermögen) die Laster zu triumphieren scheinen. Im Erkennen, Fühlen und Begehren ist das menschliche Leben im einzelnen, so scheint es, sinnlos oder gar infernalisch. Nur der Blick auf die Bestimmung der Menschheit kann uns mit dem versöhnen, was uns der pragmatische Umgang mit uns und unseresgleichen alltäglich lehrt. Wir erkennen jetzt, daß die Natur diese drei Sphären menschlicher Übel als Mittel benutzt und benötigt, das große Ziel der Menschheit im ganzen herbeizuführen. Der Zweck dieser Übel des menschlichen Lebens, so das Ergebnis der teleologischen Reflexion, ist die Hervorbringung des Guten. Im Vorplan der Natur ist der Mensch dazu bestimmt, sich selbst zu bestimmen, technisch und pragmatisch in der Entwicklung seiner natürlichen Fähigkeiten und moralisch in der Erringung der Autonomie. Diese Sinn-und Sollens-Ebene wird ermöglicht durch eine deistisch überhöhte Natur, die die Welt nach Zwecken lenkt und die sich im Einklang mit der reinen praktischen Vernunft weiß. Der von der Stoa entlehnte Begriff der Natur-Vorsehung wird dabei ohne explizit kritische Restriktion und Rücksicht gebraucht. Die vernünftige, moralisch-zweckhafte Natur will, daß die Menschheit ihre natürlichen Anlagen und ihre Moralität selbst entwickelt, und sie zwingt sie mit mechanischen Mitteln zu diesem ihrem Zweck. Die Verblendung und die Verstellung, der Schmerz und drittens das Böse sind gut, weil sie die Menschheit insgesamt zur Zivilisierung, Kultivierung und zum rechtlich-moralischen Fortschritt zwingen. Jede Gegenwart ist erfüllt von einem physischen und moralischen Übel, die als Stachel zur Erzeugung eines besseren Zustandes wirken. Gemäß diesem Konzept neigt Kant auf anderem Gebiet z.B. dazu, als den Entstehungsort der kritischen Philosophie die Verblendung der reinen Vernunft anzusehen und der Natur dafür zu danken: »[...] so daß die Antinomie der reinen Vernunft, die in ihrer Dialektik offenbar wird, in der That die wohltätigste Verirrung ist, in die die menschliche Vernunft je hat gerathen können, indem sie uns zuletzt antreibt, den Schlüssel zu suchen, aus diesem Labyrinthe herauszukommen, [...].« (V 107,25–29) Die Entdeckung der Wahrheit verdankt sich der Verblendung. Zweitens verhindert der Schmerz das tatenlose Verweilen im angenehmen Lebensgefühl; und drittens treibt das Böse uns zur Verwirklichung der Autonomie. Aus der Verirrung, dem Schmerz und dem Bösen, mit denen wir im pragmatischen Vorantreiben des Lebens geschlagen sind, erzeugt somit die vorsorgliche Natur eine bessere Zukunft.
Die Rechtfertigung der »negativen« Anthropologie dient nicht einer theoretischen Theodizee, sondern hat wiederum einen immanenten praktischen Sinn. Erweist sich der Gang der menschlichen Gattung im ganzen als gerichtet auf eine zunehmende Versittlichung, dann brauchen wir nicht zu verzweifeln und können nicht gegen die Erfüllung unserer moralischen Aufgabe die Effektlosigkeit aller moralischen Anstrengung anführen. Die Aufopferung unseres Lebensglücks zugunsten der Moralität hat ihren Sinn in der Bestimmung der Menschheit im ganzen. Hier nun liegt die Gefahr, daß die Natur den einzelnen Menschen zum bloßen Mittel ihres universalistischen Planes macht. Hatte Kant nicht selbst in der »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht« geschrieben: »Befremdend bleibt es immer hiebei: daß die älteren Generationen nur scheinen um der späteren willen ihr mühseliges Geschäfte zu treiben, um nämlich diesen eine Stufe zu bereiten, von der diese das Bauwerk, welches die Natur zur Absicht hat, höher bringen könnten; und daß doch nur die spätesten das Glück haben sollten, in dem Gebäude zu wohnen, woran eine lange Reihe ihrer Vorfahren (zwar freilich ohne ihre Absicht) gearbeitet hatten, ohne doch...

Inhaltsverzeichnis

  1. Inhaltsverzeichnis
  2. 1. Die Idee des Werks
  3. 2. Die Entstehung des Buches
  4. 3. Die Gliederung der Schrift
  5. 4. Der Wissenschaftscharakter der pragmatischen Anthropologie
  6. 5. Aufgaben und Grenzen des vorliegenden Kritischen Kommentars
  7. 6. Zur Benutzung des Kommentars
  8. 7. Dank
  9. KOMMENTAR
  10. LITERATURVERZEICHNIS
  11. Impressum