Erkenntnis / Erkenntnistheorie
1 Zu den Begriffen.
1.1 âșErkenntnisâč.
Der Begriff âșErkenntnisâč (E.) â franz. connaissance; engl. cognition, knowledge â bezeichnet sowohl den Prozess (âșErkennenâč) als auch das Resultat des Prozesses, das â im Unterschied zu Meinung/Glaube â in Wissen als gerechtfertigter wahrer Ăberzeugung bestehen soll. »Mit dem Wort âșerkennenâč bezeichnen wir diejenige intentionale, auf eine zu erfassende Sachlage gerichtete TĂ€tigkeit, die zum Resultat hat, was wir intersubjektiv verfĂŒgbares, objektiv gĂŒltiges Wissen = Erkenntnis nennen.«1
Der E.begriff ist mit einem weiten semantischen Feld vernetzt, zu dem u. a. âșBewusstseinâč, âșEinstellungâč, âșDenkenâč, âșGeistâč, âșGewissheitâč, âșIntentionalitĂ€tâč, âșIntuitionâč, âșErfahrungâč, âșEvidenzâč, âșDenkenâč, âșKognitionâč, âșepistemische Rechtfertigungâč, âșEvidenzâč, âșProposition/Aussage/Satzâč, âșReprĂ€sentationâč, âșSachverhaltâč, âșSubjektâč, âșSubjektivitĂ€tâč, âșĂberzeugungâč, âșUrteilâč, âșWahrheitâč, âșWahrnehmungâč, âșWissenâč und âșWissenskulturâč gehören (zur Geschichte, die hier zu âșE.âč nur exemplarisch an wichtigen Knotenpunkten dargestellt werden kann, und zum VerstĂ€ndnis des E.problems sind die entsprechenden Artikel heranzuziehen).
WĂ€ren, wie âșmetaphysischeâč Realisten/Materialisten/Naturalisten behaupten, Sein und Bewusstsein, Objekt und Subjekt, Welt-an-sich und Welt-fĂŒr-uns, identisch, wĂ€re E. durch das Sein/Seiende determiniert (Determinismus) und gĂ€be es im Erkennen eine âșdirekte Bezugnahmeâč (Referenz) auf âșdie Dingeâč, dann gĂ€be es philosophische Probleme wie das der IntentionalitĂ€t oder der Rechtfertigung nicht. Vom realistischen Alltagsverstand und common sense wird âșE.âč spontan so verstanden, als wĂŒrden âșobjektiveâč Formen der RealitĂ€t (EntitĂ€ten, Sachverhalte, Ereignisse) in âșsubjektiveâč Formen des Bewusstseins transformiert. Das E.problem besteht aber gerade darin, dass das Erkennen in der phĂ€nomenalen Wirklichkeit des Wissens Vorstellungen in Sachverhalte ĂŒbersetzt (Ăbersetzung): In der E. werden E.gegenstĂ€nde zu âșRealobjektenâč. E. ist nicht ReprĂ€sentation von RealitĂ€t im E.subjekt, sondern (Re-)PrĂ€sentation von Wirklichkeit durch das E.subjekt. E. kopiert nicht und besteht nicht in Abbildern, sondern sie konstituiert Welten. Dies bedeutet nicht, E. âșschaffeâč die âșAuĂenweltâč, sondern sie verleiht den in ihrem âșAn-sich-Seinâč nicht erkennbaren EntitĂ€ten âșfĂŒr unsâč Bedeutung in Zeichen und Symbolen, v. a. in der Sprache. In der E. wird Etwas als Etwas reprĂ€sentiert.
Analytisch können bei der E.tĂ€tigkeit Operationen unterschieden werden, die nicht nacheinander in der Zeit â als Stufenfolge â, sondern gleichzeitig vollzogen werden und Wahrnehmung, Erfahrung, Konstruktion, Interpretation und Wissen miteinander verbinden: die Hervorhebung (Identifikation) eines zu erkennenden Objekts aus der Mannigfaltigkeit der Sinnesdaten durch das Unterscheiden von und Vergleichen zwischen E.objekten; die Zergliederung des E.gegenstandes in Teile und die Re-Komposition zum Ganzen; das Abstrahieren (Abstraktion) von unwesentlichen Objektmerkmalen und das Synthetisieren als wesentlich angesehener Eigenschaften; die Zuordnung einzelner E.gegenstĂ€nde zu Objektklassen; die interpretierende Zuschreibung von Bedeutung und die Zeichen- und Namengebung. Jede Operation ist mit allen anderen vernetzt. Sinnlichkeit und rationale Verarbeitung bilden in jedem Moment des Prozesses der E. eine Einheit. Was als erkannt gilt, ist auf seine ZweckmĂ€Ăigkeit fĂŒr die Welt-Orientierung und die Praxis geprĂŒft und bewertet â im Rahmen von wissenskulturellen Instanzen, von kumulierter Erfahrung, von Empirie und Experiment, von Vorwissen bzw. Vor-Urteilen sowie von Ăberzeugungen. Den Resultaten der auf Einzelnes/Besonderes bezogenen Wahrnehmung und Erfahrung wird ihr Ort in ĂŒbergreifenden epistemischen und praktischen ZusammenhĂ€ngen zugewiesen. Welten, Weltversionen, Interpretationswelten, Paradigmata und Wissenskulturen bilden Landkarten, auf denen diese Orte angezeigt werden.
Mit besonderen Orten, mit spezifischen E.dispositionen, mit Fragen nach der Bedeutung von Geschlechtszugehörigkeit und GeschlechterverhĂ€ltnissen (Philosophie und Geschlechter) fĂŒr die E. beschĂ€ftigen sich feministische E.theorien.2 Gesellschaftliche Bedingungen und Dimensionen der E. stehen im Zentrum des Interesses der âșSocial Epistemologyâč.3
Mit dem E.begriff sind einige wesentliche, bereits auf der Ebene des Alltagsbewusstseins wahrgenommene, von der Philosophie seit ihren AnfĂ€ngen thematisierte und bis heute kontrovers verhandelte Probleme verbunden: Referiert E., direkt/vermittelt? ReprĂ€sentiert E., wie reprĂ€sentiert sie etwas von einer AuĂenwelt, das von epistemischer bzw. kognitiver AktivitĂ€t abhĂ€ngig/unabhĂ€ngig ist? Welche Bedingungen mĂŒssen erfĂŒllt sein, damit E. wahre bzw. richtige (Re-)PrĂ€sentationen sind, und wie können wahre bzw. richtige von falschen bzw. unrichtigen E. unterschieden werden? FĂŒhrt E., wie fĂŒhrt E. zu Wissen als gerechtfertigter wahrer Ăberzeugung? Wie ist, wenn Erkennen individuell und subjektiv ist, IntersubjektivitĂ€t möglich? Wie ist, wenn E. kultur-kontextuell ist, TranskulturalitĂ€t möglich? »Was heiĂt Wissen? Wissen wir ĂŒberhaupt etwas? Und â wenn ja, was können wir wissen? Wer (oder was) ist es, der (oder das) etwas weiĂ, wenn ĂŒberhaupt etwas gewusst wird? Woher stammt unsere E. und wie lĂ€sst sie sich rechtfertigen?«4
Bezogen auf solche Fragen erörtern bestimmte realistische E.theorien (Realismus) das âșProblem der AuĂenweltâč. Nicht nur R. Carnap zufolge handelt es sich um ein Scheinproblem. Niemand zweifelt ernsthaft an der Existenz der AuĂenwelt. Das Problem ist anders zu stellen: »An external world, as philosophers have used the term, is not some distant planet external to earth. Nor is the external world, strictly speaking, a world. Rather, the external world consists of those objects and events which exist external to perceivers.«5
Da es sich bei den Formen, Wegen, Verfahren und Ergebnissen von E. nicht um von den verĂ€nderlichen Lebensweisen der Menschen unabhĂ€ngige Konstanten/Invarianten handelt, begegnen in der Geschichte unterschiedliche/gegensĂ€tzliche â mythische, religiöse, Ă€sthetische, philosophische, wissenschaftliche â Reflexionen auf die E.probleme. Die PluralitĂ€t auch der in der Philosophie entstandenen E.begriffe und ProblemlösungsansĂ€tze ist Ausdruck und Form der Geschichtlichkeit der E.6
1.2 âșErkenntnistheorieâč
Die zentralen Fragen der philosophischen Erkenntnistheorie (ETh.) â franz. thĂ©orie de la connaissance, Ă©pistĂ©mologie; engl. theory of knowledge, epistemology â lauten: »(a) Was ist das Ziel unserer E.bemĂŒhungen? (b) Wie lĂ€sst sich dieses Ziel erreichen? (c) Anhand welcher Kriterien können wir entscheiden, ob wir das Ziel erreicht haben? [âŠ] (d) In welchen Bereichen können wir dieses Ziel erreichen?«7
Der Geschichtlichkeit der E. entsprechend fallen die eth. Antworten je nach den Weltbildern und Evidenzen einer Zeit, nach Theorierahmen und je nach praktischen Interessen, in deren Horizont sie gegeben werden, unterschiedlich aus. E.begriffe der ETh.n sind kultur-, theorie- und handlungskontextuell (Kontextualismus). Zu eth. E.begriffen gehören ontologische Seins- und epistemologische Wirklichkeitsbegriffe: Ob âșE.âč als auf eine âșobjektiveâč RealitĂ€t referierend und sie abbildend oder als âșsubjektiveâč Vorstellung einer im Bewusstsein konstituierten phĂ€nomenalen Wirklichkeit bestimmt wird, hĂ€ngt wesentlich von den ontologischen (Ontologie), epistemologischen und methodologischen (Methode/Methodologie) Voraussetzungen als Rahmen der Definitionen von âșE.âč ab. Solche Theorierahmen stellen z. B. Idealismus und Materialismus, Rationalismus und Empirismus, Realismus, Monismus/Dualismus und Pluralismus dar. Probleme, die im Horizont der Weltbilder bzw. Rahmentheorien behandelt werden, sind u. a. die Beziehungen zwischen Psychischem und Physischem (Körper und Geist8, Leib-Seele-Problem), Sinnlichkeit und RationalitĂ€t, Wahrnehmung, Beobachtung, Erfahrung und Interpretation (Bedeutungszuschreibung), Meinung, Alltagswissen und Vorurteil. Immer geht es letztlich um epistemische Rechtfertigung9 und um die Frage nach Möglichkeiten und Grenzen von Gewissheit.10
âșDieâč ETh. gibt es nicht; welche Art von Antworten zu erwarten ist, hĂ€ngt vom jeweiligen Typus und von voraussetzungsvollen Strategien ab. Zu den wichtigsten Voraussetzungen zĂ€hlen ontologische RealitĂ€tskonzeptionen. Realismus besteht in einem weiten Sinne in einer »fundamentalen ontologischen Intuition«, deren einfachste Version besagt, es gebe Dinge auĂer mir selbst. Dieser Minimal-Realismus schliesst die nicht weniger fundamentale epistemologische Intuition ein, die Dinge auĂer mir, zumindest teilweise, aufgrund eines direkten kognitiven Bezugs zu ihnen auch erkennen zu können. Diejenigen, welche diese Intuitionen als unangemessen in Zweifel ziehen, werden von Verteidigern eines starken Realismus oft als Anti-Realisten bezeichnet â eine Karikatur, denn die Skeptiker behaupten keinen ontologischen Anti-Realismus im Sinne der Leugnung der Existenz der AuĂenwelt. Was sie geltend machen, ist etwas anderes: Unsere E.se beziehen sich (referieren) nicht direkt und nicht kausal verursacht auf die RealitĂ€t; sie entstehen vielmehr als Bewusstseinsleistungen in Kontexten, in denen jeweils interpretiert wird, was wirklich ist und wie es wirklich ist. Die vermeintlichen Anti-Realisten bevorzugen schwach-realistische Epistemologien und verweigern sich dem Mythos des Gegebenen. In systematischer Hinsicht unterscheiden sich ontologische Begr...