Falsches moralisches Bewusstsein
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Falsches moralisches Bewusstsein

Eine Kritik der Idee der Menschenwürde

  1. 437 Seiten
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Falsches moralisches Bewusstsein

Eine Kritik der Idee der Menschenwürde

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

Dieses Buch entwickelt eine systematische Kritik der Idee und der Ethik der Menschenwürde, argumentiert für einen Menschenwürde-Skeptizismus und für die liberationistische Auffassung, dass wir unser Denken von der Idee der Menschenwürde und dem damit zusammenhängenden Anthropozentrismus in der Moral befreien sollten. Die Befreiung von der Idee der Menschenwürde wird dabei als ein aufklärerisches Projekt zur Überwindung falschen moralischen Bewusstseins verstanden, das mit der Idee der Menschenwürde seine eigene Kritikfähigkeit untergraben hat.

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Information

II. Aufklärung und falsches moralisches Bewusstsein

IN TEIL I HABE ICH in der Hauptsache für die skeptische These argumentiert, dass der Begriff der Menschenwürde inkohärent ist. Diese These impliziert, dass der Menschenwürde-Diskurs ein leerer Diskurs ohne Gegenstand ist. Dieser Verdacht lastet schon des Längeren auf diesem Diskurs, und insofern ist die im letzten Teil entwickelte Argumentation eine philosophische Bestätigung des meistenteils unartikulierten Gefühls, dass der Menschenwürde-Diskurs ein bloßes Sprachspiel, wenn auch ein Sprachspiel ist, das sich die Aura eines fortschrittlichen ethischen Bewusstseins zu geben weiß, das alte inegalitäre Irrtümer ein für alle Mal überwunden hat. Obwohl die Erklärung der Leerheit hier anders aussieht als bei Begriffen von mythischen Gestalten oder bei leeren Begriffen von natürlichen Arten, scheint die Leerheit des Begriffs der Menschenwürde das entscheidende Ergebnis der Kritik zu sein. So verstanden, würde sich die Kritik des Menschenwürde-Diskurses einreihen in die Kritik, sagen wir, der Phlogiston-Theorie oder des Geisterglaubens. Bei diesen lautet die skeptische Botschaft, dass der Phlogiston-Theoretiker und der an Geister Glaubende ontologischen Irrtümern unterliegen, da sie die Welt mit Entitäten ausstatten, die es gar nicht gibt. Wäre das die adäquate Sicht der Dinge, wäre das Projekt der Kritik der Idee der Menschenwürde jetzt abgeschlossen. Aber das ist nicht so.
Es wäre ein Fehler zu glauben, dass sich die Kritik des Menschenwürde-Diskurses in der Attribuierung eines ontologischen Irrtums oder überhaupt nur in der Attribuierung irgendwelcher Irrtümer erschöpft. In diesem Diskurs manifestieren sich nämlich intellektuelle Anomalien, die nicht einfach auf einen ontologischen Irrtum oder darauf zurückgeführt werden können, dass die Idee der Menschenwürde leer ist. Diese Anomalien haben nicht mit der Leerheit, sondern mit dem spezifischen ethischen Gehalt dieser Idee zu tun. Die Kritik der Idee der Menschenwürde muss daher auch die Untersuchung der Auswirkung dieser Idee auf unser moralisches Denken umfassen.
Dieser Aspekt der Kritik steht nun im Zentrum von Teil II. Der Fluchtpunkt der folgenden Untersuchungen ist dabei die These, dass die Idee der Menschenwürde eine Quelle falschen Bewusstseins ist. Die intellektuellen Anomalien des Menschenwürde-Diskurses lassen sich dann, wie ich im letzten Kapitel von Teil II zu zeigen versuche, als Manifestationen falschen Bewusstseins verstehen. Das zu zeigen, ist die Aufgabe einer spezifischen Art der philosophischen Kritik, die ich als aufklärerische Analyse bezeichne. Es handelt sich dabei um eine Methode der Aufklärung, d. h. um eine Methode, die im Dienst eines Projekts der Aufklärung steht. Die Grundlagen für das Verständnis dieser besonderen Art von Kritik werden vor allem im zweiten Kapitel entwickelt, in dem ich, ausgehend von einer Kritik an Kants populärer Konzeption der Aufklärung, eine Konzeption entwerfe, die den charakteristischen epistemischen Sinn der Aufklärung hervorhebt und unter anderem deutlich macht, dass Aufklärung keine besonderen weltanschaulichen Voraussetzungen hat, durch die sie selbst zum Gegenstand einer aufklärerischen Kritik werden könnte.

1.Kants Theorie der Aufklärung

Trotz aller Trivialisierungen der Rede von Aufklärung in außerphilosophischen Kontexten ist Aufklärung etwas, worüber eine philosophische Theorie zu haben sich lohnt. Wir können nach dem Ziel, den Adressaten, den Methoden und den Objekten der Aufklärung fragen. Wir können untersuchen, welchen Wert die Aufklärung hat und welchen Werten die Aufklärung verpflichtet ist. Wir können uns fragen, welche Konzeption der Aufklärung überzeugend ist, und wir sind in der Lage, zwischen Aufklärung und aufklärerischem Selbstverständnis zu unterscheiden. Nicht jede Beantwortung der Frage: »Was ist Aufklärung?" ist gleich gut; und nicht jede Beantwortung liefert überhaupt eine genuine Antwort auf diese Frage. Daher können Aufklärungskritiker falsch liegen, weil sie sich auf Meinungen über die Aufklärung festlegen, die auf die Aufklärung nicht zutreffen. Selbst wenn ihre Kritik auf Vorhaben zutreffen sollte, die sich den Namen der Aufklärung geben, können wir sinnvoll untersuchen, ob sie treffen, was Aufklärung ihrer besten Konzeption nach ist. So sind die Behauptungen von Adorno und Horkheimer, dass die Aufklärung das Ziel verfolgt, »von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen«, und dass »das Programm der Aufklärung (…) die Entzauberung der Welt [war]«1, problematische Thesen, die nicht denselben Stellenwert haben wie die Aussage, dass die Aufklärung dem Wert der Wahrheit verpflichtet ist. Ebenso scheint auch die Assoziation von Aufklärung mit Szientismus kontingent zu sein und einen ganz anderen Stellenwert zu haben als die Assoziation von Aufklärung mit der Überwindung intellektueller Unfreiheit.
Eine besonders prägende Konzeption der Aufklärung hat Kant in seinem Aufsatz »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?” umrissen. Wenn ich im vorliegenden Kapitel Kants Konzeption der Aufklärung zu rekonstruieren versuche, meine ich damit ausschließlich die Konzeption, die in diesem Aufsatz enthalten ist. Das bedeutet nicht, dass meine Rekonstruktion rein immanent ist und Äußerungen aus anderen Texten Kants unberücksichtigt lässt. Es bedeutet aber, dass der Maßstab der Rekonstruktion die Kohärenz mit der in Kants Aufklärungsschrift enthaltenen Theorie der Aufklärung ist. Obwohl die Slogans von Kants »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?” allzu bekannt sind, gibt es beträchtliche Probleme damit, seine Konzeption der Aufklärung zu identifizieren. Im gegenwärtigen Kapitel konzentriere ich mich auf die Interpretation der für Kants Theorie grundlegenden Kategorien der Unmündigkeit, der Reform der Denkungsart und des selbständigen Verstandesgebrauchs. Im nächsten Kapitel diskutiere ich dann Kants Auffassung über die Natur und den Wert der Aufklärung, versuche zu zeigen, warum sie letztlich unbefriedigend ist, um dann, vor dem Hintergrund dieser Kritik, meine eigene Antwort auf die Frage zu entwickeln, was Aufklärung ist.

1.1Selbst verschuldete Unmündigkeit

Zu den populärsten Stellen des gesamten Werks von Kant gehört sicherlich der Anfang seiner »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?«:
Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Ist also der Wahlspruch der Aufklärung.2
Das Objekt der Aufklärung ist nach Kants Auffassung also ein Zustand der Unmündigkeit. Unmündigkeit kommt in zwei verschiedenen Formen vor – der selbstverschuldeten und der unverschuldeten. Mit unverschuldeter Unmündigkeit ist die Aufklärung, nach Kant, nicht befasst. Sie hat es nur mit der selbstverschuldeten Unmündigkeit zu tun.3
Aber warum sollte das Projekt der Aufklärung sich ausschließlich mit Unmündigkeit befassen, die selbstverschuldet ist? Die Antwort hat damit zu tun, dass der Unterschied zwischen unverschuldeter und selbstverschuldeter Unmündigkeit nach Kants Auffassung nicht nur ein Unterschied in den Ursachen der Unmündigkeit ist. Selbstverschuldete und unverschuldete Unmündigkeit sind vielmehr ganz unterschiedliche Phänomene. Unverschuldete Unmündigkeit liegt vor, wenn die Ursache der Unmündigkeit in einem Mangel des Verstandes liegt. Selbstverschuldet ist Unmündigkeit dann und nur dann, wenn sie das Resultat von Bequemlichkeit oder Mutlosigkeit ist. Im ersten Fall liegt ein Unvermögen oder eine Unfähigkeit im strikten Sinne vor. Unmündigkeit ist unverschuldet, wenn die Ursachen derart sind, dass der Akteur im strikten Sinne unfähig ist, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen.4 Im strikten Sinne unfähig dazu ist er, wenn seine Versuche, den eigenen Verstand ohne Leitung eines anderen zu gebrauchen, zumindest in relevanten Kontexten und bei relevanten Aufgaben systematisch fehlschlagen würden. Im strikten Sinne unfähig, den eigenen Verstand zu gebrauchen, ist also, wer nicht lernen kann, ohne die Leitung eines anderen Verstandes auszukommen. Selbstverschuldete Unmündigkeit ist dagegen kein Unvermögen im strikten Sinne. Wer unmündig in diesem Sinne ist, kann auf jeden Fall lernen, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, und zwar deshalb, weil bei selbstverschuldeter Unmündigkeit kein Mangel des Verstandes vorliegt.
Mit dieser Erläuterung besitzen wir zwar eine gute Erklärung dafür, warum Kant meint, dass sich die Aufklärung nicht mit unverschuldeter Unmündigkeit befasst. Sie stellt uns aber zugleich vor ein neues und systematisch sehr viel bedeutenderes Problem: Ist das, was Kant in der Eingangspassage seiner Aufklärungsschrift als »selbstverschuldete Unmündigkeit« bezeichnet, überhaupt ein genuine Form von Unmündigkeit?
Hier sind Zweifel angebracht. Ist jemand, der sich vom Verstand anderer allein deshalb leiten lässt, weil er zu bequem ist, sich selbst ein Urteil zu bilden, unmündig? Ist jemand, der das Urteil einer anderen Person allein deshalb übernimmt, weil er sich davor scheut, deren Urteil nicht anzunehmen, unmündig? In beiden Fällen scheint die Antwort »Nein« lauten zu müssen. Ob jemand, der zu bequem ist, selbst nachzudenken, unmündig ist, hängt allein davon ab, ob er auch dann, wenn er sich dazu entschließen würde, nicht fähig wäre, sich ohne die Leitung eines anderen Verstandes ein Urteil zu bilden. Gleiches gilt im Falle der Mutlosigkeit. Ob der Mutlose unmündig ist, hängt nur davon ab, ob er auch dann, wenn er den Mut aufbrächte, das Urteil der anderen Person nicht unbesehen anzunehmen, nicht fähig wäre, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Bequemlichkeit und Mutlosigkeit spielen also für die Frage, ob ein Fall von Unmündigkeit vorliegt, gar keine Rolle. Relevant sind allein die kognitiven Fähigkeiten. Und das ist kein Zufall. Denn der Begriff der Unmündigkeit bezieht sich auf einen kognitiven Zustand. Von einer Person zu behaupten, sie sei unmündig, heißt, unter anderem, zu behaupten, dass sie zu einer kritischen Meinungsbildung nicht fähig ist. Von einer Person zu behaupten, sie sei unmündig und (1) fähig, aus den ihr zur Verfügung stehenden Informationen die richtigen Schlüsse zu ziehen, (2) fähig, ihr Urteil auf der Basis neuer Informationen zu korrigieren, (3) fähig, einen Bedarf nach zusätzlicher Information zu erkennen und sich eines Urteils im Falle einer unzureichenden Informationslage zu enthalten, und (4) fähig, den Einfluss wahrheitsfremder Motive auf ihr Urteil zu kontrollieren, ist zweifellos widersprüchlich. Unmündigkeit ist also eine Unfähigkeit zu kritischer Meinungsbildung und hat ihre Grundlage nicht allein in motivationalen, sondern wesentlich auch in kognitiven Defiziten.
Damit steht Kants Theorie, so wie wir sie bisher kennengelernt haben, vor einem beträchtlichen Problem. Das Projekt der Aufklärung, sollte man jedenfalls denken, ist eine Antwort auf eine besondere epistemische Problemsituation. Sie ist insbesondere eine Antwort auf eine epistemische Problemsituation, die ihre Quelle in kognitiven Mängeln hat. Menschen, die zu bequem und nicht mutig genug oder – nach Kants Worten – zu faul und zu feige sind, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen, scheinen jedoch unter einer tadelnswerten charakterlichen Schwäche, nicht aber notwendig unter kognitiven Defiziten zu leiden. Diese Leute können daher nicht zu den Adressaten der Aufklärung gehören. In der Eingangspassage seiner Aufklärungsschrift behauptet Kant zwar, dass solche Leute unmündig seien. Diese Behauptung scheint aber nicht gerechtfertigt zu sein. Der Begriff der Unmündigkeit bezieht sich wesentlich auf einen Mangel an kognitiven Fähigkeiten und nicht auf charakterliche oder intellektuelle Laster. Auch wenn wir den Mangel an Mut und den Mangel an Entschlossenheit, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, als intellektuelle Laster konstruieren, ist das Problem nicht beseitigt. Zum einen deshalb, weil Unmündigkeit selbst kein Laster zu sein scheint, sondern eher bemitleidenswert als tadelnswert ist. Zum anderen deshalb, weil Leute, die in intellektuellen Dingen faul oder feige sind, nicht notwendig unfähig sind, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen.
Nach allem, was wir bisher wissen, sieht es also so aus, als würde Kant als Objekt der Aufklärung bestimmen, was kein Objekt der Aufklärung sein kann. Seine Theorie sagt uns, dass die selbstverschuldete Unmündigkeit das Objekt der Aufklärung ist, und erklärt, dass die Unmündigkeit eines Menschen selbstverschuldet ist, wenn sie nicht auf einem Mangel des Verstandes beruht. Diese Erklär...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Einleitung
  6. Danksagung
  7. I. Menschenwürde-Skeptizismus
  8. II. Aufklärung und falsches moralisches Bewusstsein
  9. III. Die Präsumption für die Aufklärung
  10. IV. Kritik des Konservatismus
  11. Literatur
  12. Personenregister