1Vorbetrachtung
Die Digitalfotografie befindet sich seit nunmehr über einem Jahrzehnt auf einem ungeahnten Höhenflug. Menschen aller Generationen nutzen dieses zeitgemäße Medium und setzen sich mit seinen Herausforderungen und Möglichkeiten auseinander. Die Architekturfotografie mit ihrer spannenden Motivwelt und unerschöpflichen Vielfalt regt viele erfahrene Profis, aber auch reine Amateurfotografen an, in diese Materie einzutauchen. Der Architekturfotograf hat dabei unzählige Möglichkeiten, sich kreativ mit dem Motiv auseinanderzusetzen und es auf verschiedenste Weise wiederzugeben.
Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Dieser Satz trifft im Besonderen auf die Architekturfotografie zu. Kein anderes Medium kann das Aussehen und die Wirkung eines Gebäudes besser transportieren als eine gelungene Architekturaufnahme. Aus diesem Grund ist das vor Ihnen liegende Buch reich bebildert und versucht, dem Leser jedes Thema und jede Erläuterung nicht nur in Textform, sondern durch die enge Verknüpfung mit zahlreichen Abbildungen auch plastisch näherzubringen. Das Buch gibt Antworten auf zahlreiche Fragen aus Theorie und Praxis, zum Beispiel: Welche Ausstattung benötige ich für die Architekturfotografie? Was muss für ein gelungenes Architekturfoto beachtet werden? Warum sieht ein Gebäude auf einem Foto ganz anders aus als in der Realität? Welche Methoden gibt es, die eigenen Bilder zu verbessern? Welchen Einfluss hat die digitale Nachbearbeitung und welche Möglichkeiten eröffnen sich damit?
Der Leser wird rasch feststellen, dass die Architekturfotografie ganz bestimmte Eigenarten besitzt, die sie grundlegend von anderen Formen der Fotografie unterscheiden.
1.1Was bedeutet Architekturfotografie?
Der Begriff »Architekturfotografie« besteht ganz offensichtlich aus den Wörtern »Architektur« (das Motiv) und »Fotografie« (die Abbildungstechnik).
Das Wort »Architektur« wiederum setzt sich aus den griechischen Wörtern »arché« und »techné« zusammen. Diese bedeuten so viel wie »erstes Handwerk« oder »grundlegende Kunst«. Architektur ist in unserem Leben allgegenwärtig. Sie stellt in ihrer Funktion als Behausung schon immer den primären Lebensraum des Menschen dar und bietet diesem vielfältige Schutz- und Nutzfunktionen, ist praktisch seine zweite Haut. »Architektur ist eines der dringendsten Bedürfnisse des Menschen, denn immer ist das Haus das unabkömmlichste und erste Werkzeug gewesen, das er sich schuf« (Le Corbusier). Architektur weist eine große Erscheinungsspannweite auf: von den ersten Schutzhütten des Frühmenschen über verzierte Tempelbauten der Antike oder funktionale Fabriken der industriellen Revolution bis zu modernen Wahrzeichen heutiger Städte aus Glas – all das ist Architektur. Man stelle sich eine Welt ohne Architektur vor. Die Menschheit wäre in der Steinzeit verblieben – kein Ort zum Wohnen, Schlafen, Essen, Arbeiten, Handeln, Produzieren, Zurückziehen, Erholen, Verwalten, Bilden … Ohne Architektur wäre das Leben in vielen Regionen der Welt allein schon aufgrund der klimatischen Verhältnisse nicht möglich.
Das Wort »Fotografie« bzw. »Photographie« setzt sich wiederum aus den altgriechischen Wörtern »phos« und »graphein« zusammen, was so viel bedeutet wie »[mit]Helligkeit/Licht malen/zeichnen«. Es beschreibt also das technische Verfahren, Gegenstände optisch festzuhalten und auch an Orten erlebbar zu machen, an denen sie sonst nicht wahrnehmbar wären. Die Fotografie trägt also das Abbild eines Gebäudes in die Welt hinaus. Der Mensch wird im Alltag in den unterschiedlichsten Situationen mit Fotografien konfrontiert, sei es in Zeitungen, auf Plakaten, im Internet oder als Kunstwerk an der Wand.
1.2Die Geschichte der Architekturfotografie
1.2.1Die Vorgeschichte
Die Geschichte der Architekturfotografie geht bis zu den allerersten Versuchen Anfang des 19. Jahrhunderts zurück, ein flüchtiges Bild auf fotografischem Wege festzuhalten. Doch verwandte Formen der Architekturdarstellung existierten bereits viel früher. Aufgrund der ungemeinen Bedeutung von Architektur für den Menschen ist es nicht weiter verwunderlich, dass Darstellungen von Gebäuden bereits in der Malerei der Antike gezeigt wurden (Abb. 1). Die Gebäude abbildende Malerei stellt ebenso wie die Architekturfotografie dreidimensionale Bauwerke zweidimensional auf einer Fläche dar. Sie ist aber nicht im selben Maße an reale Gebäude gebunden wie die Fotografie. In der Renaissance beispielsweise stellen Künstler wie Michelangelo oder Raffael in ihren Gemälden kühnste architektonische Visionen dar (Abb. 2). Die Barockzeit stellt die Malerei direkt in den Dienst der Architektur. Wand und Deckenfresken bilden Architektur nicht nur ab, sondern ergänzen sie zusätzlich: Malfläche erweitert die Bauwirklichkeit (Abb. 3). Zur gleichen Zeit emanzipiert sich das Architekturbild als eigenes Genre besonders in der holländischen Barockmalerei. Plätze und Bauten werden detailliert und dem Milieu entsprechend wiedergegeben (Abb. 4). Doch auch andere künstlerische Techniken wie der Kupferstich nutzen Architektur als Motiv. Besonders hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang die Kunstwerke von Matthäus Merian mit ihren Städteansichten Europas (Abb. 5). Die im 18. Jahrhundert hauptsächlich in Italien aufkommende Vedute rückt die realistische Abbildung einer Landschaft oder eines Stadtbildes an oberste Stelle. Bernardo Bellotto bedient sich bei seinen berühmten Stadtbildern von u.a. Venedig und Dresden (Abb. 6) eines technischen Hilfsmittels, das auf die Renaissance zurückgeht, bereits in der holländischen Barockmalerei genutzt wurde und als Vorläufer der heutigen Fotokameras gelten kann: der »Camera obscura«. Zu Belottos Zeiten ist sie eine transportable Kiste mit einem optischen System, das auf einer Mattscheibe eine korrekte Nachzeichnung der perspektivischen Linien ermöglicht (Abb. 7). Damit ist sie der Garant malerischer und zeichnerischer Exaktheit und wird im Laufe der Zeit kontinuierlich weiterentwickelt.
Abb. 1: Pompejanische Wandmalerei, 1. Jh. n. Chr.
Abb. 2: Raffael, »Die Schule von Athen«, Stanza della Segnatura, Vatikan, 16. Jh., Fresko
Abb. 3: Cosmas Damian Asam, Deckenfresko in Ettlingen, Spätbarock
Abb. 4: Jan van der Heyden, »Die Kirche von Veere«, 17. Jh., Öl auf Leinwand
Abb. 5: Matthäus Merian, »Lübeck«, 17. Jh., Kupferstich
Abb. 6: Bernardo Belotto, »Ansicht von Dresden«, Mitte 18. Jh., Öl/Tempera auf Leinwand
Abb. 7: Die »Camera obscura«
1.2.2Die Erfindung
Obwohl mit der Camera obscura und der Entdeckung der Eigenschaften lichtempfindlicher Materialien im 18. Jahrhundert eigentlich alles zur Erfindung der Fotografie bereitsteht, dauert es noch bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts, als es Nicéphore Niépce 1827 erstmals gelingt, mit einem Heliografie oder Niepcotypie genannten Verfahren das flüchtige, mit der Camera obscura erhaschte Bild nach stundenlanger Belichtung auf eine lichtempfindliche Asphaltschicht zu bannen (Abb. 8). Diese erste noch erhaltene Fotografie zeigt ein wesentliches Kennzeichen der Architekturaufnahme: die Darstellung von Perspektive. Sie ist gleichzeitig die erste Architekturaufnahme, wenngleich die Motivwahl aus dem Fenster des Arbeitszimmers heraus nicht künstlerisch begründet ist, sondern eher von praktischer Natur: Neben Stillleben bietet sich nämlich gerade die Architektur in ihrer statischen Eigenart als Motiv für die Anfänge der Fotografie an, da die Momentfotografie aufgrund der langen Belichtungszeit noch nicht möglich ist.
Abb. 8: Joseph Nicéphore Niépce, »Blick aus dem Fenster des Arbeitszimmers«, Chalon-sur-Saône, 1827
Etwa zeitgleich mit Niépce experimentieren Louis Jacques Mandé Daguerre und William Henry Fox Talbot mit anderen Verfahren, die deutlich kürzere Belichtungszeiten von nur wenigen Minuten ermöglichen. Berühmt geworden sind Daguerres Straßenaufnahmen (Abb. 9). Die aus seinem Verfahren entstandenen »Daguerrotypien« sind leider Unikate und nicht reproduzierbar. Talbots »Kalotypie« dagegen weist zwar nicht die erstaunliche Detailgenauigkeit der Daguerrotypien auf, hat aber wiederum den entscheidenden Vorteil, durch das Negativ-Positiv-Verfahren reproduzierbar zu sein (Abb. 10).
Abb. 9: Louis Jacques Mandé Daguerre, »Boulevard du Temple in Paris«, 1838
Abb. 10: William Henry Fox Talbot, »Boulevard des Capucines«, Paris...