B. Fälle zur Durchsuchung (§§ 102, 103 StPO)
Fall 5: Fabrikgelände
Am Montag, den 21.10.2019, 01.00 Uhr, erhält die Streife PMin Mayer und PK Schmid den Auftrag, die Spielhalle „treasure“ in der Reutlinger Straße in Tübingen anzufahren. Dort habe sich soeben ein Überfall ereignet.
Vor Ort befinden sich in der Spielhalle der Anrufer Sven Fischer und der Angestellte der Spielhalle, Max Spitzer, am Tresen. Max Spitzer sitzt sehr apathisch und verängstigt auf einem Barhocker, ist aber offensichtlich nicht verletzt. Sven Fischer gibt an, dass er bisher noch nicht weiß, was genau passiert sei.
Weiter erzählt Sven Fischer:
„Als ich mit meinem Beagle zum Neckarufer ging, kam ich an der Spielhalle vorbei. Ich bemerkte, dass zwei etwa 25 – 30 Jahre alte Männer rauchend in der Nähe des Seiteneingangs standen. Ich nahm an, dass sie sich unter dem dortigen Vordach unterstellten, weil es leicht nieselte. Als ich ca. 20 Minuten später auf dem Heimweg wieder an der Spielhalle vorbeikam, hörte ich Hilfeschreie und sah, wie dieselben Männer die Spielhalle eilends durch den Hintereingang verließen. Ich erkannte, dass einer der beiden eine Mütze mit Sehschlitzen trug. Dann sind sie mit einem in der Nähe abgestellten gelben Seat Ibiza mit Hamburger Kennzeichen in Richtung Stadtmitte abgehauen. Ich habe sofort die 110 angerufen und mich dann um den Spielhallenmitarbeiter gekümmert.“
PK Schmid wendet sich nun Max Spitzer zu, der folgendes Tatgeschehen schildert:
„Gegen 01.00 Uhr wollte ich die Spielhalle durch einen Seiteneingang verlassen, als ich von zwei mit schwarzen Sturmhauben maskierten Männern in die Spielhalle zurückgedrängt wurde. Dort richtete einer der beiden Männer, ein großer hagerer, eine schwarze Pistole direkt auf mich und schrie mich mit hartem Akzent an: „Gibst du Geld, sonst tot!“ Ich nahm alle Geldscheine aus der Kasse und steckte sie in einen hellroten Rucksack, den er mir hinhielt. Es waren so um die 1000 € .“
Anschließend gibt Max Spitzer noch eine überraschend detaillierte Personenbeschreibung der beiden geflüchteten Männer ab.
Im Rahmen der Fahndung kann der gesuchte Pkw Seat Ibiza nach ca. 25 Minuten vor der Kneipe „Turmstüble“ festgestellt werden. Die Streife entschließt sich daraufhin, die Gaststätte zu überprüfen.
Während eine hinzugezogene Streife bei den Ein- und Ausgängen bleibt und den Pkw observiert, betreten PMin Mayer und PK Schmid die Gaststätte. Zwei Männer, auf die die Täterbeschreibungen zutreffen, ergreifen beim Erkennen der Streife die Flucht. Es gelingt den Polizeibeamten, den kräftigeren Mann zu ergreifen und vorläufig festzunehmen.
Der große schlanke Mann flüchtet durch einen Küchenausgang und klettert über einen Zaun in ein nebenan gelegenes ehemaliges Fabrikgelände, das vom Eventservice-Manager Timo Kaiser unlängst aufgekauft worden war. PK Schmid entschließt sich mit anwesenden Kräften zum sofortigen Absuchen des Geländes. Den flüchtigen Mann kann PMin Mayer in der leerstehenden Fabrikhalle entdecken und vorläufig festnehmen. Bei ihm werden ein serbischer Reisepass und ein Pkw-Schlüssel für den vor der Gaststätte geparkten Pkw mit Hamburger Kennzeichen gefunden.
Der Reisepass ist ausgestellt auf:
Radan Saric
geb. 25.07.1975/Valjevo/Serbische Republik
Wohnort: Beograd, Gavrila Principa 56
PK Schmid befragt die Männer, die leidlich deutsch können, nach Belehrung zu den Eigentumsverhältnissen bezüglich des Seat Ibiza. Beide schweigen daraufhin beharrlich.
Gegen beide Beschuldigte ergeht noch am gleichen Tag Haftbefehl.
Sie lassen sich nun die Einbehaltung des Pkw und dessen Durchsuchung durch den Bereitschaftsrichter anordnen. Bei der Durchsuchung wird unter dem Beifahrersitz ein dunkelblauer Rucksack mit dem vermutlichen Raubgut (Geldscheine) sowie im Fußraum eine Strickmütze mit Sehschlitzen aufgefunden.
Erläutern und begründen Sie sachverhaltsbezogen, ob die Durchsuchung des Fabrikgeländes rechtmäßig war.
Ein einfacher Anfangsverdacht für eine Straftat (Raub o. Ä.) nach § 152 Abs. 2 StPO liegt vor. (Anfangsverdacht = Vorliegen konkreter Tatsachen, die es möglich erscheinen lassen, dass eine verfolgbare Straftat vorliegt.)
Es bestehen zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für einen Raub durch den Anruf von Sven Fischer bei der Polizei und dessen Sachverhaltsschilderung. Dies konkretisiert sich durch die Angaben von Max Spitzer.
Die Polizeibeamten sind somit verpflichtet, dem Legalitätsprinzip nach § 163 StPO nachzukommen und strafverfolgend tätig zu werden. Alle weiteren Maßnahmen richten sich nach der StPO.
Als Eingriffsermächtigung ist § 103 StPO heranzuziehen.
Diese Bestimmung lässt eine Durchsuchung bei anderen Personen zu, u. a. zur Ergreifung des Beschuldigten auch eine Durchsuchung der Räumlichkeiten und des befriedeten Besitztums des Unverdächtigen. Unverdächtiger ist, wer nicht als Täter oder Teilnehmer in Betracht kommt oder wegen erkennbarer Schuldunfähigkeit nicht verfolgt werden darf.
Durchsuchungsobjekt sind die im Gesetz genannten „Räume“, zu denen auch das befriedete Besitztum und die anderen Räumlichkeiten des Unverdächtigen zählen. Diese sind nicht allgemein zugängliche Räume, da sie durch einen Zaun befriedetes Besitztum darstellen.
Durchsuchungszweck ist hier die „Ergreifung des Beschuldigten“.
„Ergreifen“ ist jedes Festhalten zur Durchführung einer nach der StPO zulässigen Zwangsmaßnahme. Der flüchtige Mann ist Beschuldigter, weil sich der Tatverdacht gegen ihn soweit konkretisiert hat, dass gegen ihn gezielt Strafverfolgungsmaßnahmen getroffen werden.
Seine Ergreifung soll weitere notwendige Maßnahmen der StPO gewährleisten: Identitätsfeststellung, seine Durchsuchung sowie möglicherweise die vorläufige Festnahme.
Nach § 103 Abs. 1 StPO müssen (konkrete) Tatsachen vorliegen, dass sich der Beschuldigte in den Räumen des Unverdächtigen aufhält. Diese Tatsachen liegen vor. Die Beamten haben durch eigene Wahrnehmung die Gewissheit, dass sich der geflüchtete Mann auf dem ehemaligen Fabrikgelände aufhalten muss.
§ 104 Abs. 1 StPO regelt die Durchsuchung u. a. des befriedeten Besitztums zur Nachtzeit.
Diese Bestimmung ist hier zu beachten, da die Durchsuchung zur Nachtzeit (definiert in § 104 Abs. 3 StPO) erfolgt. Eine nächtliche Haussuchung ist nach § 104 Abs. 1 StPO bei Gefahr im Verzug möglich. Diese ist hier anzunehmen: Eine Aufschiebung der Durchsuchung bis zum Tagesbeginn würde deren Erfolg gefährden, nämlich tatzeitnah den Beschuldigten festzunehmen und die Beweismittel für das Strafverfahren zu sichern.
Es bestünde die Gefahr, dass der Beschuldigte in dieser Zeit alle Beweismittel verschwinden lassen oder er selbst unbemerkt vom Areal flüchten könnte.
Ohne sofortiges Eingreifen wäre das Risiko dahingehend sehr groß, dass das Strafverfahren wesentlich erschwert oder gar vereitelt würde.
Ferner ist es möglich, hier die Durchsuchung zur Nachtzeit auf die vorliegende Tatbestandsvoraussetzung „Verfolgung auf frischer Tat“ zu stützen.
Die Ausnahmen des § 104 Abs. 2 StPO liegen im Sachverhalt nicht vor.
Timo Kaiser ist eine „andere Person“. Er kommt als Verdächtiger des Raubs nicht in Betracht. Somit ist er als Unverdächtiger eine „andere Person“ in Abgrenzung zum Verdächtigen.
Die Durchsuchung (gezieltes Suchen nach Personen und Sachen oder Spuren) auf seinem befriedeten Besitztum bzw. in seinen anderen Räumen muss Timo Kaiser erdulden.
Die Durchsuchung beim Unverdächtigen, auch zur Nachtzeit, war auch im engeren Sinne verhältnismäßig. Sie stand im Verhältnis zur Schwere der Tat (schweres Verbrechen) und zur Intensität des Eingriffs in das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung.
Das Grundrecht des Timo Kaiser nach Art. 13 GG wiegt nicht so schwer wie der Strafverfolgungsanspruch des Staates bei diesem schweren Verbrechen, da die Fabrikhalle letzten Endes nicht der „letzte verbliebene Rückzugsraum mit Intimsphäre“ darstellt, wie es bei einer Wohnung der Fall ist. Somit ist der Grundrechtseingriff beim Unverdächtigen begründbar.
Nach § 105 Abs. 1 StPO obliegt die Anordnung einer Raumdurchsuchung dem Richter, bei Gefahr im Verzug der Staatsanwaltschaft und ihren Ermittlungspersonen (Richtervorbehalt).
Gefahr im Verzuge lässt sich hier begründen, da die Herbeiführung einer richterlichen Entscheidung den Untersuchungserfolg vereiteln oder erheblich erschweren würde. Die Festnahme des Beschuldigten würde vermeidbar aufgeschoben und dadurch in Frage gestellt, ebenso die Beschlagnahme der Beweismittel.
Da PK Schmid Ermittlungsperson der Staatsanwaltschaft ist, ist er zur Anordnung der Durchsuchung berechtigt.
Nach § 105 Abs. 2 StPO sind, wenn möglich, ein Gemeindebeamter oder zwei Einwohner der Gemeinde als Zeuge zur Wohnungsdurchsuchung hinzuzuziehen. Dies ist hier nicht möglich, da es sich um keine vorbereitete, sondern um eine spontan aus dem Ermittlungsverlauf heraus erfolgte Durchsuchung handelt. Für die Streife ist es nicht möglich, auf der „Hausschwelle“ noch Zeugen aufzutreiben.
Diese wesentliche Formvorschrift wurde nach pflichtgemäßem Ermessen geprüft mit dem Ergebnis der Unmöglichkeit einer Zeugenhinzuziehung.
§ 106 Abs. 2 StPO gestattet dem Wohnungsinhaber die Anwesenheit während der Wohnungsdurchsuchung. Dieses Recht konnte Timo Kaiser aus tatsächlichen Gründen nicht wahrnehmen. Wegen Gefahr im Verzug konnte auch nicht gewartet werden, bis er zum Fabrikareal kommt. Auch war es gerade nicht möglich (vgl. Wortlaut § 106 Abs. 2 Satz 2 StPO), einen erwachsenen Vertreter beizuziehen.
Die Durchsuchung der anderen Räume bei Timo Kaiser war rechtmäßig.
Anmerkung:
Das Bundesverfassungsgericht stellt erhöhte Anforderungen an die Prüfung der Verhältnismäßigkeit. Schließlich hat der Nichtverdächtige auch aus Sicht der Ermittlungsbehörden in keiner Weise Anlass zu den Ermittlungsmaßnahmen gegeben (BVerfG NJW 2007, 1084).
Fall 6: Ladendieb
Am Samstag, den 26.10.2019, gegen 12.35 Uhr, wird die Streife PK Weiß/POM Hottinger zur Galeria Kaufhof beordert. Dort gebe es Probleme bei der Person...