Sterben wie im Märchen
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Sterben wie im Märchen

Ethik zwischen Embryos und Einäscherung. Essays aus zehn Jahren

  1. 182 Seiten
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Sterben wie im Märchen

Ethik zwischen Embryos und Einäscherung. Essays aus zehn Jahren

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Über dieses Buch

Aus dem "Nachwort" von Prof. Dr. Peter Porsch: "Mit diesem Buch hat Ilja Seifert das verwirklicht, was er vor allem von Politik erwartet: Klare Ansagen, kluge Forderungen, durchdachte Vorschläge." Aus dem Geleitwort des Autors: "Hier versammle ich etliche Essays und – leicht überarbeitete – Bundestagsreden aus den letzten zehn Jahren, mit denen ich mich der öffentlichen Debatte stelle. Sie läuft ja seit Jahren. Manchmal heißt sie Sterbehilfe, manchmal Stammzellenforschung, ein andermal Bioethik oder Pränatal- bzw. Präimplantationsdiagnostik. Sie heißt auch Organtransplantation oder Menschenrecht auf Teilhabe. Dann auch wieder Euthanasie. Immer aber geht es um das Menschenbild, von dem wir unsere Gesellschaftskonzeption ableiten. Es geht also um das Große und Ganze."Inhaltsverzeichnis: GeleitwortDie Welt steht auf der Kippe...Kein Gentest ohne umfassende AufklärungEthik und VerantwortungSterben wie im MärchenNachteilsausgleichsgesetzUN-KonventionOrganspendenTeilhabe ermöglichen statt Heime zu füllenAdoption keine zweite Wahl Kultur für alle Herausforderung – auch für DIE LINKEMenschen mit Behinderungen in der EntwicklungszusammenarbeitTeilhabe ermöglichen, auch wenn man pflegebedürftig ist!Ein falsches ZielGute Arbeit – unbehindertAssistenzpflege in Krankenhäusern und VorsorgeeinrichtungenGroße Lebensfreude, enorme Lebenskraft"Social Freezing" – "Selbstbestimmung" à la KapitalEs geht um Menschenrechte, nicht um soziale KosmetikWarum ich mir weder Eiswasser über den Kopf schütte noch für die ALS-Forschung spende"Euthanasie" – ein guter Tod?Unterschiedliche Fähigkeiten und Voraussetzungen – gleiche Rechte (und Pflichten)Frühe Denkschrift, spätes Gedenken"Lieber tot als behindert"?Menschenkette mit Euro-SchlüsselKlassenbefreiung gegen Minderheitenschutz?Lebensrecht ist nie "verhandelbar"Viola Schuber-Lehnhardt: Der Praena-Test. Möglichkeiten und Problemstellungen vorgeburtlicher DiagnostikNachwort von Peter Porsch

Häufig gestellte Fragen

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Information

Ethik und Verantwortung

Unser Alltag ist von praktischen Entscheidungen geprägt. Es geht dabei vorrangig um sehr materielle Dinge, um Essen und Trinken, um Kleidung, um angenehmes Wohnen, um Arbeit, um Partnerschaften. Hinzukommen Reisen, Kultur, für manche mehr Sport, für andere mehr Geselligkeit. Wenn gesetzgeberische Maßnahmen zur Sprache kommen, stehen eher materielle Auswirkungen im Mittelpunkt, die für jede und jeden sofort oder demnächst spürbare Veränderungen bringen. Breite philosophische Debatten sind eher selten. Heute haben wir wieder eine solche.

Konkrete Ethik ist auch im Alltag relevat

Der Bundestag setzte im Jahre 2000 eine erste Enquête-Kommission ein – ich war deren Mitglied –, die sich mit »Recht und Ethik der modernen Medizin« befaßte. Große Zeitungen füllten ihre Feuilletons mit umfangreichen Essays namhafter Autorinnen und Autoren, in denen Ethik, Stammzellen, Embryonen, Nidation und nicht zuletzt Menschenwürde zu den Schlüsselworten zählen.
Gestandene Feministinnen und junge Frauen sahen die gewonnene Freiheit in Gefahr, über ihren Bauch selbst zu bestimmen. Die organisierte Behindertenbewegung rang sich zu einmütigen Erklärungen gegen jegliche Selektionsmechanismen durch. Und selbst wenn ich irgendwo zu politischen Diskussionen oder geselligen Vereinsfeiern eingeladen wurde, mußte ich gewärtig sein, danach gefragt zu werden, wie ein sich aufgeklärt dünkender Sozialist damit zurechtkommt, in fundamentalen Fragen – zum Beispiel des Beginns menschlichen Lebens – in einem Atemzug mit katholischen Bischöfen genannt zu werden. Kurz und gut: Philosophie, konkrete Ethik scheint viele Menschen im Alltag tatsächlich zu interessieren.
Heute steht nun im Bundestag wieder die Frage an, ob ich mich für oder gegen die Forschung an und mit menschlichen embryonalen Stammzellen ausspreche. Scheinbar läßt sich das relativ leicht beantworten: Ich sage klar: Nein. Ich bin dagegen.
Bereits 2002 war klar: Die Auswirkungen der Entscheidung werden sich erst in Zukunft mit aller Deutlichkeit zeigen.
Es war eine Richtungsentscheidung. Genau deshalb rangen ja Protagonistinnen und Protagonisten beider Seiten mit so großem Engagement für ihre Positionen. Man mußte sich bei der Entscheidung mit ethischen, medizinischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und politischen Aspekten auseinandersetzen.
Meine Sachkenntnis auf diesen fünf Feldern ist ziemlich unterschiedlich ausgeprägt. Dennoch will ich versuchen, diesem Anspruch wenigstens ansatzweise zu entsprechen:
Entwickelt sich ein Embryo als Mensch oder zum Menschen?

1.) Ethische Aspekte der Forschung an und mit humanen embryonalen Stammzellen

Dieser Aspekt ist ausschlaggebend für meine ablehnende Haltung. Habe ich nun eine alltagstaugliche Ethik? Ist mein/unser Alltag ethiktauglich? Sind ethische Maßstäbe überhaupt geeignet, praktische Fragen beantworten zu helfen? Führen ethische Erwägungen zwangsläufig zu Fundamentalismen, wenn ich sie zur Grundlage praktischpolitischer Entscheidungen nehme? Machen sie kompromißunfähig oder geben sie im Kompromißgewirr orientierenden Halt? Wenn ich die Menschenwürde als unveräußerliches Gut ansehe – und ich tue das –, dann darf (und will!) ich keine Abstufungen vor- beziehungsweise hinnehmen. Sobald nämlich die Würde an bestimmte Kriterien (Eigenschaften) gebunden wird, sind der Willkür Tür und Tor geöffnet.
Wer solche Kriterien (Eigenschaften) sucht, kommt zu Selbstbewußtsein und/oder bestimmten Fristen (Phasen der Entwicklung) u. ä. Daß sich Selbst-bewußt-Sein erst im Laufe der Entwicklung ausprägt, liegt auf der Hand. Aber woher nimmt jemand die Sicherheit, ab wann es »genügend« ausgebildet sei, um den vollen Würdeschutz zu rechtfertigen? Ist das nach der Habilitation? Vor einer mittelschweren Alzheimer-Erkrankung? Mit drei Jahren? Drei Monaten? Mit Beginn oder Ende der Schulausbildung? Nach der Einnistung des Embryos in die Gebärmutter? Wie ist es während des Tiefschlafs oder unter Narkose? Es finden sich ziemlich absurd klingende Kriterien. Ob – und ggf. ab wann – ein Embryo im Mutterleib Selbstbewußtsein hat, weiß ich nicht. Erst recht läßt sich vermuten, daß eine befruchtete Eizelle in der Petrischale – also außerhalb des Leibes einer Frau – noch nicht über Bewußt-Sein seiner/ihrer selbst verfügt. Umstritten ist, ob die befruchtete Eizelle – der/das Embryo – sich als Mensch oder zum Menschen entwickelt, wenn man sie (ihn; es) nur läßt. Die unterschiedliche Beantwortung dieser Frage hat weitreichende Konsequenzen. Ich sehe eine Entwicklung als Mensch. Deshalb ist es am wenigsten willkürlich, vom frühestmöglichen Zeitpunkt an den vollen Würdeanspruch zu verteidigen. In bezug auf bestimmte Fristen, in denen sich ein Embryo zum Menschen entwickele, gibt es sehr unterschiedliche Auffassungen. Manche setzen die Grenze erst Wochen nach der Geburt. Andere bei der Geburt. Wieder andere bei der Einnistung in die Plazenta. Wieder andere im achten oder sechzehnten Zellstadium. Etliche bei der Kernverschmelzung von Ei- und Samenzelle. Gemeint ist der Moment, in dem erstmalig ein doppelter Chromosomensatz vorliegt. Diesen Punkt definiert auch das Embryonenschutzgesetz als den Beginn menschlichen Lebens.
Es gibt durchaus auch Argumente, die dafür sprächen, schon das sogenannte Vorkernstadium, also auch den Zeitraum zwischen dem Eindringen der Samenzelle und der Kernverschmelzung, als diesen Punkt zu nehmen. Nicht verschwiegen werden soll, daß es sogar noch weiter vorverlagerte Ansätze gibt, also solche, die bereits die Ei- und die Samenzelle (die Gameten selbst) als Beginn des menschlichen Lebens ansehen.
Wir müssen uns also entscheiden, ob eine bestimmte Art menschlicher Zellen – eben die Embryonen – Würdeund Lebensschutz brauchen, ob er ihnen automatisch zukommt oder ob sie als irgendeine Art menschlicher Zellen unter vielen zu betrachten sind. Haben Embryonen einen anderen Status als Hautzellen (zum Beispiel Haare) oder Blut? Auch letztere sind zweifellos Teil menschlichen Lebens. Ein gewisses Maß an Willkür ist – ob man will oder nicht – in Entscheidungssituationen immer im Spiel. Ein ethischer Maßstab kann da hilfreich sein. Ich meine, Embryonen kommt der Würdeschutz des Grundgesetzes von Anfang an zu.

»Verzweckung« kostet Menschenwürde

2.) Medizinische Aspekte

Verhießen wurde, mit Hilfe embryonaler Stammzellforschung schwere, bisher unheilbare Erbkrankheiten lindern oder gar heilen zu können. Wer würde das nicht wollen?! Eine Garantie gab jedoch niemand. Inzwischen redet kaum noch jemand ernsthaft davon.
Aber: Wenn mit embryonalen Stammzellen geforscht wird, fehlen in der Zwischenzeit die Ressourcen (finanzielle Mittel, wissenschaftliche Kapazitäten, Labor- und Medizintechnik usw.), die dafür gebraucht/benutzt/verwendet werden, an anderer Stelle.
Beispielsweise in der Forschung, die sich damit befaßt, die Lebensbedingungen für diejenigen zu verbessern, die mit diesen Krankheiten leben. Auch bei anderen, ethisch wesentlich unproblematischeren Gesundheitsforschungen. Gesundes Forschen hilft heilen. Und: mit Unheilbarem besser zu leben. Ich halte das für erfolgversprechender, als das Heil in forscher Gesundung zu erwarten.
Ob Stammzellen aus Embryonen »gewonnen« werden, was ja heißt, befruchtete, voll entwicklungsfähige menschliche Eizellen zu zerstören, oder ob Stammzellen aus dem Restblut der Nabelschnur oder gar aus dem Gewebe erwachsener Frauen und Männer isoliert werden, macht einen fundamentalen ethischen Unterschied.
Forschung mit und an Stammzellen muß den »umprogrammierten « Zellen irgendwann einmal die Möglichkeit der Entwicklung geben. Es muß ausprobiert werden, ob sie tatsächlich Organgewebe – langfristig vielleicht sogar ein Herz, eine Leber, Haut oder welches Organ auch immer – werden. Und man muß – irgendwann, bei irgendwem – dieses Gewebe ausprobieren. Sicher fänden sich Frauen und/oder Männer, die – aus welchen Motiven auch immer – bereit wären, sich solchen Experimenten zu unterziehen. Was aber geschieht danach? In jedem Falle beginnen diese Organe zu leben. Sie werden Teil des konkreten Menschen. Egal, wie lange das funktioniert. In jedem Falle gehen die Organe biologische (Stoff-)Wechselwirkungen ein. Selbst im Falle des Mißlingens, des Todes also, weiß niemand, was bei deren Verwesung passiert. Und falls es gutgehen sollte: Menschen pflanzen sich fort. Welche Auswirkungen haben künstlich erzeugte Organe auf die Nachkommen der Empfängerinnen und Empfänger?
Das ist dann nicht mehr eine Frage, die einzelne betrifft, das betrifft dann die Menschheit als Gattung. Was da einmal in die Welt gesetzt ist, kann niemand mehr rückgängig machen. Das lebt einfach.
Aber: Ich will auch medizinischen Fortschritt. Forschung – auch Stammzellforschung – ist ein Weg dahin. Ohne Risiken geht das nicht. Während die Befürchtungen zwar benennbar, nicht aber sicher sind, verhält es sich bei der Herkunft der verschiedenen Stammzellformen anders. Embryonale Stammzellen können nur dadurch »gewonnen « werden, daß ein Embryo, dem meines Erachtens voller Würdeschutz zukommt, zerstört – also getötet – wird.
Adulte Stammzellen hingegen werden unter informierter Zustimmung entscheidungsfähiger Individuen gewonnen. Zudem können sie – wenn die Forschungen ins Anwendungsstadium übergehen – wiederum direkt diesen Menschen helfen, ohne Immunprobleme aufzuwerfen. Bei fötalen und aus Nabelschnurblut gewonnenen Stammzellen handelt es sich ebenfalls nicht um voll entwicklungsfähige (omnipotente), also unter dem Würdeschutz stehende, Embryonen. In der Herkunftsfrage stehen also ethische Tabus zur Disposition. Wer Embryos »verfügbar« macht, sie »Zwecken« (Dritter) ausliefert, wird es selbst bei gutem Willen äußerst schwer haben, die »Verzweckung« menschlichen Lebens – zum Beispiel in anderen »Grenzbereichen « – nicht ebenfalls zu akzeptieren. Was auf dem Gebiet embryonaler Stammzellforschung möglicherweise irgendwann einmal an positivem Ergebnis vorliegen könnte, wäre auf jeden Fall zu teuer erkauft. Es wäre nur um den Preis der Verletzung menschlicher Würde zu haben.

3.) Einige wirtschaftliche Aspekte

Wer den Wirtschaftsteil von Zeitungen oder auch nur Börsenberichte hin und wieder zur Kenntnis nimmt, weiß, wie viele Biomedizin- und Gentechnikfirmen es bereits gibt. Sie alle treten unter der Rubrik an, das Leben, die Gesundheit, gelegentlich auch nur die Schönheit der Menschen verbessern zu wollen. Sie verhehlen aber auch nicht, Geld verdienen, Profit erwirtschaften zu wollen. Was steht eigentlich im Vordergrund? Für einige der Firmengründer*innen vielleicht wirklich die Heilungsabsicht. Aber schon für die Mitgesellschafter*innen, für die Geldgeber*innen, die Aktionär*innen ist es die Gewinnerzielungsabsicht. Da wird der Gegenstand der Produktion, das Produkt, eigentlich nur zum Mittel zum Zweck. Der Zweck ist: Geld verdienen, nicht die Heilung. Insofern wären – unter rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten – die Biomedizin- und Gentechnik zu fördern. Sie versprechen Gewinne. Sie versprechen Arbeitsplätze. Das wären positive wirtschaftliche Ergebnisse. Aber um welchen Preis?

Neues Wissen – neue Herausforderungen

4.) Wissenschaftliche Aspekte

Forscherdrang ist nicht aufzuhalten. So einfach dieser Satz aufzuschreiben, auszusprechen oder schlicht zu denken ist, so klar muß auch sein, daß nicht allgemein »die Wissenschaft « für die Folgen ihres Tun verantwortlich ist, sondern daß es die Forscherinnen und Forscher, konkrete Menschen also, sind. So unstillbar der Wissensdurst sein mag, so unerbittlich bleibt die Konsequenz, daß neues Wissen uns alle – die Menschheit – vor neue Herausforderungen stellt. Politikerinnen und Politiker haben die Pflicht, absehbaren Schaden abzuwenden.
Bisher scheint wissenschaftlicher Fortschritt und seine Anwendung/Auswirkung in der Praxis stets nach dem Prinzip vonstatten gegangen zu sein: Erst einmal die Neuigkeit haben, dann schauen, wie sie wirkt und – falls erforderlich – reparierend (regulierend) nachsorgen. Ist diese Folge ein Naturgesetz? Oder haben wir – die Menschheit – nicht die Möglichkeit und die Pflicht, aus Erfahrung zu lernen? Könnte eine der Lehren nicht darin bestehen, Chancen- und Risikenabwägung wesentlich kritischer, verantwortungsbewußter, vorsichtiger zu handhaben?
Alles, was Biomedizin und/oder Gentechnik hervorbringen, lebt. Einmal in die Welt gesetzt, entwickelt es sich nach eigenen Gesetzmäßigkeiten weiter. Niemand kann es – gesetzt den Fall, es erweist sich als Irrtum, gar als schädlich oder gefährlich – zurückdrehen. Biomedizinische und/oder gentechnische »Produkte«, auch schon Forschungsergebnisse, ja sogar Teilergebnisse, sind irreversibel. Hier ist Vorsicht alles andere als Schwarzmalerei, Fortschrittsverhinderung, Wissenschaftsfeindlichkeit. Hier kann höchste Vorsicht im wahrsten Sinne des Wortes lebenserhaltend sein. Und zwar für die Menschheit als Gattung.

5.) Einige politische Aspekte

Ich meine, daß sich Politik nicht widerstandslos der wirtschaftlichen Verwertungslogik fügen muß. Es gibt auch andere Kriterien, die für politische Entscheidungen wichtig sind. Beispielsweise die Frage: Welche Auswirkungen hat diese oder jene Entscheidung auf die Entwicklung der zwischenmenschlichen Beziehungen, auf unser Menschenbild, auf die Gesellschaftsvision?
Kann in Zukunft tatsächlich jede/jeder ewig jung, ewig schön, ewig gesund, womöglich ewig am Leben sein? Welchen Stellenwert erhalten »Abweichler*innen«? Wie gefährdet sind dann sogenannte Alte, Menschen mit Behinderungen, chronisch Kranke, psychisch Kranke? Können/dürfen/müssen wir ihnen zukünftig die Menschenwürde – ggf. zunächst »nur« die volle Menschenwürde – absprechen? Immerhin könnte die Menschheit ja durchaus in eine Situation geraten, in der lebenswichtige Ressourcen (Luft, Wasser, Nahrung usw.) knapp werden. Schon wird von der »Überlastung der sozialen Sicherungssysteme« geredet. Gibt es zu viele Alte, Kranke, Behinderte?

Verantwortlich entscheiden, Entscheidungen verantworten

Und, wenn ja: Was tun wir? Griffe ein Menschenbild um sich, das nur noch »jung«, »dynamisch«, »schön« (wer legt fest, was »schön« ist?), »gesund«, »leistungsstark« usw. gelten ließe, läge es ja geradezu nahe, diese anderen, die »Überflüssigen«, die »Nutzlosen«, die »Kostenfaktoren«, zu beseitigen. Das klingt sehr hart. Ist es auch. Aber: Was einmal war, kann immer wieder sein. Ist eine Gesellschaftskonzeption, in der Solidarität zu den obersten Tugenden gehört, dann noch aktuell? Die Nazis vernichteten behinderte Menschen ganz systematisch. Sie nannten das »Euthanasie«. Sie mißbrauchten behinderte Menschen – ganz offiziell – als menschliche Versuchsobjekte für medizinische Zwecke. Diesen Verbrechen hängten sie sogar noch den Mantel ethischer Nützlichkeit um: Diese Versuche würden ja anderen (»Ariern«, »Gesunden«, »dem deutschen Volke«) dienen. Welch ein Gesellschaftsbild! Welch ein Hohn!
Mir wird in öffentlichen Diskussionen noch eine weitere Frage gestellt:
Könnte die Stammzellenforschung in ein paar Jahren so weit eskalieren, daß sich eine Elite herausfiltert und das menschliche Gefühl keine Rolle mehr spielt? Auch hier könnte ich mir die Antwort leicht machen und »Ja« sagen. Ja, diese Angst habe ich. Aber ich will wenigstens noch hinzufügen, daß es nicht nur die (embryonale) Stammzellenforschung ist, die mir diese Sorge bereitet. Noch viel mehr ist es das gesellschaftliche Umfeld, in dem all das diskutiert und praktiziert wird. Wirtschaftlicher »...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Geleitwort
  6. Die Welt steht auf der Kippe …
  7. Kein Gentest ohne umfassende Aufklärung
  8. Ethik und Verantwortung
  9. Sterben wie im Märchen
  10. Nachteilsausgleichsgesetz
  11. UN-Konvention
  12. Organspenden
  13. Teilhabe ermöglichen statt Heime zu füllen
  14. Adoption keine zweite Wahl
  15. Kultur für alle Herausforderung – auch für Die Linke
  16. Menschen mit Behinderungen in der Entwicklungszusammenarbeit
  17. Teilhabe ermöglichen, auch wenn man pflegebedürftig ist!
  18. Ein falsches Ziel
  19. Gute Arbeit – unbehindert
  20. Assistenzpflege in Krankenhäusern und Vorsorgeeinrichtungen
  21. Große Lebensfreude, enorme Lebenskraft
  22. »Social Freezing« – »Selbstbestimmung« à la Kapital
  23. Es geht um Menschenrechte, nicht um soziale Kosmetik
  24. Warum ich mir weder Eiswasser über den Kopf schütte noch für die ALS-Forschung spende
  25. »Euthanasie« – ein guter Tod?
  26. Unterschiedliche Fähigkeiten und Voraussetzungen – gleiche Rechte (und Pflichten)
  27. Frühe Denkschrift, spätes Gedenken
  28. »Lieber tot als behindert«?
  29. Menschenkette mit Euro-Schlüssel
  30. Klassenbefreiung gegen Minderheitenschutz?
  31. Lebensrecht ist nie »verhandelbar«
  32. Viola Schuber-Lehnhardt: Der Praena-Test. Möglichkeiten und Problemstellungen vorgeburtlicher Diagnostik
  33. Nachwort von Peter Porsch