1 Recht, Moral und Wirtschaftskriminalität
1.1 Recht und Moral als Instrumente zur Abwehr wirtschaftskriminellen Verhaltens
(1) Entwickelte Gesellschaften haben mehrere Regelsysteme ausgebildet, die der zwischenmenschlichen Verhaltenssteuerung dienen. Diese stabilisieren Erwartungshaltungen innerhalb sozialer Gruppen und machen Interaktionen häufig überhaupt erst möglich, erleichtern sie zumindest wesentlich. Die wichtigsten Regelsysteme sind Recht und Moral, während Konventionen als Formen gesellschaftlicher Etikette wie Begrüßungsformeln, Kleiderordnung oder Benimmregeln beim Essen für unsere Fragestellung in modernen Gesellschaften eher vernachlässigt werden können.1 Den beiden erstgenannten Systemen ist gemeinsam, dass sie Wert- oder Unwerturteile über Handlungsweisen formulieren und damit das Verhalten der Gesellschaftsmitglieder anleiten und vorhersehbar machen. Dies wird deutlich an ihrer spezifischen Konstruktion, sie besitzen eine Regelkomponente und eine Durchsetzungs- bzw. Sanktionskomponente. Während bei Gesetz und Recht klar formulierte Regeln von einem Gesetzgeber beschlossen und mit Hilfe von Verwaltung, Polizei und Gerichten durchsetz- und einklagbar sind, beruhen moralische Regeln auf individueller oder kollektiver Selbstgesetzgebung und Tradierung. Moralnormen sind daher weniger eindeutig bestimmbar, ihre Einhaltung erfolgt durch »soziale Kontrolle« der Mitmenschen und ihr Sanktionspotential reicht von Irritation, Stirnrunzeln über bissige Bemerkungen bis hin zur sozialen Ächtung, in positiver Hinsicht von einem freundlichen Blick, anerkennenden Schulterklopfen über ein Lob bis hin zu öffentlichen Auszeichnungen wie dem Bundesverdienstkreuz.2
(2) Im Sinne dieser funktionalen Betrachtungsweise benötigt man in modernen Gesellschaften beide Regelsysteme, wie folgende Überlegungen zeigen:
• Gesetz und Recht sind unverzichtbar, um grundlegende Handlungs-, Vermögens- und Schutzrechte für die Gesellschaftsmitglieder zu sichern, d. h. in einem dafür vorgesehenen Verfahren des Gesetzgebers zu kodifizieren und ihre Einhaltung mit staatlicher Gewalt durchzusetzen. In diesen Rechtsnormen dokumentiert sich das » ethische Minimum«, das für das Zusammenleben in einer Gesellschaft unabdingbar ist. Das Recht bildet gleichsam einen Rahmen, der die Fortexistenz der Gesellschaft sicherstellen soll und der die Mindestanforderungen an »sittliche Lebensbetätigung und Gesinnung« eines jeden Gesellschaftsmitglieds formuliert.3
• Das Strafrecht als Teil des Rechtssystems ist ein besonders scharfes Schwert in den Händen des Staates und soll nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts nur dann eingesetzt werden, »wenn ein bestimmtes Verhalten über sein Verbotensein hinaus in besonderer Weise sozialschädlich und für das geordnete Zusammenleben der Menschen unerträglich, seine Verhinderung daher besonders dringlich ist.«4 In diesem Sinne werden Gewalttaten gegen Körper und Leben genau wie inakzeptable Verhaltensweisen im Wirtschaftsverkehr wie Betrug, Korruption oder Wirtschaftsspionage als Delikte pönalisiert. Das Besondere ist also, dass mit dem Strafrecht eine juristische Doppelgleisigkeit installiert wird. So soll bspw. beim Betrug nicht nur ein ggf. rechtswidrig erlangter Vorteil auf dem Wege des Zivilrechts wieder rückgängig gemacht werden, sondern dem Initiator des Rechtsverstoßes soll mit der Strafe eine zusätzliche Nachteilszufügung auferlegt werden. Schadensersatz und Strafe sind also ihrem Wesen nach verschieden. Während der Schadensersatz nach den Regeln des Zivilrechts »eine Wunde heilen« will, soll die Strafe nach deutscher Strafrechtsdogmatik zudem »eine Wunde schlagen«.5 Kriminalstrafen wohnt mithin ein Vergeltungsmoment inne, was schon darin zum Ausdruck kommt, dass diese sich an der Schwere der Tat orientieren.6 Insofern ist das Strafrecht in besonderer Weise für die Erwartungsstabilisierung (= Generalprävention) zum Schutz elementarer Güter und Interessen konzipiert, die das Zivilrecht allein nicht leisten könnte.7
• Innerhalb dieses durch das Recht gesetzten äußeren Rahmens stellt sich die Frage nach dem »gerechten« oder »guten« Verhalten, mit dem dieser Rahmen auszufüllen ist. Hier hat die Moral ihren Platz, die zu aktiver Sozialgestaltung beitragen soll. Damit wird der Einsicht Rechnung getragen, dass nicht alles, was gesetzlich legal ist, auch moralisch legitim ist. Anders gewendet: In einem freiheitlichen Gemeinwesen wäre es weder zielführend noch erwünscht, alles Sozialverhalten rechtlichen Regeln und staatlicher Aufsicht unterwerfen und sanktionieren zu wollen.8 Konsequenz wäre dann ein omnipräsenter Überwachungsstaat. Daher muss zum Schutz der Autonomie von Individuen, Gemeinschaften und Zivilgesellschaft Raum für die Freiheit von staatlicher Intervention und Einflussnahme bleiben. Das bedeutet: In Gemeinschaften wie der Familie oder kleinen Gruppen mit gemeinsamer Wertebasis werden moralische Verhaltensnormen tradiert und spontan in Trial- and- Error-Prozessen weiterentwickelt. Analog bedarf es im gesellschaftlichen Kontext solcher Freiräume für die Gestaltung zwischenmenschlicher Kooperation und Konfliktbewältigung. Nötig sind, anders gewendet, Spielräume, die zunächst einmal privater Dispositionsmacht unterliegen und dies auch bleiben müssen. Hier gilt jeweils die Moral als Regulierungssystem. Die Vorzüge gegenüber dem Recht liegen in ihrem Differenzierungsvermögen, ihrer Veränderbarkeit und Anpassungsfähigkeit an sich ändernde soziale Gegebenheiten.9
1.2 Beurteilungskriterien zur Qualifikation von Wirtschaftskriminalität
(1) Recht bezieht genau wie Moral sein normatives Fundament aus der Ethik (= Moralphilosophie) als Reflexionswissenschaft.10 Entstehung und Veränderung von Rechtsregeln basieren wesentlich auf moralischen Überzeugungen der Politiker und der Öffentlichkeit. Materielle Rechtsregeln können als »geronnene Moral«11 verstanden werden.12 Doch welche Merkmale machen ein Verhalten zu einem wirtschaftskriminellen Verhalten? Damit stellt sich die zentrale materielle Frage danach,
• welche fragwürdigen Verhaltensweisen in einem offenen marktwirtschaftlichen System als beanstandungsfrei hinzunehmen sind,
• welche Verhaltensmuster zwar als moralisch verwerflich anzusehen sind, jedoch erwartet werden kann, dass sie über Selbstregulierungsprozesse der Wirtschaftsakteure zurückgedrängt werden,
• welche Handlungsweisen als so gravierend und sozial abträglich einzuordnen sind, dass sie als strafrechtliche Verstöße gegen die Rechts- und Wirtschaftsordnung zu sanktionieren sind.13 Hier wäre das stärkste Instrumentarium sozialer Kontrolle einzusetzen, nämlich Geld- oder Freiheitsstrafen.
(2) Das Bundesverfassungsgericht hat, wie eingangs erwähnt, den Einsatz des Strafrechts im Fall von besonderer Sozialschädlichkeit oder der Verletzung von Rechtsgütern legitimiert. Doch sind dies offene, ausfüllungsbedürftige Rechtsbegriffe, zumal die Strafrechtswissenschaft »keine Theorie des modernen Strafrechts« liefert.14 Es ist eine schwierige Aufgabe für Juristen, Ökonomen, Wirtschaftsethiker und Soziologen, überzeugende Kriterien für die Strafwürdigkeit von Verhaltensweisen im Wirtschaftsleben zu entwickeln, die im öffentlichen Diskurs Bestand haben.
(3) Dieser Stigmatisierungsprozess bestimmbarer Handlungsweisen kann nur aus einer vorgängigen normativen Gesellschaftstheorie abgeleitet werden, der auf die Funktionsweise eines offenen marktwirtschaftlichen Systems Bezug nimmt. Das Wirtschaftsstrafrecht kann mithin nur dann Konturen erhalten, wenn die aus den Interaktionen der Marktteilnehmer erwachsenden Marktprozesse und Institutionen analysiert und in Bezug auf die damit verbundenen legitimen Erwartungen und Interessen der Akteure bewertet werden. Nur aus dieser Perspektive wird der Unrechtsgehalt wirtschaftskrimineller Delikte erkennbar.
Sind bei Gewaltdelikten die Schäden an Rechtsgütern wie dem blauen Auge oder der eingedrückten Windschutzscheibe des Autos ohne weiteres erkennbar, so liegt der Fall bei Wirtschaftskriminalität anders, komplizierter und ist nicht immer unmittelbar einsichtig. Der Unrechtsgehalt ergibt sich aus Regelverstößen, also Verletzungen von Verhaltenspflichten, die dem fairen Wirtschaftsverkehr dienen.15 Damit sollen bestimmte Formen gesellschaftlicher Interaktion und ein sozial erwünschtes Wirtschaftsgeschehen gewährleistet werden. Es geht also um Institutionenschutz, nicht primär darum, dass ein Individuum eine konkrete Einbuße an seinen Vermögensgütern erlitten hat.16 Paradigmatisch wird dies am Kartellverbot des § 1 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) deutlich. So hat der Staat in einem Marktsystem die Interessen der Verbraucher am Wettbewerb zwischen günstigen Offerten zu schützen. Verstoßen miteinander konkurrierende Anbieter gegen diese Verhaltensregel, indem sie durch Absprachen vorab ihr Verhalten gegenüber der Marktgegenseite koordinieren, so muss der Staat die Nichteinhaltung dieser Regel sanktionieren.17
1.3 Ebenen des Zusammenspiels von Wirtschaftsstrafrecht und Moral
(1) Das Zusammenspiel von Recht und Moral ist komplex und wird auf verschiedenen Ebenen praktisch – der Mikro- oder Individualebene, der Meso- oder Unternehmensebene und der Makro- re...