1 Einführung
1.1 Was ist Wahrnehmung?
Wahrnehmung ist ein aktiver, selektiver und konstruktiver Prozess. Die Informationen aus dem eigenen Körper und der Umwelt müssen identifiziert, weitergeleitet, koordiniert, anschließend im Gehirn mit bereits gespeicherten Informationen verknüpft und entsprechend darauf reagiert werden.
Dabei erfolgt die Reizaufnahme über die Rezeptoren des spezifischen Sinnesorganes. Diese Reize werden an das Gehirn weitergeleitet und in den jeweiligen Zentren der Großhirnrinde abgespeichert. Das Wahrgenommene wird dann mit bereits erworbenem Wissen verglichen, daraufhin erfolgt die Auswahl sowie Bewertung des Reizes und ggf. die Koordination und Verknüpfung in verschiedenen Gehirnarealen.
1.2 Jede Wahrnehmung ist einzigartig
Wahrnehmung ist individuell
Der Prozess der Wahrnehmungsverarbeitung ist bei jedem Menschen einzigartig und ganz individuell. Wahrnehmung ist eine subjektive Sicht auf die Wirklichkeit und jede Person nimmt diese Wirklichkeit anders und somit ganz besonders wahr.
So können zum Beispiel Berührungen, welche von einer Person bevorzugt werden, bei anderen Schmerzen auslösen. Geräusche oder Musik, welche für den Einen positiv empfunden werden, können für den Anderen unangenehm oder schmerzhaft sein.
Wahrnehmung je nach Tagesform
Die persönliche Wahrnehmung variiert zusätzlich je nach Tagesform. Krankheit, Stress oder auch allgemeines Wohlbefinden wirken sich auf den Prozess und das Ergebnis der Informationsaufnahme, der Bearbeitung und Bewertung von Reizen aus. Bilder, welche an manchen Tagen faszinieren, wirken in anderen Situationen beängstigend. Musik, deren Rhythmus gestern als anregend empfunden wurde, hört und fühlt sich am nächsten Tag vielleicht unangenehm an.
Gut zu wissen: Migräne – eine kurzzeitig veränderte Wahrnehmung
Einige der Autismus-Symptome sind denen einer akuten Migräneattacke ähnlich. Dabei kann es zu einem erhöhten Druckgefühl im Kopf, einer Überreizung des vestibulären Systems, Lichtempfindlichkeit, hohe Geruchs- und Geschmackssensibilität, einer auditiven Überreizung usw. kommen. Viele Reize aus der Umgebung werden kaum wahrgenommen, andere treten besonders intensiv hervor.
Die Betroffenen möchten sich am liebsten in einem dunklen Raum einschließen und erst wieder am Leben teilhaben, wenn die Migräne vorüber ist und der Körper wieder wie gewohnt auf die verschiedenen Reize reagiert. Während der Attacke wird jede Aufgabe, jeder Austausch wenn möglich vermieden. Die stark belastenden (Begleit-)Erscheinungen vergehen im Laufe des Tages bzw. einer Woche und mit ausreichender Erholungszeit. Medikamente können die Schmerzen und Symptome der Migräne lindern.
Erfahrungen prägen die Wahrnehmung
Ob und wie ein Reiz wahrgenommen wird und welche Reaktionen er auslöst, liegt unter anderem daran, wie die jeweiligen Impulse bewusst oder unbewusst gefiltert, verarbeitet und miteinander verknüpft werden. Dieser Prozess ist eng mit bereits erfolgten Erfahrungen und Lernprozessen verbunden sowie der Bewertung, ob ein Reiz bedeutungstragende Informationen beinhaltet, welche weitere Handlungen oder Reaktionen beeinflussen.
1.3 Eine ganz besondere Wahrnehmung
»[Autistische Menschen] nehmen nicht nur viel mehr Reize bewusst wahr als nichtautistische Menschen, sondern reagieren auch anders, weil in ihrem Gehirn ein anderes Modell der Welt entsteht, auf das sie dann mit einem anderen, für die Umgebung unerwarteten Verhalten reagieren.[…] Sie werden mein Verhalten nicht einordnen können und als komisch oder gar abartig empfinden. Dass es innerhalb meines Systems ein korrektes Verhalten ist, spielt keine Rolle mehr« (Vero, 2014, S. 21f.).
Die sensorische Integrationsleistung und damit die Intensität, mit der Reize gespürt werden, ist bei Menschen mit Autismus im Vergleich zu den Empfindungen von neurotypischen Menschen besonders. Reize werden entweder kaum wahr- oder aufgenommen (Hyposensibilität) oder besonders intensiv gespürt (Hypersensibilität). Abstufungen zwischen den beiden Reizintensitäten sind kaum zu beobachten, sodass entweder eine Überstimulation oder eine Unterstimulation des zentralen Nervensystems vorliegt.
Ob in einer bestimmten Situation eine Über- oder Unterstimulation für einen bestimmten Wahrnehmungsbereich vorliegt, lässt sich selten genau festlegen. Die Beobachtung, bei welchem Reiz mit welcher Intensität eine Reaktion erfolgt, erfordert eine differenzierte Betrachtungs- und Vorgehensweise.
»Bereits seit längerem weiß man, dass Menschen mit autistischen Störungen in allen Sinnessystemen empfindlicher reagieren können oder Wahrnehmungen anders empfinden können als nicht autistische Menschen. […] Es fanden sich statistisch hochsignifikante Unterschiede: Die autistischen Kinder hatten im Durchschnitt eine mehr als doppelt so hohe Überempfindlichkeit. Es traten aber auch doppelt so häufig Unterempfindlichkeiten gegenüber Schmerzen auf« (Jansen & Streit, 2015, S. 221f.).
Scheinbar widersprüchliche Wahrnehmungsbesonderheiten
Es kann sein, dass ein leicht veränderter Reiz (zum Beispiel bei einer Variation der Frequenz) eine andere Reaktion auslöst und diese, bedingt durch die kaum vorhandenen Abstufungen in der Intensität, oft widersprüchlich erscheint.
Gut zu wissen: Ähnliche Reize können zu »scheinbar« gegensätzlichen Reaktionen führen
Im Mundbereich kann der vordere Teil der Zunge eine Hyposensibilität gegenüber Berührungsreizen aufweisen, aufgrund derer die Kinder das Essen regelrecht in den Mund stopfen. Im hinteren Zungenbereich kann jedoch eine Hypersensibilität vorliegen und der Würgereiz wird schon beim Gebrauch der Zahnbürste auf den mittleren oder hinteren Molaren ausgelöst.
Auch auf den gesamten Körper bezogen zeigen sich diese scheinbar widersprüchlichen Reaktionen. Es kann sein, dass Betroffene auf sanfte Berührungen sehr empfindlich reagieren und sie als schmerzhaft wahrnehmen. Andererseits genießen sie starke Impulse, wie bei einer Massage mit dem Igelball oder dem festen Ausstreichen der Haut mithilfe der Fingerknöchel.
Es ist auch möglich, dass das Hören von hohen Tönen wie bei einer hohen Sprechstimme (bereits bei geringer Lautstärke) als unangenehm empfunden wird. Andererseits wird ein tiefer Ton positiv bewertet, wie zum Beispiel das (laute) Brummen eines Motors.
In unserem Autismuszentrum erfahren wir jeden Tag, wie anders die Wahrnehmung der betroffenen Kind...