Aus der Erstarrung
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Aus der Erstarrung

Hellas und Hesperien im >freien Gebrauch des Eigenen< beim späten Hölderlin

  1. 317 Seiten
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Aus der Erstarrung

Hellas und Hesperien im >freien Gebrauch des Eigenen< beim späten Hölderlin

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Über dieses Buch

Der Autor untersucht Hölderlins poetisch-konkretistische Metaphysik als eigenständige philosophische Position, die sich in ihrer Abkehr von der regelgeleiteten idealistischen Transzendentalphilosophie (Kant, Reinhold, Fichte, Schiller) und von der spinozistisch inspirierten Systemphilosophie, die letztlich rationalistischer Monismus ist (früher Schelling), gegen spätere ontologische Vereinnahmungen (Heidegger) sträubt. Frei im Eigenen durch die Reflexion des Fremden zu sein ist weder als Idealismus noch als Realismus zu begreifen, sondern als ein konkretes Werden zu sich, das eine entwickelnde Wanderung des Geistes durch Landschaften, Städte, an Flüssen sowie Begegnungen mit Tieren, Pflanzen, Göttern und anderen Menschen erfordert. Erst dann folgt man den Regeln des Eigenen nicht mehr blind, sondern hat die Augen durch das Fremde für die eigene Freiheit geöffnet.

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Information

Jahr
2020
ISBN
9783787337682

V. Der Geist als Widersacher des ›absoluten Ich‹ –
Patmos: Das lyrische Ich auf dem Weg
in die Kolonie

Geradezu gegen den sog. subjektiven Idealismus lässt sich also Hölderlins Geistkonzeption ins Feld führen, denn wenn es das Wesen des Geistes ist, in die „Kolonie“ auswandern zu müssen, dann kann er gar nicht alles in sich haben; er braucht das Fremde, wenn er seinem Wesen gerecht werden will. Er würde verkümmern und unfrei sein, wenn er nicht auf Anderes seiner selbst gleichberechtigt Bezug nähme. Der Geist kann auch nicht als Deduktionsprinzip gedacht werden, aus dem auf eine apriorische Weise alles herzuleiten wäre. Das Wesen des Geistes, wie ihn Hölderlin deutet, kommt in einer zuvor bereits zitierten Variante zu einem Vers aus der spätesten Fassung der Elegie Brod und Wein zum Ausdruck:
Glaube, wer es geprüft! nemlich zu Hauß ist der Geist
Nicht im Anfang, nicht an der Quell. Ihn zehret die Heimath
Kolonie liebt, und tapfer Vergessen der Geist.
Unsere Blumen erfreun und die Schatten unserer Wälder
Den Verschmachteten. Fast wär der Beseeler verbrandt.1
„Kolonie“ ist in diesem Kontext ein merkwürdiges Wort, das sich außer in dieser 1803 angefertigten Überarbeitung der Elegie Brod und Wein (die bereits im Winter 1800/01 vollendet war und 1801 in Reinschrift vorlag) sonst bei Hölderlin nicht findet. Friedrich Beißner gibt ihm die Bedeutung von „Asyl“, also einer Zufluchtsstätte.2 – Hierfür spricht auch die Verwendung von „Asyl“ in Mein Eigentum,3 wo Hölderlin dichtet, dass der Gesang sein „freundlich Asyl“ ist. Die fragile Existenz des Dichters besteht danach in der Grenzsituation, dass gerade das „Asyl“ sein „Eigentum“, sein Eigenes ist. – Dagegen wendet sich Hans Pyritz: Kolonie ist zu verstehen „… im strengen Wortsinn als Siedlung, Pflanzstätte, neuer Wohnsitz, in den der Geist auswandert (bis ihn die nächste Geschichtsstunde zu weiterer Landnahme treibt)“.4 Ähnlich sieht es auch Heidegger, der die Kolonie als stets auf das „Mutterland zurückbezogenes Tochterland“ sieht.5 Beide Deutungen (Zufluchts- und Pflanzstätte, Letzteres ist ja auch tatsächlich die wörtliche Bedeutung von „Kolonie“) treffen natürlich einen richtigen Aspekt von „Kolonie“ bei Hölderlin; sie sind daher eigentlich zu synthetisieren. Einerseits ist die Kolonie eine Zuflucht, in die der Geist flieht, da ihn die Heimat „auszehrt“, der fernherkommende Geist „erfreut“ sich an unseren Blumen und dem Schatten der Wälder; andererseits ist die Kolonie aber auch ein problematischer Aufenthaltsort für den Geist, denn dort „vergisst“ er, er vergisst sich selbst, seine Mission. Dieses Vergessen ist zwar „tapfer“, doch kann der Geist in solchem Vergessen nicht stehen bleiben, schließlich ist es auch der Sinn des Geistes der Dichtung bei Hölderlin, Erinnerung zu stiften. Es zeugt natürlich von Hölderlins genialem Sprachwitz, wenn er ausgerechnet an dieser Stelle das bei ihm so seltene Fremdwort „Kolonie“ verwendet, um die Entfremdungsstation des Geistes zu bezeichnen.
Das Verbrennen des Beseelers, d. h. des Geistes, des Logos, kann aber nicht durch immer weitere „Landnahmen“, wie Pyritz vorschlägt, verhindert werden, denn wenn der Geist nur von Kolonie zu Kolonie wanderte, würde sein tapferes Vergessen nur immer weiter zunehmen, er würde sich zwar an immer neuen Blumen erfreuen, hätte aber keine Mission mehr, es wäre nur noch eine Wanderung durchs Anderssein und immer Anderssein.6
Nur wenn sich der Geist ins wirklich Fremde aufmacht, kann er lernen; wenn er alles nur aus sich selbst schöpfen wollte oder sich solches anmaßt, könnte er nichts Anderes dazulernen, er hätte ausgelernt, noch bevor er sich zu entwickeln begonnen hätte; wenn es dem Geist ausreichte, sich immanent selbst zu reflektieren, würde er sich nicht wirklich ent-wickeln. In einem Bruchstück zur späteren Fassung von Patmos heißt es bezüglich einer Seele, die von sich denkt, etwas Fertiges und Vollkommenes zu sein:
Grausam nemlich hasset
Allwissende Stirnen Gott.7
Andererseits darf der Geist aber auch nicht in der Kolonie ziellos umherschweifen; auch dies liebt der Geist; er vollzieht in der Kolonie zunächst ein „tapferes Vergessen“, das bedeutet, er schafft Raum für Neues, indem er das in seiner „Kindheit“ einfach Vorgesetzte, das erste Nationelle, verdrängt. – Das ist bereits eine ähnliche Aufwertung des Vergessens, wie sie später aus Nietzsches Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben aus der 2. Unzeitgemäßen Betrachtung hinsichtlich einer lebensdienlichen Historie bekannt ist. – Doch gleichwohl verfehlt sich der Geist, denn er vergisst sich, d. h., er kommt nicht in sein Telos, wenn er die Fremdheit bloß als kurzlebiges Strohfeuer eines unwesentlichen Interesses am Unbekannten, aus oberflächlicher Neugier herunterbrennt – diese Gefahr droht Goethes Faust, und selbst Mephisto geht ja die ungehemmte Sinneslust der Griechen zu weit… und noch Fellinis Satyricon thematisiert den hemmungslosen Hedonismus der Spätantike als die eigentliche Wurzel der Moderne –. Z. B. kann sich der hellenische Geist zwar an der Fremdheit unserer hesperischen Blumen und an dem Schatten unserer Wälder erfreuen, und umgekehrt können wir Hesperier uns an der ausufernden Sinnlichkeit der Antike erfreuen, doch dabei verfehlt sich der Geist ebenso, als würde er gleich in der Heimat blieben, das eine Mal vergisst er sich, das andere Mal verzehrt er sich. Wenn sich der moderne Geist in die Kolonie der griechischen Antike aufmacht und Begeisterung für die Alten empfindet, führt das immer auch die Gefahr des Selbstverlustes im Klassizismus mit sich. Es fehlt dann der Rückbezug auf das Nationelle, Eigene; ohne diesen Rückgang kann das Feuer des Geistes verlöschen. Für eine solche historische Entwicklung ist – wie bereits zitiert wurde – Hellas, das antike Griechenland, ein Beispiel:
… meinest du
Es solle gehen,
Wie damals? Nemlich sie wollten stiften
Ein Reich der Kunst. Dabei ward aber
Das Vaterländische von ihnen
Versäumet und erbärmlich gieng
Das Griechenland, das schönste, zu Grunde.
Wohl hat es andere
Bewandtniß jezt.8
In der zweiten Fassung von Mnemosyne (Herbst 1803) warnt Hölderlin eindrücklich vor der Sprachlosigkeit, die den Geist gefährdet, wenn er sich in der Fremde verliert:
Ein Zeichen sind wir, deutungslos
Schmerzlos sind wir und haben fast
Die Sprache in der Fremde verloren.
Wenn nemlich über Menschen
Ein Streit ist an dem Himmel und gewaltig
Die Monde gehen, so redet
Das Meer auch und Ströme müssen
Den Pfad sich suchen. Zweifellos
Ist aber Einer. Der
Kann täglich es ändern. Kaum bedarf er
Gesez. Und es tönet das Blatt und Eichbäume wehn dann neben
Den Firnen. Denn nicht vermögen
Die Himmlischen alles. Nemlich es reichen
Die Sterblichen eh’ an den Abgrund.
Also wendet es sich, das Echo
Mit diesen. Lang ist
Die Zeit, es ereignet sich aber
Das Wahre.9
„Schmerzlos“ wird der Mensch in der Fremde dann, wenn er unteilnehmend und abgestumpft gegenüber dem sich ereignenden Wahren wurde; er empfindet natürlich noch diesen oder jenen Schmerz oder auch Lust, jedoch gegen das, was ihn am schmerzlichsten angehen müsste, ist er abgestumpft. Hier zeigt sich die Thematik der abendländischen Wendung, denn in der Fremde verliert man „fast“ die Sprache, z. B. wenn man Fremdes allzu schematisch nachahmt. Darin kann man Hölderlins Kritik am Klassizismus erblicken. Wer sich nur als nachahmender Schüler der Griechen betätigt, verliert fast die Sprache und wird deutungs- und bedeutungslos. Winckelmann’sches (wohl auch Goethe’sches und Schiller’sches) nachahmendes Schülertum bei den Griechen ist Hölderlin nicht genug, man muss zum Bruder der Griechen werden. Erst dann betreffen einen die metaphysischen und kosmologischen Angelegenheiten der Göttlichen selbst. Der Mensch ist in der Verlorenheit der Entfremdung für einen äußeren Beobachter nur noch ein Zeichen, denn er versteht sich selbst nicht mehr und ist insofern nicht in der Lage, sich selbst zu deuten, er ist deutungs- und bedeutungslos. Sich solchermaßen dem Wahren zu entfremden, ist aber ein Wesensmerkmal des freien Menschen; er hat im Unterschied zu den Göttern die Fähigkeit, sich „an den Abgrund“ zu neigen.10 Da wir die Sprache selbst in dieser äußersten Entfremdungssituation aber noch nicht ganz verloren haben, sind wir noch dazu fähig, ein Echo zu produzieren; es hallt aus dem Abgrund (Unfreiheit, Unwahrheit, Götternacht) wider. Dank unserer Fähigkeit zur Entfremdung sind wir also in der Lage, den Abgrund zum Sprechen zu bringen, und können damit ein Zeichen setzen, das Teilnehmendere wieder zu deuten fähig sein werden. Der völligen Entfremdung entgeht man nur dann, wenn man sein „Vaterländisches“ nicht versäumt, d. h., man muss nicht nur die Fremde durchdringen und z. B. Bruder der Griechen werden, sondern sich auch davon wiederum distanzieren, sich der Entfremdung entfremden und das Vaterländische/Eigene frei gebrauchen. Vielleicht war diese Erkenntnis der eigentliche, tiefere Grund für Hölderlins überstürzte Abreise aus Frankreich. Vielleicht befürchtete er, in Südfrankreich zum deutungs- und schmerzlosen Zeichen zu werden?
Die Widmungsfassung von Patmos ist auf den Winter 1802 zu datieren,11 die späteren drei Fassungen (a) Vorstufe einer späteren Fassung, b) Bruchstücke der späteren Fassung und c) Ansätze zur letzten Fassung) wurden im Sommer und Herbst 1803 bearbeitet.
In der Götternacht, also nach dem Tode Christi und dem Ende der griechischen Götterwelt, findet eine Vereinzelung und Vereinsamung der menschlichen Seelen statt – besonders deutlich in der Ichphilosophie. Um dies zu mildern, beschenken uns der höchste Gott und Christus mit dem Geist als einem die Vereinzelten verbindenden Prinzip. Um dieses Geistige zu begreifen, muss das lyrische Ich sich jedoch mit einer imaginären Reise in die Welt von Hellas zurückversetzen, eben z. B. auf die Insel Patmos, wo Johannes seine Offenbarung erlebte. Zunächst wird in Patmos jedoch die Vereinsamung in der hesperischen Epoche bei den Söhnen der Alpen geschildert: 12
Nah ist
Und schwer zu fassen der Gott.
Wo aber Gefahr ist, wächst
Das Rettende auch.
Im Finstern wohnen
Die Adler und furchtlos gehen
Die Söhne der Alpen über den Abgrund weg
Auf leichtgebaueten Brüken.
Drum, da gehäuft sind rings
Die Gipfel der Zeit, und die Liebsten
Nah wohnen, ermattend auf
Getrenntesten Bergen,
So gieb unschuldig Wasser,
O Fittige gieb uns, treuesten Sinns
Hinüberzugehn und wiederzukehren.

So sprach ich, da entführte
Mich schneller, denn ich vermuthet
Und weit, wohin ich nimmer
Zu kommen gedacht, ein Genius mich
Vom eigenen Hauß’. Es dämmerten
Im Zwielicht, da ich gieng
Der schattige Wald
Und die sehnsüchtigen Bäche
Der Heimath; nimmer kannt’ ich die Länder;
Doch bald, in frischem Glanze,
Geheimnißvoll
Im...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Inhalt
  3. Titelei
  4. Widmung
  5. Zitate
  6. Einleitung
  7. I. Zeitenwende und Untergang des Vaterlandes – Anfänge und Formen ›abendländischer Wendung‹
  8. II. Freiheit im Eigenen als ›abendländische Wendung‹ im ersten Böhlendorff-Brief und die Kolonie des Geistes in der Überarbeitung von Brod und Wein
  9. III. Transzendentaler Don-Quijotismus – Hölderlins Abkehr von der Transzendentalphilosophie
  10. IV. Christus und seine Brüder in der Endzeit von Hellas: Der Einzige
  11. V. Der Geist als Widersacher des ›absoluten Ich‹ – Patmos: Das lyrische Ich auf dem Weg in die Kolonie
  12. VI. Die Geistigkeit des Fürsten des Festes in der Friedensfeier
  13. VII. Verhüllung des Göttlichen in Versöhnender, der du nimmergeglaubt…
  14. VIII. Geist und Geschichtsprozess – ›Todeslust‹ auf dem Weg zum Tragischen
  15. IX. Die Tragödie als Untergang des Bewusstseins – Kant und Fichte vor dem Richterstuhl des Zeus
  16. X. Über-Setzen und Ver-Dichtung des Seins in der Tragödie
  17. XI. Zeit als Sein: Gegenwart in tragischer Einung
  18. XII. Das Tödlichfaktische der Hellenen und die Aufgabe der Hesperier, Geschick zu haben. Die Antigone-Anmerkungen und der zweite Böhlendorff-Brief
  19. Resümee
  20. Literaturverzeichnis