Vertrauen
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Vertrauen

Ein riskantes Gefühl

  1. 304 Seiten
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Vertrauen

Ein riskantes Gefühl

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Über dieses Buch

Ausgerechnet das, was unser Leben in eintscheidenden Momenten stabilisiert, soll Gefahren beinhalten? Doch Vertrauensmissbrauch gilt zu Recht als Sakrileg, oft kann man nicht sagen, ob ein Vertrauensvorschuss gerechtfertigt ist.Wann man einen Neurowissenschaftler danach fragen würde, wo denn der Sitz dieses Gefühls ist, - er müsste passen. Um sich der Komplexität des Vertrauens anzunehmen, haben sich der Literaturwissenschaftler Jürgen Wertheimer und der Gehirnforscher Niels Birbaumer zusammengetan. Der eine schaut tief in den Fundus der Literaturgeschichte, der andere in unser Gehirn. Kann der Vertrauenscode vielleicht doch entschlüsselt werden?

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Information

Verlag
Ecowin
Jahr
2016
ISBN
9783711051646

Kapitel 1

Einige Grundlagen und etwas Theorie

Am 24.3.15 startet Germanwings-Flug 4U9525 von Barcelona nach Düsseldorf mit 150 Passagieren an Bord um genau 10:01 Uhr. 40 Minuten später wird die Maschine an einem Felsen der französischen Alpen zerschellen – offenbar vom Copiloten selbst ins Verderben gesteuert. Es gab keine Überlebenden dieses Crashs. Im Glauben an die Zuverlässigkeit der Piloten hatten sich alle einem todessüchtigen Selbstmörder anvertraut.
Silvesternacht 2015/16, Domplatte Köln. Ohne Vorwarnung verwandelt sich eine ausgelassene Neujahrsfeier unter freiem Himmel in eine erschreckende Treibjagd auf junge Frauen. Dutzende von ihnen werden eingekreist, angepöbelt, sexuell angegriffen. Die Polizei steht den unerwarteten Geschehnissen hilflos gegenüber. In der für sie selbstverständlichen Annahme, sich auf diesem Platz frei und gefahrlos bewegen zu können, hatten die Frauen sich einer nicht erwarteten Gefahr ausgesetzt.
Ein Paar an einem Tisch in einem Lokal. Man unterhält sich gedämpft, lauernd. Sie, mit leise empörter Stimme: »Du vertraust mir nicht!«. Seine Antwort kommt zögerlich und zugleich etwas süffisant: »Ich liebe Dich. Vertraut hab ich Dir nie.«[1]
Drei Beispiele aus unterschiedlichen, öffentlichen wie privaten Lebensbereichen, die zeigen, dass unser tägliches Leben und unsere soziale Ordnung auf Vertrauen beruhen. Kaum ein Tag, an dem nicht von einer großen Institution, sei es eine Automarke oder eine Partei, um Vertrauen geworben würde. Besonders im Moment der Krise. Diese Werbungsversuche zeigen aber auch, dass kaum ein Gefühlszustand trügerischer und gefährlicher ist als der des Vertrauens. Im positiven Fall verbindet er Menschen und stabilisiert die Gesellschaft. Im negativen Fall, wenn Vertrauen enttäuscht oder gebrochen wird, verwandelt sich der Akt des Vertrauens in ein Katastrophenszenarium. Jedem geglückten Betrug geht nicht zufällig ein Akt des Vertrauens voraus. Erfolgreiche Betrüger sind großartige Vertrauensdarsteller, müssen es sein, um ihre Opfer dazu zu bewegen, ihnen Vertrauen zu schenken.
Aus diesem Grund haben sich ganz unterschiedliche Wissensbereiche immer wieder intensiv mit dem Phänomen des Vertrauens beschäftigt, allen voran die Experimentalpsychologie. Ihr ging und geht es vor allem darum, die wichtigsten Determinanten (Ursachenfaktoren) auf psychologisch-sozialer Ebene präzise herauszuarbeiten. Diese psychologischen Erkenntnisse bilden die Grundlage für eine neurobiologische Theorie des Vertrauens. Ohne eine präzise verhaltenspsychologische Definition von Vertrauen lassen sich die entscheidenden Hirnfaktoren nicht isolieren. Die Hirnforschung hat sich bisher wenig mit dem Phänomen befasst, nicht aus Ignoranz oder Desinteresse, sondern wegen der Schwierigkeit, die verschiedenen Aspekte und Ebenen des Phänomens in hirnphysiologischen Experimenten zu operationalisieren.

Vertrauen fassen und Vertrauen fordern

Obwohl man zwischen den Anfangsphasen des Vertrauens gegenüber Fremden und den späteren Konsolidierungsphasen vertrauensvollen oder misstrauischen Verhaltens unterscheiden muss, ist erstaunlich, dass in allen psychologischen Untersuchungen, die sich mit dieser Besonderheit des Vertrauens befassen, das Vertrauen gegenüber Fremden eine Verhaltenstendenz darstellt, die, wenn sie einmal entwickelt wurde, über die gesamte Lebensspanne relativ stabil bleibt. Dasselbe gilt für Misstrauen und die Angst vor Vertrauensbruch. Auch diese Eigenschaften bleiben erstaunlich stabil.
Wichtig für unser Verständnis und die Analyse von Vertrauen ist die scheinbar triviale Tatsache, dass Vertrauen immer das Resultat einer Interaktion zwischen den Eigenheiten einer spezifischen Vertrauenssituation und den individuellen Charakteristiken der vertrauenden Person darstellt. Dies bedeutet, dass man auf der einen Seite annehmen muss, dass Individuen ihr Vertrauen an situationsspezifischen Variablen, wie zum Beispiel der Vertrauenswürdigkeit des oder der Anderen, ausrichten, und Vertrauensverhalten somit variiert. Auf der anderen Seite steht die Tatsache, dass Personen eine relativ stabile Verhaltenstendenz gegenüber Fremden und Neuem aufweisen und sich somit in verschiedenen Situationen stets in ähnlicher Weise verhalten.
Diese Interaktion zwischen den stabilen Eigenheiten des Individuums und den situationsspezifischen Auslösern gilt es nun quantitativ zu beschreiben und in ein theoretisches Modell einzubauen, das erlaubt, sowohl situationsspezifisch als auch personenspezifisch Vertrauensverhalten vorherzusagen. Bei derartig komplexen psychologischen Verhaltenskategorien wie der des Vertrauens ist natürlich nicht ein spezifischer Faktor verantwortlich, sondern Vertrauensverhalten ist ein Zusammenspiel vieler situativer und persönlicher Determinanten. Unterschiedliche Persönlichkeitseigenschaften spielen dabei eine Rolle.
Wenn man einen Neurowissenschaftler fragen würde, wo denn der Sitz des Vertrauens ist, brächte man ihn in Schwierigkeiten. Der Versuch, dieses Grundgefühl menschlichen Zusammenhalts in irgendwelchen aktivierten Gehirnsegmenten anschaulich zum Aufleuchten zu bringen, würde sich als Fehlschlag erweisen. Was im Fall von »Liebe«, »Angst« oder »Glück« so gut zu funktionieren scheint – kaum eine Zeitschrift, die nicht die berühmten bunten Gehirnscans zeigen würde –, misslingt im Fall des Vertrauens gänzlich. Denn die beeindruckenden bildgebenden Verfahren erklären nicht, was diesen Lichtblitzen wirklich zugrunde liegt, was sie bedeuten und wie sie mit anderen, darstellbaren Hirnaktivitäten verbunden sind.
Was also tun, um dem Urphänomen »Vertrauen«, dem Phänomen »Urvertrauen« näherzukommen? Auch begriffsgeschichtliche Annäherungen führen nicht wirklich weiter, beschreiben sie doch immer nur unsere diskursiven Vereinbarungen, Sprachregelungen, mittels derer wir uns über die jeweiligen kulturellen Normen in Bezug auf das Phänomen Vertrauen – sozusagen bei Tageslicht – verständigen. Über die dunkle, begriffsabgewandte Seite dieses Gefühls hinter den Gefühlen wissen wir dennoch zu wenig.
Missbrauch, Misstrauen und Zerstörung von Vertrauen prägen unser Handeln. Dennoch rangiert der Begriff des Vertrauens auf dem Bazar recycelbarer Werte nach wie vor an oberster Stelle: Kaum eine politische Rede, in der es nicht vehement gefordert oder vorausgesetzt würde. Was diese rhetorische Vertrauenssüchtigkeit so skurril erscheinen lässt, ist die Tatsache, dass sie inmitten einer Welt stattfindet, der man jegliche Vertrauensseligkeit gründlich ausgetrieben hat: weltweite Bespitzelung, frei flottierender Datenhandel und die Kriminalisierung jener, die dagegen protestieren, sprechen eine deutliche Sprache. Doch die Gebetsmühle der Vertrauensbeschwörungen dreht sich unablässig weiter. Straff organisiertes »Controlling« rund um die Uhr, aber keiner, der sich entsprechend der alten Apparatschik-Losung des »Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser« dazu bekennen würde. Im Gegenteil, ein ominöses »Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser« scheint inzwischen die Losung des Tages zu sein, selbst die »Controller« verlangen Vertrauen in die Art ihrer Vorgehensweise.
Ob die Alltagsweisheit eines skeptischen »Trau, schau, wem?« oder die patriotische Losung eines pathetischen »In God we trust«, ob Gottvertrauen, Urvertrauen, Vertrauensvorschuss – das diffuse, aber starke Gefühl des Vertrauens ist der Kitt, der die Welt im Innersten zusammenhält. Umgekehrt ist fehlendes Vertrauen oder glatter Vertrauensbruch wie ein Gift, das organische Zusammenhänge zersetzt und Bindungen auflöst. Liebe, Beruf, Politik, Religion – weltweit beruhen Ordnungen auf Vertrauen und vertrauensbildenden beziehungsweise Vertrauen suggerierenden Beschwörungsversuchen.
Wir sollten den Ursprüngen unserer nachweisbaren Vertrauenssüchtigkeit nachgehen, um etwas über uns selbst zu erfahren. Denn auch dies ist sicher: Kaum ein anderes Gefühl ist so trügerisch und undurchschaubar wie das des Vertrauens. Vertrauen, ein Gefühl, das aus Gefühlen besteht, kann extrem trügerisch sein. Blindes Vertrauen kann für den Vertrauenden der direkte Weg in die Hölle sein, wobei das Prekäre genau darin besteht, Vertrauen auch gegen den äußeren Anschein bedingungslos zu investieren, ja investieren zu wollen. Und sei es nur, um sich nicht dem Vorwurf kleinlichen Misstrauens, des schäbigen Gegenspielers des Vertrauens, auszusetzen. Schnell kann das gute Gefühl der Treue, des Vertrauen-Wollens in Selbstzerstörung münden, eine leere Wahnvorstellung, die den Vertrauenswilligen der Gefahr aussetzt, zum Opfer zu werden.
Vertrauensverhältnisse sind Privatsache, sind eine höchst persönliche, ja intime Angelegenheit. Zugleich aber beinhalten sie auch eine eminent wichtige politische Dimension. Der bloße Akt der Vertrauensspende ersetzt oder schafft Werte. So wie der Akt des Vertrauensentzugs sie zerstört. Vertrauen ist mithin der Stoff, aus dem gesellschaftliche Bindungen bestehen. Auch wenn es sich nur um Wunschbilder handeln sollte. Es stellt sich sogar die Frage, ob alles Vertrauen letztlich bloße Projektion ist, also eine Illusion, darstellt, die eine Art Ordnungs- und Sinngefüge vermittelt. Religion, Politik, Wirtschaft – alles menschliche Handeln unterliegt dem Kalkül des investierten und erworbenen Vertrauens.
Die Dynamik der Vertrauensverhältnisse ist gewaltig und sie vermag es, paradoxe Reaktionen hervorzurufen, etwa Vertrauen in Momenten zu fordern, in denen tiefstes Misstrauen angebracht wäre, oder aber Vertrauen grundlos zu entziehen, dort, wo Vertrauenswürdigkeit angemessen erscheint. Der Akt des Vertrauensbruchs wird noch immer als gravierender Verstoß gegen die gesellschaftliche Ordnung betrachtet, obwohl jeder davon ausgeht, dass Vertrauensbrüche ständige Begleiter des Alltags sind. Vertrauen, Vertrag und Versicherung stehen in einem spannenden, dialektischen Verhältnis zueinander.
Die Vertrauensprogrammierung ist so gesehen Teil eines subtil kodierten Machtsystems. Teil eines Machtsystems ohne Inhalte und Werte. Im Gegenteil: Unreflektiert betrieben, kann die Forderung nach Vertrauen sogar Teil eines perfiden Selbstentmündigungsprozesses sein.
Umso wichtiger ist es, die Grammatik des Vertrauens zu erlernen, ihre Rituale ohne ethische Wunschvorstellungen oder ideologische Verblendungen zu studieren. Es müsste ein Labor geben, in dem man Wirklichkeit und Wirklichkeitswahrnehmungsprozesse gefahrlos und dennoch hautnah durchspielen kann. Es müsste ein Archiv geben, in dem man Szenarien des Vertrauens dokumentiert fände. Nun, es gibt solch ein Archiv, dessen Wert als unendlich reiche Quelle für die Entschlüsselung der Vertrauenscodes wir unverständlicherweise bislang wenig nutzen: das der Literatur.

Das Archiv der Literatur

Über die Zeiten hinweg, kulturübergreifend und in allen nur erdenklichen Facetten spiegelt die Literatur die Szenarien unserer vertrauensbildenden und vertrauenszerstörenden Verhaltensweisen, sie spielt sie durch, akribisch und zumeist auch ohne ideologische Scheuklappen. Sie durchleuchtet den dubiosen Mythos des Urvertrauens ebenso wie pragmatisches Vertrauenskalkül, dringt in die intime Innenwelt sprachlosen Vertrauens ebenso ein wie in die Paranoia grenzenlosen Misstrauens. Sätze wie »Wenn wir immer wüssten, wem wir trauen können«, »Du hättest mir nicht misstrauen sollen«, »Jetzt müssen Sie mir vertrauen« oder aber »Du darfst niemandem vertrauen« durchziehen unseren Alltag und zeigen unsere Unsicherheit, Widersprüchlichkeit und Bedürftigkeit im Umgang mit den Koordinaten des Vertrauens. Literarische Texte sind präzise Dokumentationen jener Verläufe, die unser Handeln bestimmen. Ein Blick in sie ersetzt manches Gehirn-Scanning – ist, wenn man so will, eine Art Gehirn-Scanning mittels Tinte und Papier.
Nur die Literatur verfügt über den Grad an Komplexität – man kann auch sagen, an Wahrheitsversessenheit –, um dem Phänomen des Vertrauens auf Umwegen näherzutreten. Historische Quellen, religiöse Schriften, politische Bekundungen, theologische Interpretation, sie alle verfolgen letztlich ideologische Ziele, innerhalb derer das Vertrauen eine ganz bestimmte, meist strategische Rolle spielt. Vertrauen stellt jedoch einen hochkomplizierten, diffizilen Zwischenzustand dar, der auf vielen anderen Gefühlen aufbaut, wächst oder verdorrt. Und nur, wenn man bereit ist, das gesamte Gefüge unserer emotionalen Ausstattung zu erkunden, hat man eine Chance, die Gesetze dieser Macht zu verstehen. Auf dem Umweg über Hass und Liebe, Angst und Ekel, Scham und Trauer, Melancholie, Depression oder Gelächter kommt man schließlich dem Kern jenes Systems näher, das man pauschal mit dem Begriff des »Vertrauens« belegt. Denn nichts wäre verfehlter als die Annahme, Vertrauen sei per se erwünscht und selbstverständlich.
Erinnern wir uns an den Fall »Effi Briest«, der bekanntesten Heldin Theodor Fontanes. Erst kurz vor ihrem Tod als Ausgestoßene findet sie die Worte, um die heillose Verstrickung in die Strategien ihres Mannes zu durchbrechen. Diesem ist es gelungen, ihre Ängste als Mittel der Domestizierung einzusetzen. Mittel hierzu war der Einsatz einer ganzen Reihe von perfiden Techniken, die systematisch zur Zerstörung jeder Vertrauensgrundlage führten. Nur auf diesem Boden war es ihm möglich, eine Unkultur des Beschuldigens, der Unmöglichkeit des Verzeihens, aufzubauen, die zur Vernichtung des anderen führen muss.
Fragt man nach den Gründen für diese planmäßige Zerstörung von Vertrauen, kann man nur zu einem Schluss kommen: Vertrauen als Ausdruck individuellen Empfindens schwächt Systeme, die auf Dominanz ausgerichtet sind. Was als moralische Schaufenstertugend erwünscht ist, wird als persönliches Gefühl zum Problem. Ein Problem, das gelegentlich in ein Labyrinth scheinbar widersprüchlicher Verhaltensweisen führt. Ein Blick in die zugrundeliegenden psychologischen Faktoren zeigt jedoch, dass hinter dem Chaos unserer Reaktionen eine durchaus geregelte Ordnung zu erkennen ist. Und diese Ordnung zu entschlüsseln vermag sicher nicht die Literatur allein. Der Blick der Hirnforschung kann heute in verborgene Zonen unseres Verhaltens eindringen und Dinge sichtbar machen, die wir bisher in dieser Klarheit nicht erkennen konnten. Zur Verdeutlichung der kognitiven Prozesse finden Sie im Anhang vier Abbildungen, auf die wir uns im folgenden Text beziehen.

Unsicherheit, Unwissen, Angst

Zwei wesentliche psychologische Aspekte zeichnen alle Vertrauenssituationen aus: Zum einen Unsicherheit und Risiko: Der Vertrauende hat keine Kontrolle über das Verhalten dessen, dem er vertraut. Zum anderen basieren Vertrauenssituationen darauf, dass die Person, der man vertraut, im Interesse des Vertrauenssuchenden handelt. Wer einem anderen vertraut, geht stets das Risiko ein, betrogen und verletzt zu werden (vgl. Abb. 1).
Zum ersten Faktor, dem der Unsicherheit und des Risikos: Vertrauen ist nur dann notwendig und entsteht nur dann, wenn Informationen über die Absichten des Gegenübers fehlen, wenn man also das Verhalten des Gegenübers nicht vorhersagen kann. Ist es völlig vorhersagbar, benötigt man weder Vertrauen noch Misstrauen. Vertrauen wird primär in Situationen benötigt, die von sozialer Unsicherheit geprägt sind. Dies impliziert natürlich immer auch das Risiko des Betrugs, sodass der Vertrauende stets die Wahrscheinlichkeit positiver oder negativer Konsequenzen seines Vertrauens abschätzen muss. Dieser Vorgang des Abschätzens möglicher Konsequenzen ist in der Psychologie und in der Neurowissenschaft gut erforscht und kann sehr schnell unbewusst oder auch rational bewusst erfolgen.
Aber selbst dann, wenn aus dem Vertrauenschenken mit Sicherheit positive Konsequenzen zu erwarten sind, bleiben Betrug oder Enttäuschung immer der Zwilling des Vertrauens. Zwischenmenschliches Vertrauen ist also immer mit einer riskanten Entscheidung verbunden, da man sich in einer unsicheren Situation von den Verhaltensweisen eines anderen abhängig macht. Ob man jemandem vertraut, hängt also von der Erwartung ab, ob die andere Person in einer positiv-unterstützenden Reaktion handeln wird, obwohl die Möglichkeit besteht, dass dieses Vertrauen durch Betrug enttäuscht wird. Unsicherheit, Risiko und Erwartung bestimmen also nicht nur das Vertrauen, sondern steigern auch die Verletzbarkeit.
Das Verständnis von Vertrauensprozessen wird dadurch erschwert – und dies lässt sich an vielen literarischen Beispielen illustrieren –, dass die kognitiven Erwartungen und Vorstellungen und das reale vertrauensvolle Verhalten nicht unbedingt korrelieren müssen. Das bedeutet, dass eine Person auf Vorstellungsebene subjektiv jemandem vertrauen und gleichzeitig ein Verhalten zeigen kann, das das Gegenteil anzeigt. Dasselbe gilt für den umgekehrten Fall. Dies macht dann auch die Analyse der hirnphysiologischen Vorgänge schwierig, da neuronale Korrelate der kognitiven Prozesse des Vertrauens, vor allem der Erwartung und der Unsicherheitsreduktion, anders aussehen als die Prozesse, die dem realen motorischen Verhalten in Vertrauenssituationen zugrunde liegen. Die drei zentralen Komponenten des Vertrauensverhaltens sind also Vertrauenserwartung, Risiko- und Verlu...

Inhaltsverzeichnis

  1. Vertrauen
  2. Vorwort
  3. Kapitel 1   Einige Grundlagen und etwas Theorie
  4. Kapitel 2   Mythos Urvertrauen: Woher kommt es? Wie lang bleibt es?
  5. Kapitel 3   Zähmungen und Wetten
  6. Kapitel 4   Die hohe Schule des Vertrauens
  7. Kapitel 5   Schlag nach bei Shakespeare
  8. Kapitel 6   »Du hättest mir nicht mißtrauen sollen.« Vertrauen und soziale Zugehörigkeit bei Kleist
  9. Kapitel 7   Der Sandmann kommt oder: Das Ende des Vertrauens
  10. Kapitel 8   Vertrauenssucht versus Materialismus: Brechts Der gute Mensch von Sezuan
  11. Kapitel 9   Am Anfang war die Angst – und ihre Abwehr
  12. Kapitel 10   Das Theater als Schule des Mit-Leidens: Die Vertrauensfrage in der griechischen Tragödie
  13. Kapitel 11   Sein oder Nichtsein: Ohne Vertrauen kein Handeln
  14. Kapitel 12   Die Domestizierung der Gefühle in der Aufklärung
  15. Kapitel 13   Idole des Vertrauens oder Vertrauensverführer
  16. Kapitel 14   Schuld und Vertrauen bei Kafka
  17. Kapitel 15   Fehlendes Vertrauen: Am Nullpunkt der Gefühle
  18. Kapitel 16   Zeichen des Vertrauens
  19. Kapitel 17   Liebe und Vertrauen: Ein ungleiches Paar
  20. Kapitel 18   Die Kehrseite des Vertrauens: Ekel und Scham
  21. Kapitel 19   Vertrauen und die Ambivalenz des Lachens
  22. Kapitel 20   Familie: Hort des Vertrauens?
  23. Kapitel 21   Kinder und Vertrauen
  24. Kapitel 22   Vertrauen. Gottvertrauen
  25. Händler und Hochstapler des Vertrauens: Ein Epilog
  26. Abbildungen
  27. Literaturverzeichnis
  28. Dank