1 Einleitung
Wissenschaftliche Konzepte versuchen, methodisch geleitetet die Phänomene der Erfahrung auf den Begriff zu bringen. Sie sind dabei notwendigerweise Abstrakta, also keine Dinge, die sich so in der Welt finden lassen. Wir können nicht »die Übertragung« oder »den Trieb« beobachten und als solche erkennen, sondern es handelt sich um Konzepte, die sich auf Phänomene beziehen. Konzepte, erst recht wissenschaftliche, brauchen eine argumentative Schlüssigkeit und die begrifflichen Zusammenhänge, in welche die Phänomene der Erfahrung gestellt werden, müssen »sparsam« genug sein. Neben diesen beiden Merkmalen von Konzepten und Konzeptbildung (argumentative Schlüssigkeit, Sparsamkeit) lässt sich als drittes der Kontext eines methodischen Zugangs nennen (d. h. der Erfahrungswelt in beschreibbarer und nachvollziehbarer Weise zugewandt). Die Psychoanalyse geht dabei vom Einzelfall der klinischen Situation aus und versucht zu konzeptualisieren, was sich dort ereignet. Dabei liegt die Verallgemeinerung auf der Ebene der Konzeptbildung und weniger auf derjenigen der Vorhersagbarkeit.
Von diesem Ausgangspunkt aus ist es in vorangegangenen Arbeiten um das Konzept des Triebes gegangen (Storck, 2018a). Über den Trieb, von Freud (1915c, S. 214) als »Grenzbegriff« zwischen Psyche und Soma bezeichnet, also gleichsam in einer Scharnier- oder Vermittlungsfunktion zwischen beiden, lässt sich thematisieren, wie sich Physiologie-nahe Erregung in psychisches Erleben umsetzt. In diesem Sinn lässt sich vom Trieb als einem psychosomatischen Konzept sprechen. Hinzu treten zwei weitere Merkmale: Im Triebkonzept wird zum einen eine sozialisatorische Dimension beschrieben (statt einer ethologischen oder instinkthaften), insofern das, was konzeptuell »Trieb« genannt wird, durch körperliche Interaktion (und damit durch soziales Geschehen) hervorgerufen wird. Durch die Wirkung von Berührungserfahrungen in der frühen Entwicklung wird dem Erleben die Aufgabe gegeben, sich darauf einen repräsentatorischen »Reim« zu machen. Zum anderen erscheint in dieser Perspektive »Trieb« monistisch (statt dualistisch, wie überwiegend in der Freud’schen Konzeption der Fall), insofern sich nicht verschiedene Qualitäten dieser Vermittlungsfunktion beschreiben lassen, so dass das Konzept in der Folge Teil einer Theorie der allgemeinen Motivation des Psychischen ist. Es hilft, begreiflich zu machen, wie Psychisches als solches motiviert ist, und sagt selbst noch nichts aus über den Inhalt spezifischer motivationaler Zustände.
Eine psychoanalytische Theorie der speziellen Motivation kann im Konfliktbegriff gefunden werden (Storck, 2018b). Dieser lässt sich grundlegend über das psychoanalytische Verständnis der Sexualität begreifen: Hier geht es um einen erweiterten Begriff von Sexualität als infantile Psychosexualität. Darin geht es um eine Betrachtungsweise, die Lust und Unlust im Zusammenhang mit körperlichen Empfindungen (nicht nur genitalen) als erste und wichtigste Strukturierungsprinzipien des Psychischen begreift. Hier werden die Phasen der psychosexuellen Entwicklung leitend (oral, anal, phallisch-ödipal), bezüglich derer sich eine eher konkretistische, körpernahe und eine »thematische« Lesart unterscheiden lassen. Oralität etwa nimmt ihren Ausgangspunkt von konkreten Entwicklungsaufgaben und phasentypischen Interaktionen, die mit Körperlichkeit zu tun haben, steht aber im Verlauf in einer Linie, bei der es um Fragen nach Versorgung und Bedürfnissen geht. Kindliche Sexualität ist psychoanalytisch betrachtet partialtriebhaft, d. h. noch nicht »vereinigt« unter dem »Primat« genitaler Sexualität und Befriedigung. Im Hinblick auf Sexualität und Konflikttheorie ist die Konzeption ödipaler Konflikte in Betracht zu ziehen: In zeitgenössischer Hinsicht lassen sich diese als Entwicklungsaufgabe (und psychisches Strukturierungsprinzip) verstehen, in der es sich um die Auseinandersetzung mit Generationen- und Geschlechterunterschieden dreht sowie mit der Möglichkeit, aus Beziehungen zwischen anderen prinzipiell relativ und passager ausgeschlossen sein zu können. In der psychischen Entwicklung ist es vonnöten, erkennen und tolerieren zu können, dass die eigenen Beziehungspartner auch zueinander in Beziehung stehen und sich so ein Geflecht aus Beziehungen aufspannt. Neben Konflikten in motivationaler Hinsicht lassen sich Konflikte auf repräsentationaler Ebene beschreiben, zum Beispiel die Notwendigkeit, widerstreitende Affekte und damit unterschiedliche Teile der Repräsentanz vom Selbst und anderen überein zu bekommen. Die Psychoanalyse setzt sich dabei insbesondere mit unbewussten Konflikten auseinander.
In der Folge stand daher das Konzept des dynamisch Unbewussten im Zentrum (Storck, 2019b). Freuds Anliegen war es, eine Metapsychologie zu entwerfen, was in seinen Begrifflichkeiten auf eine Theorie des Psychischen verweist, die ein psychisch Unbewusstes einbegreift. Sein psychoanalytischer Beitrag besteht darin, dies als ein dynamisch Unbewusstes zu beschreiben, das mit einem innerpsychischen (konflikthaften) Kräftespiel von Wunsch und Verbot, von drängenden und verdrängenden Kräften zu tun hat. So wird etwas vom bewussten Erleben ausgeschlossen, weil es Unlust nach sich ziehen würde (bzw. mehr Unlust als Lust), in Form von Schuldgefühlen, Scham oder Angst. Dabei kann von einer »Verhältnishaftigkeit« des Unbewussten ausgegangen werden, das sich im Verhältnis zwischen Vorstellungen und Affekten zeigt und zugleich verbirgt. Von besonderer Bedeutung ist dabei gewesen, der Frage nach den Möglichkeiten der »validen« klinischen Arbeit mit Unbewusstem nachzugehen. Hier ist das Konzept des szenischen Verstehens wertvoll, in dem umschrieben ist, dass für Analytiker1 und Analysandin etwas Unbewusstes dann spürbar wird, wenn es sich in der aktuellen Beziehung zwischen beiden zeigt.
Im nächsten Schritt ging es um die psychischen Objekte (Storck, 2019c). »Objekte« ist die psychoanalytische Bezeichnung für die Elemente der Repräsentanzwelt, terminologisch zurückzuführen auf ein triebtheoretisches Vokabular, in dem es um die »Objekte« psychischer Besetzung geht. Zentral ist dabei der Begriff der Objektrepräsentanz, ich habe den Vorschlag gemacht, den Begriff »Objekte« für die Elemente des Psychischen zu »reservieren« und statt von »äußeren Objekten« von »Gegenüber« oder »anderer Person« zu sprechen. Dabei ist besonders wichtig, dass Objekte notwendigerweise mit Selbst-Aspekten verbunden sind: Psychische Strukturen bilden sich als Internalisierungen von Interaktionen, in jedem Stadium psychischer Reife stehen Objektrepräsentanzen mit Selbstrepräsentanzen in Verbindung: Objekte gehören zur subjektiven psychischen Welt. Es lassen sich unterschiedlichen Formen der Internalisierung unterscheiden, so etwa Introjektion (als »Aufrichtung« bzw. Bildung der Objekte), Identifizierung (als Veränderung zwischen Selbst und Objekten) und Inkorporation (als Fantasie darüber, das Objekt in sich zu haben). In Behandlungen zeigen sich Teile der Objektwelt von Analysandinnen nicht nur in direkten oder indirekten figürlichen Schilderungen, sondern sie können auch Ausdruck in eher atmosphärischen Berichten (z. B. über Stimmungen oder Landschaften) finden und nicht zuletzt in der analytischen Beziehung spürbar werden.
Das führt zur vorliegenden Untersuchung des Konzepts der Übertragung. (Frühe) Beziehungserfahrungen beeinflussen das aktuelle Erleben von Beziehung und Interaktion. Dass dabei die Eltern eine vorrangige Rolle spielen, hat längst Einzug in die Populärkultur erhalten. Gibt man etwa den Suchbegriff »daddy issues« bei Google ein, erhält man eine Trefferzahl von knapp fünf Millionen (während es bei »mommy issues« nur eine halbe Million ist).
In Loriots »Klassiker« Ödipussi (Loriot, 1988) wird titelgemäß die konflikthafte Beziehung des Protagonisten Paul Winkelmann zu seiner Mutter zum Thema. Wir sehen ihn dabei, wie er eine weibliche Bekanntschaft als Gast in seiner Wohnung empfängt. Sie macht ihm ein Kompliment, dass er es »hübsch hier« habe, er erwidert, es reiche ihm: »Ich bin ja auch meistens bei meiner…« und bricht dann ab. Winkelmann spricht daraufhin, als Mitarbeiter eines Einrichtungsgeschäfts, über die Möbel in seiner Wohnung (die zum Teil Informationsplaketten tragen), während sich sein Besuch umsieht – und ein aufgestelltes Foto seiner Mutter findet. Er sagt: »Ja, das ist ma-ma-meine, meine Mutter, eine ganz, ganz famose Person. Ganz famos. Und das hier ist ein Sitz- und Schlaf-Kombi-Möbel…« Winkelmann hat einen Hefezopf gebacken. Als er ihn serviert, bekommt er ein Lob dafür, dass er ihn selbst gebacken habe, er meint: »Nach einem Rezept meiner Mutter«. Etwas später fragt sie ihn: »Sie hängen sehr an Ihrer Mutter?« Er verschluckt sich und beteuert übereilig: »Ja, schon. Jeder hängt ja wohl an seiner Mutter.« Die angestrengte und knappe Kommunikation wird von Winkelmann kurz darauf euphorisch mit »Mit Ihnen kann man wirklich über alles reden« kommentiert, bevor er sagt, er werde ihr nun etwas sagen, das er bisher einmal in seinem Leben zu einer Frau gesagt habe: Er würde sich mit ihr in einer Tonne die Niagarafälle runtertreiben lassen: »Das habe ich bisher nur zu meiner Mutter gesagt«. Sie erwidert »Da würde ich Sie dann doch bitten, lieber mit Ihrer Frau Mutter zu reisen…«
Hier zeigt sich, wie dem Protagonisten die psychische Repräsentation der Mutter dazwischenfunkt, wenn er eine Frau trifft, und er kaum von etwas anderem reden kann als seiner Mutter. Denkt man psychoanalytisch darüber nach, was hier zu sehen ist, dann geht es zunächst einmal darum, dass wir etwas an unserer Beziehungsbiografie mit uns herumtragen und dass dadurch gefärbt wird, wie wir aktuelle Beziehungen erleben. Interaktionen mit anderen schlagen sich psychisch in Beziehungsvorstellungen nieder und diese Beziehungsvorstellungen oder -repräsentanzen (im Weiteren gleichbedeutend verwendet) färben unser Erleben: Wie färbt unsere Vergangenheit unsere Gegenwart, aber auch: Wie färbt die Gegenwart unseren Rückblick auf die Vergangenheit? Dem kann in einer Untersuchung des Übertragungskonzepts nachgegangen werden (vgl. für umfassende Überblicksarbeiten und kritische Bewertungen z. B. Mertens, 1990; Zepf, 2006; Bettighofer, 2016; Körner, 2018).
Zunächst (
Kap. 2) wird es dabei um die Grundidee des Konzeptes in der freudianischen Psychoanalyse gehen (in zwei verschiedenen Begriffsfassungen), im Anschluss daran (
Kap. 3) um korrespondierende Prozesse und Zustände beim Analytiker, also um die Gegenübertragung. Danach (
Kap. 4) stehen unterschiedliche Formen der Übertragung bei verschiedenen psychischen Störungen im Zentrum, bevor es um die behandlungstechnische Arbeit mit Übertragung und Gegenübertragung gehen wird (
Kap. 5). Abschließend erfolgt ein interdisziplinärer und psychotherapieschulen-übergreifender Blick auf die Übertragung (
Kap. 6) und eine Zusammenfassung samt Ausblick (
Kap. 7).
2 Das psychoanalytische Konzept der Übertragung: Grundlagen, Verbindungen und Variationen
Es geht also, insbesondere unter Rückgriff auf die Überlegungen zum dynamisch Unbewussten und zur Objektrepräsentanz, darum, was an (Beziehungs-) Vorstellungen nicht bewusst zugänglich und trotzdem leitend ist, und andere Formen findet, sich bemerkbar zu machen. Darauf gibt das Konzept der Übertragung eine Antwort.
In einer Folge der TV-Serie The Sopranos (»Pax Soprana«, 1999) sehen wir den Protagonisten Tony Soprano, einen Mafiaboss, der wegen Angstattacken eine Psychotherapie bei Dr. Melfi begonnen hat. Er spricht über Schwierigkeiten in seiner Ehe und u. a. eine Erektionsstörung. Er habe deshalb seiner Frau vorgeschlagen, sich sexyer anzuziehen. Seine Therapeutin greift das auf und spricht darüber, dass sich nicht jede Frau damit wohlfühle, Reizwäsche zu tragen. Tony antwortet, dass es ihm nicht darum gehe – manche Frauen seien sexy, wenn sie sich schlicht kleideten: »So wie Sie. Sie spielen es runter. Es ist offensichtlich, dass Sie einen Hammerkörper darunter haben.« Sie sei zart, nicht laut, wie eine Mandoline. Tony steht auf und beginnt, Dr. Melfi zu küssen, doch sie wehrt ihn ab. Angesichts ihrer Grenzsetzung (und dem Ende der Stunde) verlässt Tony gekränkt die Praxis.
Dass ein Analysand Gefühle, unter diesen eine erotische Anziehung oder Verliebtheit, entwickelt, ist kein Zufall, sondern Teil dessen, dass sich Gefühle, Wünsche, Fantasien und anderes in der therapeutischen Beziehung aktualisieren. Freud hat mit der Beschreibung der Übertragung (und Gegenübertragung) dafür eine konzeptuelle Rahmung bereitgestellt.
2.1 Die Entwicklung des Übertragungskonzepts bei Freud
Gleichwohl muss beachtet werden, dass sich das behandlungstechnische Konzept der Übertragung erst im Verlauf und in Auseinandersetzung mit einigen anderen Annahmen entwickelt hat.
2.1.1 Ursprünge des Konzepts in den Studien über Hysterie
In Freuds Entwicklung der Psychoanalyse als »talking cure« (Freud, 1910a, S. 7) gibt es einige Einflussfaktoren und Vorläufer. Im Anschluss an die Hypnose als einem wichtigen Ausgangspunkt entwickelt Freud den Gedanken einer »Druckprozedur« (1895d, S. 307): Er nimmt vorübergehend an, dass – auch ohne Hypnose...