„Wer als Kapitän nicht weiß,
welches Ufer er ansteuern will,
für den ist kein Wind der richtige.“
Wir sind unser Kapitän. Aus der Verantwortung entlässt uns niemand. Gegenwind und Untiefen, Klippen und Gegenströmungen können uns behindern. Äußere Hindernisse und Zwänge, Vorgaben und Bedürfnisse haben auf der Lebensfahrt wechselnden Einfluss. Doch das Ziel hält uns auf Kurs, bestimmt den Weg. Und der ist bei Ihnen und zum Glück auch bei mir etwas länger als nur 50 Meter bis zu einem nächsten Beckenrand.
Der Ozean des Lebens bietet viele Möglichkeiten für uns, ganz unterschiedliche Ufer anzusteuern und Routen dorthin zu nehmen. Die Möglichkeit, sich zu verfahren, ist dabei nicht ausgeschlossen. Seneca, römischer Dichter und Politiker, verpackte in seinem Aphorismus charmant Kritik an der damaligen Führung, keine Perspektive für die Mitfahrer und sich selbst zu haben. Jede Rolle, die ein Mensch nach außen ein- und übernimmt, solle zu seinem Innern passen.
Jeder tut, was er tut, immer für sich. Ein persönliches Ziel lenkt den Antrieb jedes Menschen. Ohne diese Grundannahme wären auch Analysen unserer Motivation in der Psychologie nicht denkbar. Der Gegenstand zur Betrachtung würde dann schlicht und einfach fehlen. Um es zugespitzt zu sagen:
Es ist nicht möglich, sich als Ziel zu setzen, keine Ziele zu haben.
Das Streben nach Fortschritt ist uns eigen. Sonst wären wir überhaupt nicht durch die Evolution zu dem geworden, was wir sind. Etwas erreichen zu wollen, liegt jedoch in der Natur des Menschen. Und so ist es unser mitunter unausgesprochenes Ziel, für sich im Leben Siege anzustreben. Dazu muss aber niemand immer und sofort andere besiegen.
Auch die größten Wohltäter genügen mit ihrem selbstlosen Handeln immer eigenen Zielvorstellungen. Die Selbstverwirklichung erfolgt über den Wunsch, anderen zu helfen.
Das Gegenteil verkörpern die brutalsten Tyrannen und Terroristen, getarnt als Märtyrer für ein religiöses oder politisches Ziel. Hier wird das Paradies auf Erden oder im Himmel gesucht – mit allen Mitteln und zuerst für sich. Alle anderen müssen sich anschließen.
Die in sämtlichen Kulturformen und Religionen in unterschiedlicher Weise verankerte „goldene Regel“ wird hier außer Kraft gesetzt: „Was Du nicht willst, dass man Dir tu, das füg auch keinem andern zu“, heißt es zum Beispiel in der Luther-Bibel. Dieser Maßstab setzt dem eigenen Streben klare Grenzen, die auch für mich gelten.
Niemand macht sich also auf den Weg, ohne zu wissen: Wohin?
Auf die Frage gibt es für einen Menschen nie nur eine Antwort. Sich mit zehn Jahren, als junger Mensch, das alleinige Ziel zu setzen, ein Olympiasieger oder Weltmeister zu werden, würde die Möglichkeiten im Leben auf eine Utopie reduzieren. Wenn diese im Einzelfall sogar zur Realität wird, folgt ein noch größeres Problem: Was kommt danach?
Nach meinen beiden Olympiasiegen 1984 im Alter von 20 Jahren hatte ich im Schwimmen alles gewonnen, und das mehrfach. Erst jetzt hatte ich meine ersten Sponsoren – für Badehosen und Plastikuhren. Beides waren Produkte, die ich damals intensiv nutzte und verbrauchte. Viel Sportmanager riefen an, um mich besser zu vermarkten. Zweifellos gab es da einiges zu tun.
An einem Samstagnachmittag im Herbst nach Olympia, ich war inzwischen bei der Bundeswehr in der Grundausbildung und nur am Wochenende zu Hause, saß Ion T¸iriac bei meinen Eltern, wo ich noch wohnte, am Esszimmertisch. Damals kannte ihn kaum jemand, einer unter vielen in einer schillernden Szene.
„Wenn wir ein paar Jahre zusammenarbeiten, werde ich dafür sorgen, dass Sie danach nie mehr arbeiten müssen.“ Sein erster Satz saß und beeindruckte mich. Gradlinig auf den Punkt formulierte er den Vorteil für seinen Kunden. Das gefiel mir.
In der nächsten Stunde wusste er im Gespräch auf jede kritische Frage, wie er das Ziel erreichen wolle, die passende Antwort. „Ich habe nur eine Bedingung“, sagte er zum Schluss: „Sie müssen mindestens zu 100 Prozent dem Schwimmen und unserer Arbeit alles unterordnen.“ Auch sein letzter Satz saß, er kam halt aus dem Tennis. Er wusste zur richtigen Zeit die Treffer zu setzen.
Nach wenigen Tagen Bedenkzeit war ich sicher, dass meine spontane Reaktion auf seine Forderung, die ich ihm verbarg, richtig war. Nur schwimmen zu können, war für mich nicht vorstellbar. Ich wollte studieren, daneben weiter schwimmen und auch ein paar Termine für Sponsoren machen, aber nicht zu viele, maximal 20 im Jahr.
Ich brauchte keinen Manager. Ich brauchte die Gewissheit, im Leben neue Ziele entdecken zu können, und nicht die völlige materielle Sicherheit.
Kein Jahr später wurde der neue Schützling von Ion T¸iriac, Boris Becker, aus dem Nichts erstmals Wimbledon-Sieger im Tennis. T¸iriac hatte das goldene Los gezogen. Und Becker hatte mit T¸iriac den passenden väterlichen Betreuer gefunden und für sich die richtige Entscheidung getroffen, durch die Arbeit seines Managers ziemlich sicher nur Tennis spielen zu dürfen.
Hätte ich damals anders entschieden, wären mir viele Herausforderungen und Möglichkeiten, die sich mir bis heute bieten und die nicht nur angenehm sind, verborgen geblieben. Genauso führt es zu wenig (außer zur Frustration), sich als Berufseinsteiger nur den Job als Vorstandsvorsitzender vorzunehmen. Selbst wenn dieses Ziel eines Tages konkret greifbar werden würde, müssten viele Chancen, die auf dem Weg dorthin liegen, unentdeckt bleiben.
Da es nicht nur eine Antwort auf die Frage „Wohin?“ geben sollte, ist jede Suche nach ihr ziemlich schwer: Die verschiedenen Ebenen, auf denen sich unser Leben abspielt, sind in einer Dimension nicht zu erfassen, zumindest nicht in der realen Welt.
Also sollten wir mehrere Zielebenen besitzen. Dadurch geben wir uns selbst mehr Chancen und schaffen zugleich mehr Herausforderungen.
Als unser eigener Kapitän wollen einige vielleicht in ihrem Leben neue Kontinente entdecken. Aber für die meisten von uns gilt das eher nicht. Machen Sie sich deshalb keine Sorgen: Das ist überhaupt nicht schlimm. Denn wir würden uns in der Regel überfordern. Und egal, wie anspruchsvoll das große Ziel ist, auf jedem Weg brauchen wir greifbare Etappen, konkrete Aufgaben im Hier und Jetzt, um es zu erreichen.
Das ist die eine Seite der Betrachtung – von oben nach unten.
Und von unten betrachtet, aus der Perspektive der aktuellen Lebenslage, kommt es vor, ein paar Tage oder gar Wochen und Monate in den Tag hinein zu leben, ohne konkretes Ziel für diesen Moment. Wir können als unser Kapitän auch einmal die Füße über die Reling baumeln lassen, um Luft zu holen, wenn in unserem Innern totale Flaute herrscht. Dafür benötigen wir mitunter ein Wochenende, einen Urlaub oder auch eine längere Auszeit, ein Sabbatical. In dieser Zeit können wir uns, ob bewusst oder intuitiv, wieder unseres Großen und Ganzen im Leben klarer werden und der Flaute in uns.
In der Kombination aller Ebenen von Zielen, die wir uns geben können, entfaltet sich die Kraft, als Kapitän immer weiter zu segeln.
Mit vier wird es leichter
Parallel bestehen zumindest vier Ebenen, die alle ihren eigenen Wert und ihre Bedeutung besitzen. In einer Kaskade stehen sie im Alltag mittelbar in Beziehung. Meist hat die tägliche Aufgabe auf der unteren Ebene keinen direkten Einfluss auf die höchste, die Lebensvision. Dann aber kann sich die Gelegenheit ergeben, dass an einem Tag die Vision Wirklichkeit wird.
Über allen Zielebenen steht erstens das übergreifende „Große und Ganze“, die Lebensvision. Darunter besteht eine zweite Perspektive für die aktuelle Lebensphase oder, je nach ihrer Länge, auch einen Teilabschnitt darin, beginnend mit der Schule, der Berufsausbildung, dem Beruf, der Familie …
Innerhalb dieser Ebene wiederum existieren für einen Lebensabschnitt, die dritte Ebene, konkrete Ziele für die laufende Tätigkeit in den nächsten Monaten, dem Schul- oder Geschäftsjahr, dem Semester oder auch der Spielsaison – bis hin dazu, eine Auszeit zu nehmen.
Schließlich bezieht sich viertens die Frage „Wohin?“ auf den einzelnen Tag, was ich heute leisten oder erreichen möchte. Dies kann auch ganz statisch auf ein Ereignis gerichtet sein, das Rennen oder die Präsentation, die Operation oder die Prüfung.
Das geht nicht, denken Sie? Vier Ebenen überfordern uns?
Nein, im Gegenteil! Wir drängen danach, eine große Perspektive zu entwickeln und parallel aktuell und unmittelbar etwas zu erreichen.
Der Vorteil ist, dass diese kurzfristige, dadurch von Unwägbarkeiten im Zeitverlauf besser geschützte Ebene uns über „Durststrecken“ hinweghelfen kann. Dies gilt besonders in Situationen, wenn die höheren Ebenen für uns gegenwärtig verschlossen erscheinen oder gar vollständig zusammengebrochen sind, zum Beispiel durch einen Unfall oder eine Krankheit.
Sich „von Tag zu Tag hangeln“ ist dann der erste Schritt. Deshalb frustriert es auch so, wenn wir spüren, im Alltag wenig bewegen zu können. Wir ermüden, verlieren den Ansporn, sehen kein Land für uns in Sicht – und resignieren.
Im Sport orientierte ich mich nach Verletzungen an den täglichen Fortschritten, weil die Teilnahme bei irgendwelchen Meisterschaften, ganz zu schweigen von Erfolgen dort, sehr weit entfernt war. Hatte ich die ersten Schritte unternommen und Stabilität gewonnen, stärkte der Gedanke, wieder bei großen Wettkämpfen starten zu können, die Kraft für das tägliche Arbeiten.
Zum Glück hatte ich noch nie mit einer schweren Krankheit zu kämpfen. Doch funktioniert der Mechanismus, wie mir befreundete Klinikärzte berichten, ähnlich: Nach der akuten Bewältigung einer Operation steigt die Chance zur vollständigen Genesung überdurchschnittlich, wenn Menschen wieder große Pläne schmieden, an denen sie sich im Alltag festhalten können, obwohl das Ziel, im Krankenhaus liegend, sehr weit weg erscheint. Das ist keine Schwelgerei in Utopien. Vielmehr braucht ein Mensch Perspektiven, die weiter als die Wände eines Zimmers reichen.
Die Lebensvision als roter Faden
Die Lebensvision schafft die dynamischste Perspektive. Nicht nur, weil sie uns dauerhaft bewegt, vielmehr weil sie sich zugleich selbst verändert und von vielen Einflüssen geprägt wird, den Motiven jedes Menschen und den konkreten Lebensphasen, also der zweiten Ebene.
Dadurch kann sie für uns präsenter werden und durchaus temporär wieder in den Hintergrund treten, aber selten ganz verschwinden. Häufig fängt dieser Prozess an, wenn man Jugendlicher ist. „Mit 17 hat man noch Träume“, heißt es nicht ohne Grund.
Ich wollte Pilot werden, schon immer. Fliegen ist bis heute Teil meiner Lebensvision. Die Umsetzung, Verkehrsflugzeuge zu steuern, scheiterte ganz banal an meiner Körpergröße von über zwei Metern. Bei 193 Zentimetern ist für Bewerber offiziell Schluss.
Die Faszination ist weiterhin gewaltig, wahrscheinlich für immer. Wenn ich beim Start im Flugzeug sitze, merke, wie langsam die Physik wirkt, die Flügel kurz vor dem Abheben nach oben gezogen werden, dann wünsche ich mir, vorne zu sitzen und die Maschine sanft durch die Luft zu steuern. Noch immer kann ich stundenlang bei Interkontinentalflügen aus dem Fenster schauen und die Vielfalt und Schönheit unserer Erde genießen.
Auch unerfüllte Visionen inspirieren, sogar wenn man nicht mehr auf sie hinarbeiten kann.
Oder man merkt erst mit Verspätung, dass man einen Teil seiner aktuellen Vision erreicht hat – weil Menschen immer auf noch etwas Besseres hoffen und darauf hinarbeiten. Bei mir wurden zwei Lebensphasen, Schule und Studium, über 15 Jahre auch durch den Sport geprägt. Die Vision war das perfekte Rennen, ein Moment, in dem alles passt, in dem die eigene Leistung makellos ist und auch im Wettbewerb der Sieg erzielt wird. Dafür lohnen sich alle Anstrengungen, selbst ohne materiellen Lohn.
Über viele Jahre nach diesem Moment, dem Olympiasieg über 100 Meter Delphin in Los Angeles 1984, entfaltete sich das Gefühl: Das war er! Im Moment selber hatte ich nicht dieses Bewusstsein. Da hatte ich nur ein, wenn auch wichtiges Rennen gewonnen. Es braucht einfach noch mehr Erfahrungen, also mehr Rennen, und Abstand, um die Bedeutung dieser 53 Sekunden in meinem Leben in ihrer ganzen Dimension erfassen zu können. Die Schlagzeilen über den Erfolg waren da schon längst verklungen.
Kurz gesagt: Ohne eine Lebensvision sollte kein Mensch leben. Sie besitzt langfristig, vor allem emotional, die größte Kraft, gerade weil sie sich nicht immer erfüllt oder wir uns ihrer erst später bewusst werden.
Haben Sie als Ihr Kapitän bereits Visionen über Bord geworfen? Oder eine an Bord des Lebens ganz tief im hintersten Winkel Ihrer Kajüte vergraben, um sie ab und an wieder aus ihrem Versteck zu holen, so wie ich meine Idee, Pilot werden zu wollen?
Es schadet nichts, Erinnerungen an die Kindheit und Jugend, wo es Visionen gab, die man irgendwann verdrängt hat, die aber weiterhin in uns schlummern, wieder hervorzuholen. Im Gegenteil ergibt sich in einer neuen Lebensphase eher die Chance, sich der Realisierung zu nähern, wenngleich in veränderter Form. Verkehrspilot werde ich nie mehr, aber privat kann ich die Fliegerei immer noch lernen. Der Augenblick war noch nicht da. Ob er kommt, weiß ich nicht.
Wir sollten nie auf ewig abhaken, einen Hafen erreichen zu können.
Die Leere, ohne Vision zu leben, bleibt uns auch deshalb erspart, weil die Vision bei den meisten Menschen, auch bei mir, aus zahlreichen Elementen besteht. Sie konstruiert sich aus der Kombination etlicher Teile. Im Ganzen entsteht mehr als die Summe der einzelnen Elemente – und dadurch wird die Vollendung noch unwahrscheinlicher.
Der Gedanke an die eigene Vision ist vielleicht auch deshalb meist nur sporadisch präsent, prägt im „Hinterstübchen“ das Handeln. Ein permanentes Denken und Streben in diese eine Richtung wäre sehr anstrengend und zermürbend, würde mich zum Beispiel überfordern.
Fanatiker besitzen diese Energie, weil sie wirklich nur eines im Blick haben. Zugleich unterliegt die reine Ausrichtung auf die Lebensvision dem Risiko, die Möglichkeiten auf den anderen Zielebenen zu übersehen. Diese bedeuten vielleicht Umwege durch mittelbare Zwischenschritte, schaffen aber mehr Gelegenheiten, zur übergreifenden Lebensvision zu gelangen.
Die Vision sollte, im Ideal, keinem Zweck oder Zwang unterliegen, sondern zunächst unbenommen von äußeren Zielen oder dem Wunsch, „für andere Gutes zu tun“, bestehen. Es geht schlicht – und zugegebe...