Glücksspielstörung
  1. 180 Seiten
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Über dieses Buch

Bereits 3.000 Jahre v. Chr. waren Glücksspiele der Menschheit bekannt. Unkontrolliertes und zu dramatischen negativen Folgen führendes Glücksspiel wurde erstmalig im Jahre 1561 in einer Abhandlung psychiatrisch thematisiert. Was die Therapie der Störung durch Glücksspiele (ICD-11) angeht, so stehen Medizin und Psychotherapie auch heute noch vor mehr Rätseln als Antworten. Behandlungsansätze, die kurz nach der Aufnahme der Störung in DSM-III vielversprechend waren, werden heute zwar noch immer angewandt; dringend notwendige therapeutische Innovationen hingegen werden zwar vermisst, aber nur selten umgesetzt. Dieser Band bietet neben einem aktuellen Überblick zu dieser komplexen Störung insbesondere auch Denkanstöße für neue therapeutische Herangehensweisen.

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Information

Jahr
2020
ISBN
9783170342040
 
 

1

Einleitung

 
Glücksspiele, frei definiert, versteht man darunter zumeist in Gesellschaft anderer Menschen stattfindende Freizeitaktivitäten, bei denen sich die Teilnehmenden miteinander oder mit einer dritten Partei in einem Spiel messen, das einen materiellen Einsatz erfordert und dessen Ausgang zu einem großen Teil vom Zufall bestimmt wird und wiederum die Aussicht auf einen materiellen Gewinn bietet.
Bereits 3.000 Jahre vor Christus waren Glücksspiele der Menschheit bekannt, dies zumindest lässt sich aus den Funden sechsseitiger Würfel in Teilen Chinas und Mesopotamiens schließen. Auch frühe Niederschriften, etwa aus der Indischen Hochkultur weisen bereits auf das Glücksspiel, bzw. dessen negative Seiten, hin, wenn da von Menschen zu lesen ist, die beim Spiel ihr gesamtes Hab und Gut eingebüßt haben. Entsprechend waren schon rund 500 Jahre vor Christus erste Bemühungen dessen, was wir heute als »Responsible Gambling« (verantwortungsbewusstes Spielen) bezeichnen, zu verzeichnen, als Themistokles für ein Spielverbot für Staatsbeamte plädierte. Auch der Römische Kaiser Justinian verbot im Römischen Reich etwa 500 nach Christus jedwede Teilnahme am Glücksspiel und die Folgejahrhunderte waren geprägt durch wechselnde Einstellungen innerhalb verschiedener Gesellschaftsschichten und abhängig vom jeweiligen Kulturkreis, schwankend zwischen moralischen Bedenken, gesellschaftlichem »Must-have«, harmlosem Freizeitvergnügen und gern gesehener staatlicher Einnahmequelle.
Der Überlieferung zu Folge wurde 1762 das Sandwich erfunden, als sich John Montagu, 4. Earl of Sandwich, nicht von einer stundenlangen Partie des Glücksspiels Cribbage lösen konnte, trotzdem Hunger verspürte und sich Fleisch zwischen zwei Brotscheiben servieren ließ, um es bequem während des Spiels verzehren zu können. Im 17. Jahrhundert wurde schließlich das Roulette populär, Lotterien hatte es zuvor schon gegeben und 1866 erschien Fjodor Dostojewskis »Der Spieler«. Zwei Jahre später schloss der Norddeutsche Bund alle Spielbanken, 1933 hoben dies die Nationalsozialisten wieder auf. Im Jahre 2008 trat der Glücksspielstaatsvertrag in Kraft und mit ihm mehr oder weniger klar geregelte oder durchsetzbare Bemühungen, das Spielverhalten der Bevölkerung, das gesamtgesellschaftlich nun irgendwo zwischen Vergnügen, Zwielicht und Glücksrittertum angesiedelt wird, in kontrollierte Bahnen zu lenken.
Als klinisch relevantes Phänomen wurde die Spielsucht übrigens erstmalig im Jahre 1561 in der Abhandlung »Über das Würfelspiel oder die Heilung der Leidenschaft, um Geld zu spielen« des Arztes und Philosophen Paquier Joostens thematisiert. Ein damals schon großer Titel für ein fraglos großes Phänomen, das ebenso fraglos noch größeres Leiden als die Leidenschaft selbst zu verursachen vermag.
Was die Heilung dieses Phänomens angeht, so stehen Medizin und Psychotherapie auch mehr als 400 Jahre später noch immer vor mehr Rätseln als dass sie klare Antworten hätten. Es scheint, als sei die Behandlung des pathologischen Glücksspiels an ihre Grenzen gestoßen, nachdem in den frühen 1980er Jahren, kurz nachdem das pathologische Glücksspiel erstmals als eigenständige Diagnose in das DSM-III aufgenommen worden war, die Forschung hierzu einen kleinen Boom erleben durfte. 40 Jahre später müssen wir festhalten, dass das, was damals beachtenswert und vielversprechend war, heute zwar noch immer gerne und oft therapeutische Anwendung findet, gleichzeitig aber dringend notwendige therapeutische Innnovationen zwar vielerorts schwer vermisst, aber nur selten umgesetzt werden.
In diesem Band möchten wir Interessierten von daher nicht nur einen aktuellen Überblick zu verschiedenen Aspekten jener Störung, die seit Veröffentlichung des DSM-5 den Namen »Glücksspielstörung« trägt, bieten, sondern insbesondere auch Denkanstöße für eine neue therapeutische Herangehensweise bei der Behandlung dieses Störungsbildes geben. Eine Heilung dessen, was Leiden schafft, sei an dieser Stelle nicht versprochen, wohl aber ein Fingerzeig zu einem innovativeren therapeutischen Umgang.

Fallbeispiel 1: Patientin, 32 Jahre, Glücksspielstörung in Bezug auf Geldspielautomaten

In einer Fachberatungsstelle mit einem Schwerpunkt auf Verhaltenssüchte stellt sich eine 32-jährige Angestellte vor. Die Mutter einer siebenjährigen Tochter berichtet, dass sie vor neun Jahren bereits eine stationäre Rehabilitation wegen einer Automatensucht absolviert habe. Damals habe sie mitten in ihrer Ausbildung zur Köchin gesteckt und sei nach der Arbeit mit anderen Auszubildenden des Restaurants in Spielotheken gegangen, um wenigstens nach Feierabend »noch etwas Spaß und Ablenkung« zu haben. Die Gruppe hätte das als harmloses Vergnügen erlebt, sie hätten nur um kleine Beträge gespielt und sich über die Wutausbrüche und die Versunkenheit anderer Gäste, die »stur vor ihren Automaten hockten« amüsiert.
Während einer der ersten Besuche habe die Patientin direkt Glück gehabt und den Betrag von 3.000 Euro erspielt, eine unverhoffte Aufbesserung ihres Auszubildendengehalts. Und nebenbei wären andere Gäste auf ihren Gewinn aufmerksam geworden, hätten anerkennende Kommentare gemacht und ihr ein »Naturtalent« bescheinigt. Sogar eine Cola sei ihr damals spendiert worden. So habe es langsam angefangen, dass die Patienten nicht mehr nur in Begleitung ihrer Gruppe, sondern immer häufiger auch alleine in die Spielothek gegangen sei. Sie habe bemerkt, dass sie immer ungeduldiger wurde, wenn Gewinne ausblieben, dass sie sehr wohl registriert habe, dass sie mehr Geld in den Automaten warf, als vernünftig war. Jeder neuerliche Geldverlust habe sie frustriert, gar in Panik versetzt. Sie habe sich schwindlig gefühlt, »den Kopf verloren« und wenn ihr Bargeld aufgebraucht gewesen sei, habe sie am Geldautomaten nebenan neues Geld abgehoben. Nach solchen Abenden habe sie sich am nächsten Morgen schuldig gefühlt, regelrecht elend und sich geschworen, nie mehr eine Spielothek zu betreten, zumindest nicht alleine. Doch ihre Gedanken seien schon während der Arbeitszeit immer häufiger in Richtung des Automaten abgeschweift, fast automatisch, beinahe ohne ihr Zutun. Sie habe sich an ihre Gewinne erinnert, an das wohlige Gefühl, das sie dann empfand, daran, wie schön es sei, mehr Geld als üblich zu haben, an die Bewunderung der Menschen um sie herum, an das Gefühl, sich wie eine Königin zu fühlen, wenn man mit dem Gewinn die Spielothek verließ. Dass sie schon lange nicht mehr mit einem Gewinn das Etablissement verlassen hatte, wurde ihr erst später bewusst. Wenn sie etwas gewann, erschien ihr dieser Gewinn nie genug, sondern eher als Einstieg, um »noch mehr rauszuholen«.
Nachdem sie sich wenige Monate später verliebt hatte, wurden die Besuche in der Spielothek zunächst seltener. Mit den ersten Konflikten in der noch jungen Partnerschaft bemerkte die Patientin jedoch zusehends, wie ihr das Spiel fehlte, wie gut sie vor dem Automaten »abschalten, allen Stress wegdrücken« konnte. Sie begann wieder, regelmäßig die Spielothek aufzusuchen, heimlich, sie wollte nicht, dass ihr Partner etwas davon erfuhr, sie wollte generell nicht, dass es jemand wusste. Ihr Partner wurde damals irgendwann misstrauisch, unterstellte ihr eine Affäre. Dies gab den Ausschlag. Die Patientin fühlte sich mit dem Rücken zur Wand und erzählte ihrem Partner alles. Als große Erleichterung erinnere sie dies. Da dieser selbst vor Jahren ein Alkoholproblem gehabt hatte, verstand er die Situation und unterstützte die Patientin bei ihrem Weg in die Behandlung. Die stationäre Rehabilitation in einer Fachklinik habe der Patientin damals immens geholfen.
Nach der Entlassung und der sich anschließenden ambulanten Nachsorge sei sie fast acht Jahre lang abstinent geblieben. Sie sei Mutter einer Tochter geworden und habe eine neue Ausbildung abgeschlossen. Vor zwei Jahren sei ihr Partner, mittlerweile ihr Verlobter und Vater der Tochter, rückfällig geworden, habe bereits morgens Alkohol getrunken und sei gewalttätig geworden. Die Patientin habe nicht gewusst, wie sie mit dieser Situation umgehen sollte. Sie sei verzweifelt gewesen, habe sich allein gelassen gefühlt und habe sich daran erinnert, wie gut ihr früher, manchmal zumindest, in belastenden Situationen das Spiel am Automaten getan habe.
Als sie nach Jahren erstmalig wieder eine Spielothek betrat, habe sie sich selbstsicher gefühlt, sicher, nicht wieder in die Sucht abzugleiten. Sie habe sich an einen der kleinen Bistrotische gesetzt und lediglich einen Kaffee getrunken, einzig die Atmosphäre habe sie in sich einsaugen wollen. Als sie beobachtete, wie ein anderer Gast einen größeren Gewinn einstrich, begleitet von dem altbekannten Klirren und Surren des Automaten, sei dies wie ein »Adrenalinrausch« für sie gewesen. All die Erinnerungen an frühere Zeiten hätten mit einem Mal ihr Bewusstsein geflutet, wohlige Gefühle mit sich gebracht, ein Versprechen nach einem anderen, einem besseren Leben, nach Ruhe und Frieden.
Mehrere Monate später sei sie wieder an genau dem Punkt angekommen gewesen, an dem sie vor fast einem Jahrzehnt schon gewesen war. Dass sie das nötige Geld für den Schulausflug ihrer Tochter nicht habe aufbringen können, dass ihnen zu Hause der Strom fast abgestellt worden war, weil sie die Rechnungen nicht begleichen konnte, dass sie sich vor ihrer Tochter so sehr schämte, waren dieses Mal die Gründe, sich in der Beratungsstelle vorzustellen.

Fallbeispiel 2: Julius C., Poker in der Spielbank

»Ich bin ein Held«, das ist der Gedanke, der Julius C. begleitet, als er die Spielbank verlässt. Es ist spät geworden, kaum noch Leute auf den Straßen. Wie lange hatten sie Texas Hold’em im Cash Game Format gespielt? Das mussten gute sieben Stunden gewesen sein. Er hatte heute eigentlich gar nicht die Spielbank betreten wollen, war zuletzt eher im Spiel glücklos gewesen, an fast jedem Tag in der letzten Woche. Viel zu oft dort gewesen, dachte er sich, man durfte das nicht erzwingen wollen, dann klappte das ja nicht mit dem Glück. Aber nach Feierabend und allein in seiner Wohnung hatte er dann die Überzeugung gewonnen, dass ein oder zwei Stündchen am Pokertisch nicht schaden können.
Seine Rechte tastet nach der Geldklammer in der Innentasche seines Sakkos. Prall fühlt sich das an, nach Erfolg fühlt sich das an, denkt er. »Wenn Poker nichts mit Glück zu tun hätte, würde ich jedes Mal gewinnen«, denkt er sich weiter, den Pokerprofi Phil Hellmuth zitierend, ein Held seiner Jugend. Ja, er hätte mehr herausholen können, wären nicht diese Dilettanten am Tisch gewesen. Am Anfang hatten die immer Glück, das war einfach so, das berüchtigte Anfängerglück. Seine Gedanken kreisen um die eine oder andere Hand, die zu seinen Ungunsten ausgefallen war, Ärger macht sich breit, leise, aber hartnäckig Wellen schlagend. Wenn alle vernünftig spielen würden, wie Erwachsene eben, wäre die Ausbeute praller, müsste er sich jetzt nicht ärgern. Der Gedanke treibt ihn um. Er atmet tief durch. Geregnet musste es auch haben, während sie spielten. Gespielt um die hohen Summen, die einigermaßen hohen zumindest, stets begleitet von den aufmerksamen Fragen nach neuen Getränken der Spielbankangestellten, stets auch begleitet von den bewundernden Blicken der Gelegenheitsgäste, die ihre 50 Euro stumpf am Roulette verprassten (das war ja mal wirklich ein Glücksspiel) und die einige begehrliche Blicke auf die High Society der Pokerkunst erhaschen wollten. Ihm gefiel das, diese Bewunderung, gefiel es, wenn er andere ausspielte, völlig unerwartet, ihr Ärger, ihr Neid, ihre Niederlage waren eine Art Zugabe zu dem Geld, das er gewann, das er jetzt seit fast fünf Jahren gewann, seitdem er angefangen hatte, Poker im großen Rahmen zu spielen.
Sein Smartphone vibrierte, eine Textnachricht von einem von seinem Tisch eben, den es heute eher übel erwischt hatte. Natürlich wollte der jetzt noch weiterspielen. Sie hatten eine private Runde organisiert, nach langem Hin- und Her, trafen sich seither im Hinterzimmer eines Clubs hier in der Gegend, der einem anderen Mitspieler gehörte. Heute hatten sie wohl eine ganz anständige Runde dafür zusammen. Egal, denkt er sich, mir reicht das für heute, ich habe ja gewonnen.
Hatte er gewonnen? Schwer zu sagen beim Cash Game. Ein paar andere, vor allem diese Anfänger, hatten ganz gut abgeräumt. War das mehr gewesen als sein Gewinn? Er lief die fast menschenleere Chaussee entlang. Vielleicht würde er noch auf einen Absacker in die Lounge weiter vorne gehen, bevor er nach Hause ging. Er war noch nicht müde, noch viel zu überschwemmt vom Adrenalin des harten Kampfes, den er nun seit Stunden geführt, erfolgreich geführt hatte. Erfolgreich ja, aber sehr erfolgreich, ausreichend erfolgreich, befriedigend erfolgreich? War er ehrlich zu sich selbst, hätte es erfolgreicher laufen können, nein, müssen.
Er wollte sich das Hochgefühl von vorhin nicht kaputt denken, er brauchte Hochgefühle dieser Art so dringend. Im Poker fühlte er sich sicher, überlegen, viel anderes gab es momentan nicht in seinem Leben. Eine Art Durststrecke. Und schon rein pragmatisch gesehen, waren die Geldgewinne inzwischen schlicht nötig. Sein Beruf machte ihn nicht glücklich. Als Bankkaufmann war er bei jeder eigentlich längst fälligen Beförderung bislang stets übergangen worden. Die Vorgesetzten mochten ihn einfach nicht, erkannten nicht sein Talent. Ihr Pech, schon lange strengte er sich nicht mehr auf der Arbeit an. Dienst nach Vorschrift, mehr gestand der denen, die ihn so demütigten, nicht mehr zu.
Er hatte seinen Drink geleert. Was machte er jetzt? Zu Hause wartete niemand mehr auf ihn, seit seiner Trennung vor einigen Jahren. Seine Spielleidenschaft, die hatte sie nie verstanden, sein innig geliebtes Hobby nie akzeptiert; erst hatte es deswegen kleinere Scharmützel gegeben, dann immer mehr offenen Streit, Anfeindungen. Das hatte er nicht länger ertragen können und sich von ihr getrennt. Oder war es umgekehrt gewesen? Er wusste es nicht mehr.
Er sollte jetzt nach Hause gehen, morgen wartete die Arbeit, diese stumpfsinnige Arbeit und es war schon spät. Noch eine Abmahnung wollte er nicht riskieren, allein schon, um seinem missgünstigen Chef die Genugtuung zu versagen. Andererseits, was half es, wenn er sich doch nur im Bett wälzen würde? Das eine oder andere Blatt von vorhin ging ihm nicht aus dem Kopf. Als er Dame Fünf Suited gehalten hatte und schon drei Mitspieler nach seinem Raise direkt ausgestiegen waren, da hätte er mutiger spielen sollen, so wie früher.
Früher, da hatte er nicht diese Blockade im Kopf gehabt, da hatte er mit seinen Kumpels auf den WG-Parties mit ihrem schäbigen Koffer-Pokerset ganz frei von der Leber weg gespielt. Naja, damals war der Hauptgewinn so maximal 20 Euro gewesen, ein Witz, wenn man bedachte, dass er mittlerweile um 150 Euro spielte – pro Runde, versteht sich. Ein teures Hobby, zugegeben. Und es gab Monate, da musste er wirklich zusehen, wie er über die Runden kam. Rechnungen bezahlen, das ging immer vor, da kannte er nichts, Schulden machen wegen unbezahlter Rechnungen, das ging gar nicht. Dann sparte er lieber am Essen, man konnte sich da durchaus reduzieren und Geld einsparen. Man wollte ja nicht enden wie einer dieser armen Teufel, denen man am Tisch schon von weitem die nackte Panik ansah, die ihnen im Nacken saß. Typen, die komplett abgerutscht waren, Job weg, Frau weg, Ersparnisse weg, Selbstachtung weg. Nicht mit ihm.
Noch ein Blick auf die Uhr, das ging ja eigentlich noch, noch gar nicht so spät. Nochmal der Griff zur Geldklammer im Sakko, das hätte schon mehr sein können, fühlte sich irgendwie dünn an. Noch ein Gedanke an die Nachricht von vorhin. Noch ein Gedanke an die Leere des Abends. Noch ein Gedanke an die Langeweile morgen. Man könnte sein Glück heute ja noch einmal versuchen, nur kurz, nur für ein oder zwei Stündchen.

2

Epidemiologie

Weltweit betrachtet existiert eine fast schon nicht mehr überschaubare Anzahl an epidemiologischen Studien zur Glücksspielstörung. Hilfreicher als ein Blick auf jede einzelne Erhebung ist es, sich mit den verfügbaren metaanalytischen Arbeiten auseinanderzusetzen. Solche Metaanalysen verfolgen das Ziel, zu einem bestimmten Thema kondensierte Aussagen zu treffen. Um dieses Ziel zu erreichen, werden in wissenschaftlichen Datenbanken systematisch einzelne Studien innerhalb eines zuvor definierten Zeitraums identifiziert und auf ihre empirische Tauglichkeit geprüft und schließlich anhand der gefundenen Ergebnisse zusammengefasst.

2.1 Bevölkerungsrepräsentative Prävalenzschätzungen der Glücksspielstörung

Unter den veröffentlichten Metaanalysen überzeugt insbesondere die Arbeit der Autoren Lorains, Cowlishaw und Thomas (2011), die in ihrer Auswertung elf internationale epidemiologische Studien einschlossen. Erwähnens...

Inhaltsverzeichnis

  1. Deckblatt
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Geleitwort der Reihenherausgeber
  5. Inhalt
  6. 1 Einleitung
  7. 2 Epidemiologie
  8. 3 Verhaltensspezifika
  9. 4 Neurobiologie
  10. 5 Verhaltenswirkungen
  11. 6 Psychosoziale Aspekte
  12. 7 Ätiologie – ein integrativer, interdisziplinärer Ansatz
  13. 8 Diagnostik
  14. 9 Therapieplanung und Intervention
  15. 10 Synopse und Ausblick
  16. Literatur
  17. Stichwortverzeichnis