Autismus verstehen
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Autismus verstehen

Außen- und Innensichten

  1. 247 Seiten
  2. German
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Außen- und Innensichten

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Über dieses Buch

The subject of autism has enjoyed a considerable boom in recent years. A wealth of autobiographical reports on autistic perception, thinking and action by individuals who are affected has challenged the widespread clinical and pathologizing view of autism. This volume aims to understand the views of autistic individuals and to compare them with scientific findings, especially from the field of the neurosciences. Neuroscientific findings are shedding new light on the abilities and intelligence of people in the autistic spectrum. The characteristics that have been identified are then illuminated here by autistic persons themselves & with an?inside view=, so to speak: perceptual peculiarities, unusual learning behaviour, focused thinking, difficulties in communicating and in social interaction, etc.

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Information

Jahr
2020
ISBN
9783170379084
Auflage
2
Thema
Bildung

Teil I: Außensichten

1 Autismus – das neue Verständnis aus der Außensicht in Anlehnung an Vorstellungen von Betroffenen

Georg Theunissen

»Ich träume davon, dass wir eines Tages in einer gereiften Gesellschaft wachsen können, in
der niemand ›normal‹ oder ›anormal‹ ist, sondern in der jeder einfach ein Mensch sein kann,
der alle anderen Menschen akzeptiert – bereit, gemeinsam mit ihnen weiter zu wachsen.«
(Mukhopadhyay 2005, 91).
Dieses Zitat steht für Inklusion. Um sie für die Selbstbestimmung und Teilhabe am Leben in der Gesellschaft autistischer Personen sowie für das Zusammenleben, Zusammenarbeiten und den Umgang mit Menschen aus dem Autismus-Spektrum fruchtbar werden zu lassen, bedarf es:
• Einer verstehenden Sicht autistischer Merkmale. Diese ist mit Respekt vor dem personalen So-Sein unmittelbar verknüpft.
• Der Wertschätzung einer »autistischen Intelligenz«. Diese wird wie die Verstehensperspektive vom Ansatz einer »Neurodiversität« (dazu später) fühlbar durchdrungen. Zugleich legt sie eine ressourcen- und kontextorientierte Praxis (Förderung, Therapie, Unterricht, Lebensweltgestaltung) nahe.
• Der funktionalen Sicht von (zusätzlichen) Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Störungen als Begleiterscheinungen bei Autismus. Diese erfordern eine Positive Verhaltensunterstützung, Strategien einer Stressbewältigung und bei schwerem psychischem Leiden psychiatrisch-psychotherapeutische Hilfen.
Statistiken aus führenden Industrienationen zeigen auf, dass Autismus heute nicht mehr als eine seltene Behinderungsform in Erscheinung tritt. Nach US-amerikanischen Untersuchungen nimmt Autismus im Kontext von Behinderungen derzeit am stärksten zu. So wird mittlerweile in den USA davon ausgegangen, dass bei 59 Kindern im Alter von acht Jahren mit einem autistischen Kind gerechnet werden muss. Dabei handelt es sich seit 2012 um einen 15-prozentigen Anstieg an Autismus-Diagnosen (vgl. Autism Speaks 2018).
Für Deutschland liegen dagegen keine verlässlichen Daten vor. Es scheint sich aber auch hierzulande die Zahl an Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit einer »Autismus-Diagnose« deutlich zu erhöhen. Expert*innen gehen davon aus, dass die Prävalenz unabhängig von sozio-ökonomischen Einflussfaktoren bei etwa 1% liegt.
Interessant ist die Frage nach den Gründen für den skizzierten Trend. Neben einem wachsenden gesellschaftlichen Bewusstsein und einer größeren Sensibilität in Bezug auf Autismus wird auf verfeinerte, genauere Instrumente zur Erfassung bzw. Diagnostizierung autistischer Merkmale verwiesen. Ferner spielen Interessen und die Hoffnung von Eltern eine Rolle, durch eine »Autismus-Diagnose« anstelle einer anderen Diagnose wie etwa »geistige Behinderung« bessere Unterstützungsleistungen zu bekommen. Insofern hat die Zunahme an »Autismus-Diagnosen« auch einen »künstlichen« Charakter, der jedoch statistisch gesehen nicht überbewertet werden darf. Vielmehr erklärt sich der »reale« Zuwachs neben dem verbesserten Assessment (Diagnostik) durch einen »Nachholeffekt«, vor allem in Bezug auf das sogenannte Asperger-Syndrom, das in der Vergangenheit kaum beachtet und diagnostiziert wurde.

1.1 Zur traditionellen Sicht von Autismus

Nach den bis heute viel zitierten Klassifikationssystemen ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation und dem US-amerikanischen DSM IV gilt Autismus als »tiefgreifende Entwicklungsstörung«. Die in beiden Systemen vorgenommene Einteilung in verschiedene Formen von Autismus, vor allem die Unterscheidung zwischen frühkindlichem (oder klassischem) Autismus und Asperger-Syndrom, geht zurück auf L. Kanner (1943) und H. Asperger (1944), die unabhängig voneinander auffällig zurückgezogene und einzelgängerische Kinder als »autistisch« beschrieben. Aus den von ihnen beschriebenen Auffälligkeiten (Besonderheiten) sind dann in der Folgezeit drei Kernbereiche von Funktionsstörungen abgeleitet und im Jargon des psychiatrisch-klinischen Defizitdenkens herausgestellt worden:
1 Beeinträchtigungen der sozialen Interaktion und zwischenmenschlichen Beziehungen
Hierzu werden zahlreiche Defizite genannt, so zum Beispiel das Unvermögen vieler autistischer Menschen, altersentsprechende Beziehungen zu entwickeln, fehlende Freundschaften zu Gleichaltrigen, der fehlende Wunsch, mit anderen Interessen zu teilen, die verminderte Fähigkeit, soziale bzw. nonverbale Signale anderer Personen intuitiv zu erkennen und zu interpretieren, sozial und emotional unangepasstes Verhalten oder fehlende soziale und emotionale Gegenseitigkeit.
2 Beeinträchtigungen der (verbalen) Kommunikation
Während Personen, denen ein (schwerer) frühkindlicher Autismus nachgesagt wird, sich häufig kaum sprachlich verständigen können (z. B. nur mit Lauten, in Ein- oder Zwei-Wort-Sätzen oder Echolalie), fallen sogenannte Asperger-Autist*innen oft durch eine monotone Sprachmelodie, einen exzentrischen oder auch pedantischen Sprachstil auf.
3 Ein eingeschränktes Repertoire an Interessen und Aktivitäten, verbunden mit repetitiven oder stereotypen Verhaltensweisen
Hierbei geht es zum Beispiel um eine Fixierung auf spezielle Dinge, die üblicherweise nicht als Spielzeug verkauft werden, um den ungewöhnlichen Gebrauch der Dinge, um eine lang anhaltende Beschäftigung mit bestimmten (Teil-)Objekten, um eine rigide Befolgung von Routinen, um ein Beharren auf Routine sowie Streben nach Gleicherhaltung der Umwelt, um ein zwanghaftes Verhalten oder auch um motorische Manierismen oder Auffälligkeiten (Hände flattern, bizarre Fingerbewegungen, Drehbewegungen, Zehengang, Hyperaktivität, Unbeholfenheit in der Grob- oder Feinmotorik, unbeholfene Körpersprache, eingeschränkte Gestik und Mimik).

1.2 Zum DSM-5

Diese traditionelle Sicht ist in den letzten 20 Jahren zusehends in Kritik geraten. So wurde erkannt, dass es zwischen den verschiedenen Autismus-Formen mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede gibt (vgl. Grinker 2007, 59; auch Sacks 2000, 266 f.). Zuvor hatte übrigens schon H. Asperger (1968, 143) auf »große Ähnlichkeiten« hingewiesen.
Unterschiede betreffen den sprachlichen und motorischen Bereich. Ferner nehmen G. McAlonan und Team (2009) auf der Basis ihrer Befunde an, dass bei sogenannten hochfunktionalen Autist*innen die linke Hirnhälfte von der weißen Hirnmasse bestimmt wird, während es bei sogenannten Asperger-Autist*innen die rechte Hirnhälfte sei.
Gemeinsamkeiten gibt es vor allem in Bezug auf soziale Interaktionen, repetitive Verhaltensweisen, Streben nach Gleicherhaltung der Umwelt sowie Wahrnehmungsbesonderheiten. Darüber hinaus hat die Hirnforschung Gemeinsamkeiten hinsichtlich der allgemeinen und lokalen Verteilung sowie der Entwicklungsverläufe der grauen Hirnmasse festgestellt (vgl. Via et al. 2011).
Folgerichtig wurden die bisherigen Einteilungen und Differenzierungen in Frage gestellt. Von hier aus war der Schritt nicht weit, auf eine Einteilung analog der Klassifikationssysteme ICD-10 oder DSM IV zukünftig zu verzichten. Mit dem DSM-5 liegt nunmehr seit Frühjahr 2013 ein entsprechendes System vor, das unter dem neuen Begriff »Autism Spectrum Disorder« (Autismus-Spektrum-Störung) die bisherigen Merkmale und Symptombeschreibungen verschiedener Autismus-Bilder wie folgt eingeebnet und eingearbeitet hat (übersetzt ins Deutsche vom Verfasser):
A. Dauerhafte Defizite in der sozialen Kommunikation und sozialen Interaktion (die nicht für eine allgemeine Entwicklungsverzögerung sprechen) in allen drei Unterkategorien:
1. Defizite in der sozial-emotionalen Wechselseitigkeit (z. B. im Rahmen einer »normalen« Konversation; reduzierter Austausch von Interessen oder Emotionen; reduzierte Initiative oder Vermeidung sozialer Interaktionen)
2. Defizite in der nonverbalen Kommunikation im Rahmen sozialer Interaktionen (z. B. schlecht integrierte verbale und nonverbale Kommunikation; fehlender Blickkontakt, schwache Körpersprache, Mimik oder Gestik; Defizite im Verständnis und Gebrauch nonverbaler Kommunikation)
3. Defizite in der Entwicklung und Aufrechterhaltung von Beziehungen, entsprechend dem Entwicklungsstand (z. B. Schwierigkeiten bei der Aufrechterhaltung von Interaktionen in verschiedenen sozialen Kontexten; Schwierigkeiten beim gemeinsamen Fantasiespiel und bei einer Schließung von Freundschaften; scheinbares Desinteresse an anderen Personen).
B. Eingeschränkte, repetitive Verhaltensmuster, Interessen oder Aktivitäten in mindestens zwei von vier Unterkategorien:
1. Stereotype(r) oder repetitive(r) Sprache, motorische Bewegungen oder Gebrauch von Objekten (z. B. einfache, motorische Stereotypien; Echolalie, repetitiver Umgang mit Objekten; idiosynkratische [eigensinnige] Sätze)
2. Exzessives Festhalten an Routine, ritualisiertes Sprachverhalten (verbal, non-verbal), ausgeprägter Widerstand gegenüber Veränderung (z. B. motorische Rituale; Beharren auf Routine oder gleichförmige Nahrung; sich ständig wiederholende Fragen; Veränderungsangst bzw. extreme Stressreaktionen bei schon geringen situativen Veränderungen)
3. Stark eingeschränkte, fixierte Interessen, die mit »abnormer« Intensität oder Fokussierung einhergehen (z. B. starke Bindung an ungewöhnliche Objekte; eng umschriebene, exzessive, perseverative Beschäftigung mit ungewöhnlichen Dingen oder Interessen)
4. Hyper- oder Hypo-ausgeprägtes (Wahrnehmungs-)Verhalten im Hinblick auf sensorische Reize oder ungewöhnliches Interesse an sensorischen Umgebungsreizen (z. B. scheinbare Gleichgültigkeit gegenüber sensorischen Reizen wie Schmerz, Hitze, Kälte; ablehnende Reaktion in Bezug auf bestimmte Geräusche oder Gewebe; übermäßiges Beschnuppern oder Berühren von Objekten; Faszination in Bezug auf leuchtende oder sich drehende Objekte).
C. Die Symptome sollten in der frühen Kindheit zutage treten (müssen aber noch nicht voll ausgebildet sein und können im Erwachsenenalter kompensiert werden).
D. Die Gesamtheit der Symptome begrenzen und beeinträchtigen das Alltagsverhalten (everyday functioning).
Darüber hinaus sollten sogenannte »specifiers« verwendet werden (z. B. mit/ohne ›intellektuelle Beeinträchtigung‹ [»geistige Behinderung«]; mit/ohne Sprachstörung); und es gibt zusätzliche Codes für »Komorbiditäten« bezüglich psychischer Störungen oder anderer Beeinträchtigungen (u. a. auch ADHS [jetzt als ›Doppeldiagnose‹ zugelassen]).
Im Unterschied zum DSM IV und zu der bisherigen Übereinkunft, zwischen drei Kernbereichen von Funktionsstörungen zu differenzieren, werden mit der Zusammenfassung der ersten beiden Bereiche nur noch zwei Hauptkategorien unterschieden. Dieser Schritt wird vor allem mit der engen Verflechtung von Defiziten in der Kommunikation mit sozialen Verhaltensweisen begründet. Jenseits der Autismus-Spektrum-Störung (ASS) ist eine neue Kategorie »soziale (pragmatische) Kommunikationsstörung« (»social [pragmatic] communication disorder«) eingeführt worden, die Personen mit Defiziten in der sozialen Kommunikation erfassen soll, welche ansonsten keine Kriterien der ASS erfüllen.
Des Weiteren soll die Auswahl der genannten Symptome, die sorgfältig empirisch erforscht wurde, zu einer verbesserten spezifizierten Beurteilung von Autismus im Sinne der ASS beitragen. Hierzu ist zudem eine Einschätzung der beiden Kernkategorien in drei unterschiedliche Schweregrade zur Bestimmung eines Unterstützungsbedarfs vorgesehen.
Bis heute wird dieses neue System kontrovers diskutiert. So gibt es zum Beispiel die Befürchtung, dass zukünftig viele Personen, die bisher als »Asperger-Autist*innen« oder sogenannte »hochfunktionale Autist*innen« diagnostiziert wurden, nicht durch das DSM-5 adäquat erfasst werden. Es gibt aber auch die Ansicht, dass durch das DSM-5 die Gefahr der Überdiagnostizierung vermieden werden könne. Anderen Personen ist hingegen das neue System nicht zu eng, sondern zu weit gestrickt, weshalb sie eine unüberschaubare Zunahme an Autismus-Diagnosen befürchten. Des Weiteren wünschen sich neben einigen Eltern(vereinigungen) von sogenannten Asperger-Autist*innen auch manche Erwachsene, die sich selbst als Asperger oder Aspies bezeichnen, aus identitätsstiftenden Gründen die Beibehaltung dieser Diagnose.
Weithin begrüßt wird die Neuerung von einer großen Gruppe an Eltern, Familien und autistischen Erwachsenen aus jenen US-Staaten, zum Beispiel Kalifornien, in denen sogenannte Asperger-Autist*innen gegenüber anderen Personen mit sogenanntem klassischen Autismus bislang eine unzureichende staatliche Unterstützung erfahren.
Ebenso findet die DSM-5 Kategorie Autismus Spectrum Disorder in der US-amerikanischen Autism Society (AS) sowie im Lager des Autistic Self-Advocacy Network (ASAN) Zuspruch, die zu Neuerungen angestiftet und auf den Veränderungsprozess Einfluss genommen hatten. Allerdings war es der Betroffenen-Bewegung ASAN nicht um eine defizitorientierte Sprache zu tun. Zudem wird die unzureichende Berücksichtigung von eigenen Lernstrategien, Stärken oder Ressourcen, sprachlichen Kommunikationsproblemen, motorischen Besonderheiten, geschlechts- und erwachsenenspezifischen Aspekten sowie die Verwendung des Störungsbegriffs kritisiert.
Insofern gilt es, den Umgang mit dem DSM-5 abzuwarten. Das betrifft ebenso das Klassifikationssystem ICD-11, welches derzeit eingeführt wird und gleichfalls auf die bisherigen klinischen Bilder des Autismus verzichtet. Diese werden ähnlich wie im DSM-5 unter »Autismus-Spektrum-Störungen« zusammengefasst.

1.3 Zum Autismus-Spektrum

Im Unterschied zur traditionellen Lehrmeinung (nach ICD oder DSM) gehen (einflussreiche) Selbstvertretungsorganisationen wie das ASAN davon aus, dass Autismus nicht per se eine psychische Krankheit oder Störung darstellt und ebensowenig nur durch Defizite charakterisiert werden darf: »Autismus als eine Störung zu beschreiben, ist ein Werturteil und nicht etwa ein wissenschaftlicher Fakt« (Walker 2014a, 3). Deshalb wird gegenüber der Bezeichnung Autismus-Spektrum-Störung der neutrale Begriff des Autismus-Spektrums bevorzugt. Dass eine solche »korrekte, respektvolle Begrifflichkeit« (Courchesne et al. 2015, 9) benutzt werden sollte, und dazu zählen ebenso die Ausdrücke »autistische Person« statt »Mensch mit Autismus«, ist gleichfalls die Botschaft der renommierten Forscher*innengruppe um L. Mottron und M. Dawson aus Kanada. Auch einige bekannte Autismusforscher (z. B. S. Baron-Cohen; S. Bölte) aus dem europäischen Raum stehen dieser Position aufgeschlossen gegenüber, indem sie von Begebenheiten oder Bedingungen (autism spectrum condition) sprechen. Insofern bemühen sie sich, Autismus nicht von vornherein als Störung zu bezeichnen beziehungsweise den Störungsbegriff zu vermeiden (so z. B. Brown et al. 2010; Lai, Lombardo & Baron-Cohen 2014, 897). Ebenso gibt es für die renommierte Autismusforscherin U. Frith (2013, 188) »keinen Hinweis, dass es sich beim Autismus um eine Krankheit handelt, die sich mit modernen Medikamenten heilen ließe«. Daraus sollte freilich nicht geschlussfolgert werden, dass mit Autismus keine schweren Beeinträchtigungen oder Störungen einhergehen können, unter denen eine betroffene Person leidet (vgl. hierzu die Ausführungen von D. Zöller im vorliegenden Band).
Diese Position wird auch vom ASAN vertreten, das wie U. Frith Autismus als Behinderung ausweist. Zugleich betrachtet das ASAN Autismus als eine genetisch basierte »neurologische Variation« in Form eines menschlichen Seins, welches durch sieben typische Merkmale gekennzeichnet werden kann, die ich in den letzten Jahren konzeptionell aufbereitet habe (vgl. Theunissen 2014b; Theunissen & Sagrauske 2019). Diese Aufbereitung erfüllt weithin Kriterien, die nach N. Walker (2014a, 1) für eine »gute Einführung« gelten sollten:
1. Übereinstimmung mit den gegenwärtigen Erscheinungsformen von Autismus
2. keine Verankerung im Paradigma der Pathologie
3. Prägnanz, Einfachheit und Zugänglichkeit
4. eine praktikable Form für den professionellen und akademischen Gebrauch.
Von zentraler Bedeutung ist, dass die Merkmalsaufbereitung als Vehikel für eine verstehende Sicht und funktionale Betrachtung autistischen Verhaltens angesehen werden kann. Gerade dieser Aspekt macht sie besonders wertvol...

Inhaltsverzeichnis

  1. Deckblatt
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Vorwort
  6. Vorwort zur 2. Auflage
  7. Außen- und Innensichten. Eine Einführung
  8. Teil I: Außensichten
  9. Teil II: Innensichten von Persönlichkeiten aus dem Autismus-Spektrum
  10. Teil III: Zusammenfassende Schlussbetrachtungen
  11. Literatur
  12. Die Autorinnen und Autoren