1 Einführung zur internationalen Behindertenpädagogik
Einleitend sollen folgende Grundfragen zur internationalen Behindertenpädagogik diskutiert und zu klären versucht werden: (
Kap. 1.1) Wie lässt sich die internationale Behindertenpädagogik umschreiben? Ist sie eine eigenständige
Wissenschaftsdisziplin oder lediglich eine besondere
Betrachtungsweise? (
Kap. 1.2) Was ist der
Gegenstand der internationalen Behindertenpädagogik und welche Bezeichnungen gibt es dafür? (
Kap. 1.3) Was bedeutet
Internationalität als erstes, räumliches Formalobjekt? (
Kap. 1.4) Welche
Vorgehensweisen können methodische Formalobjekte sein? (
Kap. 1.5) Wie hat sich dieser Fachbereich unter zeitlichem Formalobjekt
historisch entwickelt? (
Kap. 1.6) Welche
Ziele,
Aufgaben und aktuelle
Bedeutung werden der internationalen Behindertenpädagogik zugeschrieben? (
Kap. 1.7) Wie ist es um ihre
Wissenschaftlichkeit bestellt? (s. a. Bürli 1997a, S. 11 ff.; 2006a, S. 25 ff.; 2009a, S. 15 ff.).
1.1 Umschreibung der internationalen Behindertenpädagogik
Jede Wissenschaft (bzw. jede Wissenschaftsdisziplin, jede Fachrichtung, jeder Fachbereich) hat seit jeher die Tendenz, im Zuge der Forschung und Entwicklung neue Spezialgebiete zu erschließen und auszugliedern. Ausgehend von der (allgemeinen/theoretischen) Behindertenpädagogik trifft dies auch für die internationale Behindertenpädagogik zu. Die Frage ist, wie dies geschieht und ob dadurch (z. B. im Rahmen der Behindertenpädagogik) weitere abgrenzbare Wissenschaftsdisziplinen entstehen oder ob sich diese lediglich durch einen bestimmten Blickwinkel (Perspektive) auszeichnen.
1.1.1 Disziplin oder Perspektive
Ob lediglich besondere Betrachtungsweise oder eigenständige Wissenschaftsdisziplin – das war z. B. für die international-vergleichende Erziehungswissenschaft über Jahrzehnte hinweg eine umstrittene Frage (Schneider 1961); erst in den 1960er-Jahren hat sich im deutschsprachigen Raum eine gewisse disziplinäre Eigenständigkeit etabliert. Die diesbezügliche Position ist aber auch heute noch nicht völlig geklärt (Schubert 2001; s. a. Adick 2008). Die Antwort ist wohl davon abhängig, welche Elemente für eine Wissenschaftsdisziplin generell als unverzichtbar gelten (z. B. Klarheit hinsichtlich der Erkenntnisinteressen, der erkenntnistheoretischen Grundpositionen, der Material- und Formalobjekte) und wie sie sich in Abhebung zu anderen Fachgebieten konstituiert.
Es existieren – auch in der Behindertenpädagogik – unterschiedliche Klassifikationen zur Einteilung von Wissenschaften. Die entsprechende Klassifizierung und Einordnung ist häufig umstritten. Die dazu geführte Diskussion führt meist zu einer wichtigen wissenschaftlichen Auseinandersetzung und einer gewissen Klärung.
1.1.2 Hierarchischer Aufbau
Zu erwähnen ist vorerst das hierarchische Klassifikationsmodell, wie es besonders bekannt ist von den Naturwissenschaften (z. B. Botanik, Zoologie, Ornithologie als Sub-Kategorien der Biologie), aber auch der Philosophie (z. B. Logik, Ethik, Metaphysik als deren Teile). Die Disziplin Heilpädagogik bzw. Behindertenpädagogik wurde früher (z. T. auch heute noch) beispielsweise hierarchisch strukturiert nach Behinderungsart (Lern-, Geistig-, Hör-, Sehbehindertenpädagogik etc.), heute eher nach Förderschwerpunkt oder weiteren Gesichtspunkten (z. B. Didaktik bei Geistigbehinderten). Durch die damit verbundenen deutlichen Grenzziehungen wird der Eindruck erweckt, als ergebe sich dabei stets grundsätzlich eine völlig andere wissenschaftliche Fragestellung bzw. unterschiedliche pädagogische Herausforderung.
Diese traditionelle Wissenschaftssystematik mit ihren hierarchischen Grenzziehungen und Klassifikationen stößt bald an ihre Grenzen. So findet z. B. eine internationale Betrachtung in diesem rigiden Denkschema nicht leicht ihren Platz. Sie könnte bestenfalls als Gegenpol zur (allgemeinen/theoretischen) Behindertenpädagogik die vielen entstandenen Teilbereiche wieder etwas verbinden und zusammenzufügen (
Abb. 1.1.2) und damit einen Erkenntnisbeitrag leisten.
Abb. 1.1.2: Hierarchische Klassifikation
1.1.3 Interdisziplinäre Netzstruktur
Die Wissenschaftslandschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten markant verändert. Die disziplinären Forschungsaspekte sind – bei gleich bleibendem Forschungsgegenstand – zahlreicher und vielfältiger geworden, was teilweise zu einer Fülle und Zersplitterung von Einzelwissenschaften führte. Dies ruft deutlich nach vermehrter Interdisziplinarität und Kooperation anstelle von Abgrenzung.
Abb. 1.1.3: Interdisziplinäre Netzstruktur
Dabei geht es nicht nur um das Zusammenspiel von Einzeldisziplinen, sondern es sind auch neue Wissenschaften entstanden, indem heute vermehrt von einer
Problemstellung ausgegangen wird, zu deren Lösung oder Erhellung verschiedene herkömmliche Disziplinen beigezogen werden. So sind vor allem im naturwissenschaftlich-technischen Bereich bei Problemfeldern wie Umwelt, Verkehr, Gesundheit, Ernährung, Material, Informatik (usw.) durch den Einbezug traditioneller Fächer neue, interdisziplinär angelegte Disziplinen entstanden (z. B. Umwelt- bzw. Ernährungswissenschaft). Auch die Behindertenpädagogik kann sich unter dem Fokus der Internationalität durch den Einbezug relevanter Einzeldisziplinen (wie Pädagogik, Psychologie, Ethnologie, Soziologie) als neuer Fachbereich profilieren und etablieren (
Abb. 1.1.3).
Diese generelle Entwicklung der Wissenschaften hin zur Netzstruktur kann nicht ohne Auswirkungen auf die Positionierung der Behindertenpädagogik sowie die eventuelle Konstituierung einer (Sub-)Disziplin wie derjenigen der internationalen Behindertenpädagogik sein. Analog zu Paul Moors Aussage, Heilpädagogik sei Pädagogik, und nichts anderes (1965, S. 273), könnte statuiert werden: Internationale Behindertenpädagogik ist nichts anderes als Behindertenpädagogik, zeichnet sich jedoch aus durch die besondere Beachtung internationaler Perspektiven.
Gefragt ist heute nicht mehr eine in sich geschlossene, klar abgegrenzte Wissenschaftsdisziplin, sondern ein offener Fachbereich, ein flexibles, reichhaltiges System, das verschiedene Aspekte und unterschiedliche Zugänge auf eine Fragestellung hin bündelt und vereinigt. Ob im Sinne einer eigenen Disziplin oder eines Brennpunkts der Betrachtung: Der Einbezug internationaler Perspektiven erweitert die Denk-, Interpretations- und Handlungsmuster und schärft das Problembewusstsein.
1.1.4 Material- und Formalobjekte
Ein weiteres Denkmodell, wonach im Folgenden die internationale Behindertenpädagogik analysiert und strukturiert werden soll, geht auf die aristotelisch-scholastische Philosophie zurück. Danach wird eine Wissenschaft durch die Klärung der Material- und der Formalobjekte definiert. Unter Materialobjekt wird die Gesamtheit der Objekte verstanden, auf welche die Erkenntnis gerichtet wird, also der vorgegebene Gegenstand der zu umschreibenden Disziplin. Dieser Inhalt (»Was«) existiert als solches, schon bevor sich jemand wissenschaftlich damit beschäftigt.
Abb. 1.1.4: Material- und Formalobjekte der internationalen Behindertenpädagogik
Formalobjekte hingegen entstehen erst durch spezifische Betrachtungs- und Zugangsweisen (»Wie«), durch die spezielle Sicht, unter welcher der betreffende Gegenstand untersucht wird. Während dasselbe Materialobjekt von mehreren Wissenschaften erforscht werden kann, ist das Formalobjekt maßgebend für die Abgrenzung einer Wissenschaft gegen eine andere, die sich eventuell auf dieselben Sachverhalte bezieht (Schlüter 1980).
In der Folge soll diese Unterscheidung von Material- und Formalobjekten auf die internationale Behindertenpädagogik angewandt werden (
Abb. 1.1.4). Dabei gilt als Materialobjekt die (
Kap. 1.2)
Behindertenpädagogik, die zur Pädagogik gehört.
Der Aspekt der (
1.3)
Internationalität wurde als vorrangiges, räumliches Formalobjekt ausgewählt. Unter methodischem Gesichtspunkt lassen sich vier (
Kap. 1.4)
Vorgehensweisen unterscheiden (nämlich: Deskription, Komparation, Kooperation, Normierung;
Kap. 2 bis 5). Unter zeitlicher Perspektive wird die (
Kap. 1.5)
historische Entwicklung in diesem Bereich ausgewiesen.
Genau wie andere komplexe Sachverhalte und Disziplinen kann also auch die Behindertenpädagogik als Gegenstand (Materialobjekt) aus verschiedenen Blickwinkeln (Formalobjekten) und mit unterschiedlichen erkenntnisleitenden Zielsetzungen und Interessen untersucht und betrachtet werden. Es ist somit nicht verwunderlich, dass gleiche Phänomene (Materialobjekte wie Behinderung, Integration/Inklusion) unterschiedlich umschrieben und angegangen werden. Je besser die spezifischen Betrachtungsweisen und methodischen Ansätze zueinander in Verbindung gebracht werden, umso umfassender wird das Verständnis eines Gegenstandes. Anschließend soll kurz auf die Behindertenpädagogik als Gegenstand und die in ihrem Kontext ausgewählten Formalobjekte einzeln und in ihrem Zusammenhang eingegangen werden.
Fazit zu ( Kap. 1.1): Umschreibung der internationalen Behindertenpädagogik
Die internationale Behindertenpädagogik beinhaltet die besondere Betrachtung der Behindertenpädagogik aus internationaler Sicht bzw. im internationalen Kontext. Dabei geht es nicht darum, eine neue, abgrenzende Wissenschaftsdisziplin zu kreieren, sondern unter dem pragmatisch gewählten Begriff Behindertenpädagogik einen Gegenstand (Materialobjekt) unter verschiedenen Perspektiven n...