CoronaX
EXPERIMENT VOR PLAN
Musterbrecher 1
»Diese Situation ist ernst und sie ist offen.«
Bundeskanzlerin Angela Merkel
am 18. März 2020 in ihrer Fernsehansprache
»Diese als ›Shutdown‹ bezeichneten Maßnahmen basieren teilweise auf Annahmen ohne ausreichende Wissensbasis, denn viele wissenschaftliche Fragen zu den Risiken von COVID-19 sind angesichts der unzureichenden Datenlage noch ungeklärt.«
Bericht der Leopoldina zur Coronavirus-Pandemie
vom 13. April 2020
»Ich bin immer ganz neidisch auf all diejenigen, die schon immer alles gewusst haben. […] Und ich bin mir sicher: Jenseits von Politik wird auch für Gesellschaft, selbst für Virologen und Wissenschaftler eine Phase kommen, wo wir alle im Nachhinein feststellen werden, dass man an der einen oder anderen Stelle falschgelegen hat oder an der einen oder anderen Stelle noch mal korrigieren oder nachsteuern muss. Das finde ich in einer Zeit wie dieser vergleichsweise normal. Und wenn wir ein Grundsatzverständnis hätten, dass das in einer Zeit solcher Unwägbarkeit dazugehört, dann wäre das schon mal ein wichtiger Schritt.«
Jens Spahn, Bundesgesundheitsminister,
am 22. April im Bundestag
Wenn, wie gerade zu erleben, die bekannten Muster offensichtlich nicht ausreichend sind, um für Sicherheit zu sorgen, wenn Experten zugeben, dass sie eigentlich in ihrem Spezialgebiet nicht mehr wissen, als sie wissen, dann sollten Menschen auf eines der erprobtesten Meta-Muster zurückgreifen, das sie vielleicht wie kein anderes von allen anderen Lebewesen unterscheidet: die Fähigkeit, zu experimentieren und als Gemeinschaft daraus zu lernen.
Experimente machen Menschen aus; denn letztlich ist das ganze Leben durch nie endende Episoden des Ausprobierens geprägt. Kinder versuchen, andere zu imitieren. So erschließen sie sich die Welt – zuerst im sicheren Umfeld ihrer Eltern, bevor sie langsam immer mutiger werden. Und auch im Erwachsenenalter wird ständig experimentiert. Jede Beziehung ist ein Versuch mit der nicht ganz unwahrscheinlichen Möglichkeit des Irrtums. Das experimentelle Vorgehen gehört zum Wesen des Menschen. Oft werden genaue Überlegungen angestellt, bevor ein Versuch gestartet wird. Manchmal wird einfach ausprobiert, einige Chancen werden ergriffen, andere nicht genutzt. Das Ende bleibt dabei stets offen und ungewiss.
// Ganz schön anstrengend
Unser Gehirn hasst Ungewissheit wie die Pest!
Im Umgang mit der ungeliebten Ungewissheit gibt es zwei Möglichkeiten: Sie lässt sich durch Planung ignorieren oder durch Experimente erforschen. In den Naturwissenschaften hat sich das Experiment als mächtigster Katalysator des Fortschritts und der Wissensproduktion erwiesen. Ohne den Mut, Fragen zu stellen, die bisher keiner zu stellen gewagt hatte, wären alle Errungenschaften bis heute schlicht unvorstellbar gewesen. Nicht der fatalistische Umgang mit scheinbar gesichertem Wissen, sondern die Evidenz durch das Experiment trieben die technische, aber auch die soziale Entwicklung. François Jacob, Nobelpreisträger für Medizin, bezeichnete das Experiment als einen »Brutkasten der Hoffnung« oder als »Maschinerie zur Herstellung von Zukunft«. Und das gilt in der Krise mehr denn je.
// Zweifler bevorzugt
Hoffnung sollten uns nicht diejenigen machen, die uns suggerieren, sie wüssten, wie es sein muss, sondern diejenigen, die zweifeln, hinterfragen, ausprobieren, abwägen, sich revidieren und um ihr eigenes Unwissen wissen.
Es sind die Wissenschaftler – Epidemiologen und Virologen –, die uns die Fragilität der Lage erläutern. Die Hoffnung richtet sich auf das Können und die glückliche Hand der Forschungs- und Entwicklungsabteilungen der Pharmaindustrie, der Softwareunternehmen und der Medizinbranche. Täglich ist zu hören, wie Christian Drosten, Chefvirologe der Charité, sich aufgrund neuer Erkenntnisse und Studien korrigiert. In der Presse liest man davon, dass die Corona-Krise ein »Experiment mit der gesamten Weltbevölkerung« und dass »alles möglich« sei. Ein vom Bundesinnenministerium ins Leben gerufener Expertenkreis hat ein Strategiepapier ausgearbeitet, in dem eine »Experimentierklausel für innovative Lösungen« gefordert wird. Und dennoch scheinen sich weder die Politik noch die Bevölkerung mit dem Experimentiermodus anfreunden zu können. Überall ist der Wunsch nach Beibehaltung der üblichen Planungs- und Managementlogik zu spüren.
// Kapitäne auf die Brücke!
Wir benötigen Manager – Krisenmanager!
Die Managementdenke eines gesteuerten und geplanten Vorgehens mit Meilensteinen und definierten Zwischen- und Endzielen hat die Gesellschaft, alle Institutionen und Organisationen so sehr durchdrungen, dass Ergebnisoffenheit nicht ertragen wird; schon gar nicht in Zeiten, in denen Unerwartetes passiert.
Management versteht sich als Planungsinstanz, als Erfüllungsgehilfe von Kontinuität, Produktivität, Wertschöpfung und Stabilität. Es sollte wissen, was zu tun ist – und dieses Wissen wird von der Gesellschaft auch erwartet. Unangenehme Überraschungen sind zu vermeiden. Im Managementkontext ist das Experimentieren negativ belegt. Als Managerin oder Manager zu experimentieren würde bedeuten, unprofessionell zu handeln, unkalkulierbare Risiken einzugehen und Wissenslücken zuzugeben.
Und es scheint ja auch erfolgreich zu sein, wenn mit dem Tunnelblick des Krisenmanagements ausschließlich auf Infektionszahlen und andere Kennziffern geschaut wird. Durch das Extrapolieren von Trends, mit dem Berechnen der Eintrittswahrscheinlichkeiten sensitiver Szenarien und dem Prognostizieren möglicher zukünftiger Entwicklungen gelingt es vermutlich sehr gut, das den Pandemieverlauf beeinflussende Verhalten der Bevölkerung gezielt zu managen und die Anzahl der Neuinfektionen einzudämmen. Abstandsregeln, Gesichtsmasken, vorübergehende Beschulung zu Hause und weitere Maßnahmen führen zu einer Senkung der Basisreproduktionsrate. Der Pandemieverlauf wird positiv beeinflusst.
Allerdings hat dieses Vorgehen Nebenwirkungen, die in der Komplexität der Krise und ihren unklaren, unvorhersehbaren und vielschichtigen Auswirkungen auf verschiedenste Bereiche der Weltgesellschaft begründet sind. Wenn die verengte Perspektive auf die medizinischen Kennzahlen geöffnet wird, offenbart sich eine nicht zu managende Problemlage.
// Fataler Flügelschlag
Der »Schmetterlingseffekt« in der Corona-Krise
Der Chaosforscher Edward N. Lorenz warf einst die Frage auf: »Kann der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen?« Jetzt weiß man: Ein »Fledermaus-Virus« aus China kann das soziale Leben weltweit zum Erliegen bringen. Selbst die Fans apokalyptischer Drehbücher und Science-Fiction-Romane hätten wohl nicht ernsthaft geglaubt, dass so etwas wirklich passieren kann.
Die Komplexität der Welt wird plötzlich greifbar. Dinge, die auf einem »nassen Markt« in China passieren, können ungeahnte Auswirkungen haben. Doch es wäre naiv zu glauben, dass ein Schmetterlingseffekt »nur« zur Entstehung und Verbreitung der Pandemie führt. Vielmehr tritt er ebenso bei den meisten Maßnahmen auf, die zur Bewältigung der Krise angegangen werden. Anders gesagt: Jede Krisenreaktion (etwa der Shutdown oder die Wiederaufnahme des Spielbetriebs in der Bundesliga) ist ein Flügelschlag, der unüberblickbare Folgen hat. Die sozialen, psychologischen und wirtschaftlichen Nebenfolgen des bisherigen Krisenmanagements werden nicht zu managen sein.
// Einsicht vorhanden – Handlung fehlt
Intellektuell ist alles klar: »Wir müssen auf Sicht fahren.« Der Übergang vom Erkennen zum Handeln aber fällt schwer.
Jaime Lerner, ehemaliger Bürgermeister der Zwei-Millionen-Metropole Curitiba und ein echter Musterbrecher, sagte uns im Interview: »Plant nicht zu lange! Wer lange und ausgiebig plant, findet gute Gründe, etwas nicht zu tun. Innovation heißt aber anfangen!«
Das Experiment ist die sichere Einführung von Unsicherheit und Ungewissheit in die Planungs- und Managementlogik und somit das wirksamste Mittel im Umgang mit dem Unplanbaren. Aus unserer Forschungs- und Praxiserfahrung wissen wir, dass Experimente dabei helfen, Potenziale und verborgene Energien zu mobilisieren. Sie entlarven limitierende (Denk-)Muster, widerlegen Theoriestandards und geben neue Antworten.
Die experimentelle Führung bildet ein Gegengewicht zur stabilen, auf Reproduzierbarkeit und Effizienz ausgerichteten Routine von Organisationen u...