Anorexia nervosa – Verzehrende Suche nach Sicherheit
eBook - ePub

Anorexia nervosa – Verzehrende Suche nach Sicherheit

Wege zur Veränderung im Kontext naher Beziehungen

  1. 352 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
eBook - ePub

Anorexia nervosa – Verzehrende Suche nach Sicherheit

Wege zur Veränderung im Kontext naher Beziehungen

Angaben zum Buch
Buchvorschau
Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

Bei der Behandlung von Magersucht steht und fällt der Therapieerfolg mit der Motivation des Patienten. In der Arbeit mit jungen Menschen lässt sie sich signifikant steigern, wenn die Eltern geschickt in die Therapie mit einbezogen werden.Das Buch liefert eine praktische Anleitung zur ambulanten Therapie der Anorexia nervosa, die den Aspekt der Motivation besonders berücksichtigt. Detailreich und anhand von wörtlichen Transkripten konkreter Therapiesitzungen beschreiben die Autoren, wie bindungsrelevante Bezugspersonen in den Therapieprozess einbezogen werden können. Das dargestellte Therapiekonzept ist systemisch ausgelegt und von der Bindungstheorie inspiriert; es orientiert sich konsequent an wissenschaftlichen Kriterien.

Häufig gestellte Fragen

Gehe einfach zum Kontobereich in den Einstellungen und klicke auf „Abo kündigen“ – ganz einfach. Nachdem du gekündigt hast, bleibt deine Mitgliedschaft für den verbleibenden Abozeitraum, den du bereits bezahlt hast, aktiv. Mehr Informationen hier.
Derzeit stehen all unsere auf Mobilgeräte reagierenden ePub-Bücher zum Download über die App zur Verfügung. Die meisten unserer PDFs stehen ebenfalls zum Download bereit; wir arbeiten daran, auch die übrigen PDFs zum Download anzubieten, bei denen dies aktuell noch nicht möglich ist. Weitere Informationen hier.
Mit beiden Aboplänen erhältst du vollen Zugang zur Bibliothek und allen Funktionen von Perlego. Die einzigen Unterschiede bestehen im Preis und dem Abozeitraum: Mit dem Jahresabo sparst du auf 12 Monate gerechnet im Vergleich zum Monatsabo rund 30 %.
Wir sind ein Online-Abodienst für Lehrbücher, bei dem du für weniger als den Preis eines einzelnen Buches pro Monat Zugang zu einer ganzen Online-Bibliothek erhältst. Mit über 1 Million Büchern zu über 1.000 verschiedenen Themen haben wir bestimmt alles, was du brauchst! Weitere Informationen hier.
Achte auf das Symbol zum Vorlesen in deinem nächsten Buch, um zu sehen, ob du es dir auch anhören kannst. Bei diesem Tool wird dir Text laut vorgelesen, wobei der Text beim Vorlesen auch grafisch hervorgehoben wird. Du kannst das Vorlesen jederzeit anhalten, beschleunigen und verlangsamen. Weitere Informationen hier.
Ja, du hast Zugang zu Anorexia nervosa – Verzehrende Suche nach Sicherheit von Jürg Liechti, Monique Liechti-Darbellay im PDF- und/oder ePub-Format sowie zu anderen beliebten Büchern aus Psychology & Applied Psychology. Aus unserem Katalog stehen dir über 1 Million Bücher zur Verfügung.

Information

Jahr
2020
ISBN
9783849782108

1Einführung

Denken Sie im Umgang mit den Kranken immer daran, dass es jemanden oder sogar viele gibt, für die Ihr Patient das Wertvollste auf der Welt ist und Gegenstand feinfühligster Zuneigung; deshalb ist es Ihre Pflicht, dass Sie sich nicht nur darum bemühen, sein Leben zu erhalten, sondern es auch vermeiden, die Empfindsamkeit eines mitfühlenden Elternteils, einer verzweifelten Ehefrau oder eines liebenden Kindes zu verletzen. Lassen Sie Ihr Verhalten menschlich und aufmerksam sein, seien Sie an seinem Wohlergehen interessiert, und zeigen Sie Verständnis für seine gefahrvolle Situation.
Samuel Bard, 1769 (zit. n. Kandel 2006a, S. 313)

1.1Was will dieses Buch?

Das Mantra der Therapie bei Magersucht (Anorexia nervosa) sind Behandlungsresistenz und Therapieabbrüche (Drop-out). Sie sind die meistgenannten Gründe für das Risiko von leidvollen, lang dauernden und kostenreichen Verläufen und werden als Folgen unzureichender oder fehlender Therapiemotivation gesehen.
Motivation ist zwar bei allen Anorexie-Patientinnen vorhanden, meistens sogar in erheblichem Ausmaß, aber sie weist in eine der gesunden Entwicklung entgegengesetzte Richtung. Statt auf eine Normalisierung des Gewichts, des Essverhaltens und der Körperwahrnehmung hinzuzielen, ist anorektisches Verhalten darauf ausgelegt, genau das zu vermeiden. Daraus allerdings den Schluss zu ziehen, diese Vermeidung sei das Problem und müsse bekämpft werden – Motto: die AN2 ist ein Hungerstreik und die Patientin verweigert das Essen, weil sie nicht essen will – führt nicht nur in eine falsche Richtung, es richtet auch Schaden an, indem ein Machtkampf um die Interpretationshoheit über das Hungersyndrom vom Zaun gebrochen wird. Die AN ist kein Hungerstreik (auch wenn es mitunter danach aussieht), sondern eine Krankheit. Die AN-Patientin muss hungern, sie kann nicht anders, weil jede reale oder auch nur antizipierte Nahrungsaufnahme eine für Gesunde nicht nachvollziehbare, irrationale Angstreaktion (Gewichtsphobie) auslöst. Aus der Sicht der Patientin bedeutet die Essensvermeidung deshalb nicht das Problem, sondern eine willkommene Lösung, um die krankheitswertige Panik unter Kontrolle zu bringen. Aus medizinischer Sicht wird damit allerdings der Teufel durch den Beelzebub ausgetrieben. Denn der fortdauernde Hungerzustand geht mit dem Risiko einher, dass nicht nur die seelische Entwicklung der Betroffenen behindert wird, sondern dass mit schwerwiegenden körperlichen Schäden gerechnet werden muss, die im Tod enden können.
Die zentrale Frage lautet daher: Welche Umgebung muss Psychotherapie schaffen, in der die Betroffenen lernen, gesunde Ziele anzustreben, statt sie zu vermeiden?
Gelingt es nämlich, Patientinnen möglichst bald nach Erkennen der Krankheit in eine Therapie einzubeziehen, bei der die Gewichtsrehabilitation sowie Verbesserung der Körperwahrnehmung und des Essverhaltens vorgesehen ist, ist Genesung möglich. Das gilt besonders im akuten Stadium der Krankheitsentwicklung (bis drei Jahre nach einem initialen, markanten Gewichtsverlust) sowie auch noch für das mittlere, subakute Stadium (voll ausgeprägtes Krankheitsbild bis ca. sechs Jahre nach Krankheitsbeginn), während bei länger dauernden Verläufen Heilung immer unwahrscheinlicher wird. Vor diesem Hintergrund ist es umso wichtiger, dass sich Therapieszenarien vermehrt auf die Überwindung der krankhaften Ängste konzentrieren und auf die Motivationsprobleme gerichtet sind, die einen frühzeitigen Therapiebeginn verhindern oder zum Abbruch von begonnenen Therapien führen.
Im vorliegenden Buch befassen wir uns mit diesen Themen. Es geht dabei hauptsächlich um die AN, eine der gefährlichsten entwicklungspsychiatrischen Störungen des Jugendalters, um deren Erscheinungsbild, die Diagnostik, Epidemiologie, Psychologie und um die zahlreichen Erklärungs- und Therapiemodelle. Damit beschäftigen wir uns in unserer psychiatrischen Praxis in der Tat seit vielen Jahren (Liechti 2006, 2007). Es geht aber auch um die Darstellung eines systemisch-bindungsbasierten Therapiemodells, das sich losgelöst von einer spezifischen Störung eignet, die im Jugendalter so häufigen Motivationsprobleme zu lösen. Insofern stellt die Therapie mit Menschen mit AN und ihren Bezugspersonen geradezu den »Modellfall« dar. Er vereint praktisch sämtliche Probleme, die sich im Umgang mit anderweitig psychisch belasteten Jugendlichen nur in der einen oder anderen Form ergeben, etwa:
Fehlende Therapiemotivation, Drop-out, Rückfälle
Unsichere (im Falle der AN meist vermeidende) und desorganisierte Bindungsmuster
Symptomatisches Verhalten als Erfahrung von Wirksamkeit und Kontrolle
»Behaviorale« Probleme, die nur durch die sinnlich-korrektive Erfahrung (Exposition mit dem Unlust auslösenden Reiz) und nicht allein kognitiv (mittels Einsicht) gelöst werden können
Musterbeispiel eines Problemsystems (problemdeterminiertes Sozialsystem)
Notwendigkeit einer komplexitätsgerechten, adaptiven (statt selektiven) Indikation
Das explizierte Therapiemodell nutzt familientherapeutische, systemische und bindungsorientierte Einsichten und Erfahrungen und versteht nahe Beziehungen, Bindungen und die Beziehungsdynamik, die sich um ein beklagtes Problem herum entfaltet, als Therapiekontext und Ressource für die Problemlösung.
Obwohl zahlreiche und hervorragende Bücher zum Thema der AN vorliegen und auch das Problem der sogenannten Behandlungsresistenz als Ursache dramatischer Therapieverschleppung erkannt und benannt wird, werden entsprechende Behandlungsoptionen eher stiefmütterlich und meist auf der Ebene der Dyade Fachperson – Patientin behandelt. Das kontrastiert zur klinischen Erfahrung, dass bei psychisch belasteten Jugendlichen Probleme mit der Therapiemotivation allgegenwärtig sind und darin resultieren, dass professionelle Hilfe gar nicht erst in Anspruch genommen wird.
Summa summarum: was die motivationale Praxis bei psychisch belasteten Jugendlichen im Allgemeinen und bei AN-Patientinnen im Speziellen betrifft, liegt einiges noch im Argen. Mit diesem Buch möchten wir dazu beitragen, die Chancen für eine möglichst frühzeitige und nachhaltige Therapie der AN zu verbessern. Dabei orientieren wir uns nicht primär an der Pathologie der AN oder an irgendwie gearteten »Defekten«, sondern an den davon betroffenen Menschen, diesen kognitiv oft weit entwickelten, affektiv aber hoch vulnerablen und meist einsamen Menschen, die an reich gedeckten Tischen nicht essen können – sowie an ihren engagierten, oft verzweifelten und ohnmächtigen Eltern, Geschwistern oder Partnern. Dass Therapeutinnen und Therapeuten ihre Optik nicht allein auf die Störung richten sollten, hat der britische Neurologe, Neuropsychologe und Verfasser einfühlsamer Krankheitsgeschichten Oliver Sacks (1933–2015) in aller Deutlichkeit festgehalten; nämlich …
»… dass Krankheit nie lediglich ein Überschuss oder eine Einbuße ist, sondern dass es immer eine Reaktion des betroffenen Organismus oder des Individuums gibt, die darauf abzielt, etwas wiederherzustellen, zu ersetzen, auszugleichen und die eigene Identität zu bewahren, ganz gleich, wie seltsam die Mittel zu diesem Zweck auch sein mögen« (Sacks 2009, S. 21).
Beispiel 1: Charlotte H. – Eine Sehnsucht nach Beziehung
Charlotte H., 32-jährig, leidet unter Anorexia nervosa vom bulimischen Typ seit ihrem 16. Lebensjahr; zwei stationäre Behandlungen (insgesamt über anderthalb Jahre), fünf Jahre ambulante Therapie, heute Normalgewicht und seit über einem Jahr ohne Erbrechen, kurz vor Abschluss einer von der Invalidenversicherung unterstützten Lehre als Kosmetikerin. Im Folgenden ein Ausschnitt aus der Abschlusssitzung:
THERAPEUT Sie meinen, es wäre besser, wenn Ihre Mutter die Sorge um Sie abgeben könnte?
CHARLOTTE Also, meine Mutter kann das nicht. Sie wird die Sorgen nie abgeben können. Aber heute verstehe ich sie auch besser. Sie hat immer an mich geglaubt.
THERAPEUT Ist das wichtig gewesen für Ihre Gesundung?
CHARLOTTE Ja. Ich glaube, das Allerwichtigste. Ich denke, die Tatsache, dass meine Mutter so … so unerschütterlich an mich geglaubt hat, das hat mir gezeigt, dass ich … Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, vielleicht dass ich kein Recht habe aufzugeben, obwohl ich ja auch einmal fast gestorben bin … Da habe ich mich irgendwie verpflichtet gefühlt … Oder nein, es ist eher so gewesen, dass es nicht mehr funktioniert hat, ich meine, die Magersucht … Auf einmal hat sie nicht mehr funktioniert … Früher ist der Fressanfall und die ganze Sache drum herum das Wichtigste gewesen … Alles hat sich um das gedreht, um Punkt fünf … Am Morgen das Telefon mit der Mutter, dann zwei Stunden Laufen mit der Mutter, dann Putzen und noch einmal Putzen, dann Einkaufen im Shoppy mit der Mutter, dann Vorbereiten in der Küche und dann Fressanfall, Punkt fünf … Es musste immer um Punkt fünf sein … Und auf einmal … Auf einmal hat das nicht mehr funktioniert, das ist zuerst schlimm gewesen, denn ich habe mich nicht mehr auf den Fressanfall freuen können, das ist furchtbar gewesen, das Einzige, das meinem Leben Sinn gegeben hat, plötzlich hab ich ihn gehasst … Es hat mich wütend gemacht und traurig, eine Traurigkeit, die neu gewesen ist … Ich bin so traurig gewesen, obwohl … Meine Mutter ist ja immer da gewesen … Aber es ist halt noch etwas anderes dazugekommen … So eine … So eine riesige Sehnsucht nach Beziehungen … und da habe ich … Da habe ich entdeckt, dass es nicht an den andern liegt … Dass ich mich selbst … Oder nein, ich muss es so sagen, früher habe ich mich immer einsam gefühlt … Dann ist diese Sehnsucht gekommen, eine Sehnsucht zu leben, ja … Auf jeden Fall bin ich froh, dass ich am Leben bin.
Das Buch richtet sich an Kolleginnen und Kollegen, die trotz schwieriger Erfahrungen mit AN-Therapien nicht aufgegeben haben, Menschen wie Charlotte H. und ihrer verlässlichen Mutter in der ambulanten Praxis beizustehen. Der sehr lückenhafte Stand gesicherten Wissens zur AN erlaubt es nicht, einen einfachen roten Faden durchzuziehen. Jeder einzelne »Fall« verhält sich vielmehr nach eigenen Gesetzen, Möglichkeiten und Grenzen. Wir sind weit davon entfernt, den Hilfesuchenden eine Therapie nach Maß anbieten zu können (methoden- oder manualdefinierte, d. h. für die Störung selektive Indikation für eine größtenteils kausale Behandlung). Zwar hat die Therapieforschung in den vergangenen Jahrzehnten einige empirisch gut abgestützte Grundsätze für die AN-Therapie herausgearbeitet (Abschnitt 3.2), indes bleibt es Tatsache, dass jede einzelne Therapie an die individuelle Situation der Hilfesuchenden angepasst werden muss (man spricht von der adaptiven, kooperations- und patientenorientierten Indikation, d. h. von einer auf individuelle Prozesse und Erfordernisse abgestimmten Behandlung). Als Praktikerinnen und Praktiker richten wir uns infolgedessen nach Ad-hoc-Heuristiken und nach einer adaptiven Prozessbegleitung (Navigation von Therapieprozessen).
Um unsere Vorstellungen von einer der biologischen, psychologischen und sozialen Komplexität angemessenen Therapie der AN zu erläutern, diese zu illustrieren und zu begründen, haben wir die Informationen in diesem Buch mosaikartig zusammengestellt. Sie stammen vorwiegend aus folgenden Bereichen:
Wissenschaftliche Informationen und konzeptuelle Ideen aus zugänglichen Quellen
Äußerungen seitens jener, die ihre Situation am besten kennen: die Patientinnen und ihre Angehörigen
Zahlreiche authentische Dialogbeispiele und anekdotische Fallsituationen aus unserer klinischen Erfahrung über drei Jahrzehnte3

1.2Was nottut

In unserer Sprechstunde suchen uns oft Eltern, alleinerziehende Mütter, seltener auch einmal Väter auf, weil sie verzweifelt sind, sich in großer Sorge wähnen und ratlos sind. Sie wissen nicht, wie sie mit ihren Töchtern und deren seltsamem Essverhalten umgehen sollen. Sie müssen miterleben, wie schlecht es ihnen geht, diesen begabten Mädchen und jungen Frauen, die allen Grund hätten aufzublühen und stattdessen darben, sich zurückziehen, tief unglücklich sind und sich einem ebenso sonderbaren wie unerbittlichen Hungerregime unterziehen. Gleichzeitig nagen Schuldgefühle und eine tiefe Verunsicherung am elterlichen Selbstwertgefühl, weil diese Entwicklung weder vorgesehen noch vorhersehbar war. Mit der Verschlimmerung der Störung dreht sich in der Familie bald alles nur noch um Essen bzw. Nicht-Essen; das Thema bestimmt alle Aktivitäten, Gespräche und Gefühle der Familie – ganz ähnlich einem Magnet, der herumliegende Eisenspäne nach eigenen Gesetzen in sein Kraftfeld zieht.
So brachte eine alleinerziehende Mutter, deren Tochter eine schwere AN entwickelt hatte, ihre Verzweiflung wie folgt auf den Punkt: »Ich habe alles versucht. Zuerst habe ich mit Sarah gestritten, dass sie doch essen soll, habe ihr den vollen Teller hingestellt und sie gezwungen, zumindest am Tisch zu bleiben. Als ich merkte, dass das nicht weiterführt, habe ich sie einfach machen lassen. Doch das führte dazu, dass sie noch weniger gegessen hat. Jetzt, nachdem ich einiges über die Störung gelesen habe, habe ich damit begonnen, Sarah mit Ich-Botschaften zu begegnen, etwa: Ich bin der Meinung, du hast nicht genug gegessen. Doch ich muss zugeben, auch das bringt nichts. Das Einzige, das ich unterdessen wirklich begriffen habe, ist, dass ich machtlos, verzweifelt, in größter Sorge und völlig erschöpft bin« (Sarah V., Erstinterview, 06.04.2005).
Lange Zeit wurde elterliche Hilflosigkeit und Ohnmacht als ein »familiäres Defizit« – wenn nicht gar als Ursache der AN – gesehen. Das hatte zur Folge, dass die Familie oder Eltern als »Störfaktoren« betrachtet und aus der Therapie ausgeschlossen wurden. Aus heutiger Sicht ist die elterliche Ohnmacht in erster Linie Ausdruck einer ganz normalen und gesunden (Fürsorge-)Reaktion auf die bedrohlichen Körper- und Wesensveränderungen ihres Kindes. Die Überforderung beruht auf einer störungsbedingten, widersprüchlichen Beziehungsdynamik: Je größer die Sorge und das Engagement der Eltern(-personen) um das Wohl ihrer hungernden Tochter, umso vehementer ist deren Widerstand (bzw. Reaktanz). Die Bindungstheorie, deren Konzepte in den vergangenen Jahrzehnten Eingang in das psychotherapeutische Repertoire gefunden haben, bietet dazu nicht nur den Verständnisrahmen, sondern liefert überdies daraus ableitbare Strategien zur Bewältigung des Paradoxons. Ihr räumen wir in diesem Buch viel Platz ein.
Insofern richten wir uns auch an die Eltern. Die Bedeutung der Eltern und deren Stellenwert in Bezug auf das Sicherheitsbedürfnis der Patientin werden von Fachleuten unterschätzt. In Nachbefragungen hört man von AN-Patientinnen oft Sätze wie: »Für den Einstieg in die Therapie ist es für mich wichtig gewesen, von meiner Mutter zu hören, es gehe nicht um einen Klinikeintritt, sondern um mich und meine Verantwortung« oder: »Nur meinen Eltern habe ich geglaubt und vertrauen können, als man mir gesagt hat, es werde in der Therapie nicht über meinen Kopf bestimmt«. Eltern sind weder Störfaktor noch Ursache der AN (aus heutiger Sicht eine obsolete Kausalzuschreibung), im Gegenteil, sie sind die wichtigsten Ressourcen für das Schaffen eines motivationalen Therapierahmens.
Beispiel 2: Sally T. – Auf (Beziehungs-)Prozesse bauen
Nach einem abrupten Gewichtssturz ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Geleitwort
  6. Vorwort von Gabriella Milos
  7. Vorwort von Dagmar Pauli
  8. Vorwort der Autoren
  9. 1 Einführung
  10. 2 Erscheinungsbild, Diagnose und einige Fakten
  11. 3 Eine Vielfalt von Modellen und Ansätzen
  12. 4 Konzeptuelle Impulse aus der systemischen (Familien-)Therapie
  13. 5 Konzeptuelle Impulse aus der Bindungstheorie
  14. 6 Klinische Anforderungen an ein Modell
  15. 7 Therapiephasen, Methodisches und ein Dreischritt
  16. Nachwort
  17. Literatur
  18. Über die Autoren