Amraser
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Amraser

Schnelle Geschichten vom langsamen Erwachsenwerden

  1. 224 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfĂŒgbar
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Amraser

Schnelle Geschichten vom langsamen Erwachsenwerden

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

Eine Reise in die Vergangenheit Innsbrucks - lebendig in persönlichen Erinnerungen!Mit viel Wortwitz und Selbstironie skizziert Georg Fabjan den wohl dörflichsten Stadtteil Innsbrucks, wo Mais zwischen Wohnblöcken wĂ€chst und Kuhmist und Kaufhaus-Kommerz friedlich aufeinandertreffen. Dabei erinnert er sich an Folklore, Feste und Vereine, die das Dorfgeschehen bestimmt haben, ebenso wie an Orte und Persönlichkeiten, die wiederum ihn geprĂ€gt haben. Darunter sind bekannte PlĂ€tze, die nach wie vor unverĂ€ndert scheinen, wie das Schloss Ambras, solche, die sich unglaublich verĂ€ndert haben, zum Beispiel das DEZ, oder auch Institutionen, die inzwischen verschwunden sind, wie der Gasthof Seewirt samt Campingplatz. In packenden Kurzgeschichten und Anekdoten entfĂŒhrt uns der Autor in sein Amras - wie es einmal war und an vielen Ecken immer noch ist.

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PLÄTZE, PERSONEN & PERSÖNLICHKEITEN

Die Kirche

Wollen wir mal die Kirche im Dorf lassen. Aber ganz ehrlich: Was wĂ€re Amras ohne seine Kirche? Wo wĂ€re hier ein Zentrum zu erkennen? Wo schlĂŒge das Herz dieses Dorfs? Denn das ist Amras trotz seiner Eingemeindung in die Stadt Innsbruck im Jahr 1938 doch noch immer: ein Dorf. Und man ist stolz darauf und pflegt auch alles, was zu einem Dorf gehört, also auch seine Kirche. Da muss man gar nicht römisch-katholisch oder sonst wie glĂ€ubig sein, um das zu spĂŒren. Als Kind spĂŒrt man so etwas sofort. Eine Kirche ist etwas MĂ€chtiges, Ernstzunehmendes, WĂŒrdevolles, manchmal sogar FurchteinflĂ¶ĂŸendes, eben Ehrfurchterregendes, aber auch ein Ort mit Stil und Kunst, ein Ort einer Gemeinschaft, der Begegnung, der Ruhe.
In die Amraser Kirche ging ich erst, als in der dritten Klasse Volksschule einige Schulfreunde bei der örtlichen Ministrantengruppe angeheuert hatten und um neue Mitglieder warben. Und zwar mit ĂŒberzeugenden Argumenten im Stile eines professionellen Staubsauger-Vertreters: „Hey Georg, bei den Minis isch es volle geil. Mia spiel’n volle viel Fuaßball und der Herr Pfarrer hat ma’s letschte Mal in da Reli-Stund’ an Einsa geb’n.“ Mehr musste ich nicht hören. Ich wurde Ministrant.
Wochenlang haben wir trainiert. Üben, ĂŒben und nochmal ĂŒben schien das Motto zu sein fĂŒr Ministranten-AnfĂ€nger und Robert & Robert achteten sehr darauf, dass wir auch tatsĂ€chlich jeden kleinen Schritt, jeden Handgriff, den es fĂŒr einen wĂŒrdigen Gottesdienst braucht, beherrschten. Es sollte quasi eine perfekte „Show“ werden, wobei Robert & Robert keine Magier waren, die das herbeizaubern konnten. Robert & Robert mussten uns wie Dompteure oft regelrecht bĂ€ndigen, damit im Hause Gottes eine Ruhe war und alles seine Ordnung hatte. Wir waren der lebendige Beweis dafĂŒr, dass das Schlagwort „Brav wie ein Ministrant“ ein totes Klischee ist. Motivation ist bekanntlich alles und so versprachen uns unsere Betreuer Robert & Robert, mit Nachnamen das eine Mal Engelbrecht und das andere Mal Gassler, meistens, den Rest der Mini-Stunde im Jugendheim unter Zuhilfenahme eines Fußballs abzurunden. Das half.
Das erste Mal ist immer etwas Besonderes. Meine Premiere als Ministrant hatte ich zu Allerheiligen. Lange hatten wir darauf hingefiebert und jetzt sollte es endlich so weit sein. Nachdem wir wochenlang immer „in Zivil“ geprobt hatten, nahmen wir nun zum allerersten Mal in der Sakristei die feierlichen GewĂ€nder aus dem Schrank: einen schwarzen Rock, der um die Taille zugeschnĂŒrt und zugebunden werden musste, zudem eine Art schwarzer Stehkragen und darĂŒber wurden frische und saubere weiße Hemden mit RĂŒschchen-Verzierungen an den Ärmeln gestĂŒlpt. Mit schwitzigen HĂ€nden und pochenden Herzen warteten wir in der Sakristei auf unseren großen Auftritt. Dann endlich wurde die Sakristei-Glocke gezogen. Ein zweifaches Klingeln, dann ein gleichmĂ€ĂŸiges Rumpeln der sich erhebenden Kirchenbesucher in den HolzbĂ€nken und jetzt schickten uns Robert & Robert nach draußen, hinauf auf die BĂŒhne – wenn man den Altarraum derart salopp taufen darf –, hinaus ins Rampenlicht.
Das Lampenfieber ging vorĂŒber, der Gottesdienst auch. Alles klappte wie am SchnĂŒrchen. Robert & Robert strahlten nach 45 Minuten in der Sakristei förmlich und schauten zufriedener drein als ein Trainer nach der ersten erfolgreich ĂŒberstandenen Halbzeit in der Champions League. Alle waren nun, wie das so ĂŒblich ist, zurĂŒck in die Sakristei gegangen. Alle, bis auf einen: mich. WĂ€hrend ich verzweifelt und hilfesuchend in die Sakristei schaute, schauten Robert & Robert verwundert zurĂŒck.
Bis jetzt war es unbemerkt geblieben, aber es hatte doch nicht alles wie am SchnĂŒrchen geklappt. Ein SchnĂŒrchen hatte sich nĂ€mlich gelöst, war heimlich, still und leise aufgegangen. Alles hatten wir in den zahllosen Proben geĂŒbt, nur nicht das Zubinden der MinistrantengewĂ€nder. FĂŒr mich persönlich hatte das zur Folge, dass mein schwarzer Rock in der Zwischenzeit tief nach unten ĂŒber die Knöchel gerutscht war und dort dicke Falten warf. Ich war quasi gefesselt und konnte nicht mehr gehen, allerhöchstens watscheln. Dem lieben Gott sei Dank, hatte sich immerhin nicht alles Textil gelöst: Meine Jeans befand sich nach wie vor darunter und so stand ich nicht voll und ganz mit runtergelassenen Hosen da. Trotzdem machte sich Verzweiflung breit. WĂ€hrend die KirchengĂ€ste interessiert und amĂŒsiert auf den ĂŒbrig gebliebenen Ministranten mit runtergelassenem Rock starrten, deutete mir Robert Engelbrecht aus der Sakristei, ich solle doch den Rock einfach hochziehen. Er machte es mir vor, ruderte dabei mit Armen und HĂ€nden.
Aber da kam mir ein weiteres Problem in die Quere, denn eines war uns Ministranten wĂ€hrend der Vorbereitungszeit auf unseren großen Auftritt mehrfach ganz eindeutig gebetsmĂŒhlenartig eingeblĂ€ut worden: Immer die HĂ€nde falten! Ja nicht irgendwie an den GewĂ€ndern herumzupfen! Auf gar keinen Fall! Das macht den Pfarrer fuchsteufelswild! Und wenn ein Pfarrer einmal mit einem teuflischen Wort umschrieben wird, dann 
 ja, spĂ€testens dann muss man sich in Acht nehmen! Zupfen an den GewĂ€ndern, das tun nur MĂ€dchen – und auch deswegen wollte der Pfarrer damals (noch) keines ministrieren lassen. Ich blieb also wie angewurzelt stehen, mit gefalteten HĂ€nden, frei nach dem Motto: „HĂ€nde falten, Goschen halten.“ Einen Ausweg wusste ich allerdings nicht, ich war den TrĂ€nen nahe. Da sprang Robert Gassler zur Hilfe. Er eilte heran, packte mich und trug mich unter dem Applaus der KirchengĂ€nger wie ein frisch vermĂ€hlter BrĂ€utigam seine Angetraute ĂŒber die Schwelle der Sakristei.
Das war mein erstes Mal. An das letzte Mal Ministrieren in Amras kann ich mich nicht erinnern. Fakt ist aber: Ich war ein „Langzeit-Ministrant“. Nicht, dass ich allzu viele Jahre mit Ministrieren verbracht hĂ€tte, nein, aber meine Kirchendienste fielen eben in die Zeit von Pfarrer Lang. Der PrĂ€monstratenser Stefan Lang befolgte allerdings seinen Nachnamen, er war eine ganze lange Epoche, gar eine Ära lang das Kirchenoberhaupt von Amras. Es stimmt schon: Ein bisschen strenger war er als sein Mitbruder Norbert Gapp, den wir in den ersten beiden Volksschuljahren als Religionslehrer genießen durften, und tatsĂ€chlich schien Herr Lang ministrierenden SchĂŒlern im Unterricht ein wenig wohlwollender gesinnt zu sein. Andere riskierten einen seiner berĂŒchtigten SchlĂŒsselbund-WĂŒrfe, wenn sie nicht brav waren. Aber so richtig gefĂŒrchtet war er ja dann doch nicht. Manche fanden Pfarrer Stefan Lang sogar richtig cool. Wenn er mit kurzer, dunkler Stoppelfrisur und statt im weißen Ordenskleid mit schwarzer Lederjacke, großzĂŒgiger Kette und dickem Kreuz um den Hals zur Kirche geradelt kam, hĂ€tte nur das Fahrrad gegen ein Bike ausgetauscht werden mĂŒssen und Pfarrer Lang wĂ€re glatt als Rocker der Hells Angels durchgegangen. Mehr Angel als Hell – versteht sich. Und einen SchmĂ€h wie diesen hĂ€tte der Herr Pfarrer wohl mit einem schmunzelnden Augenzwinkern pariert.
Ganz besonders mochten wir Ministranten Pfarrer Lang alle Jahre wieder um die Weihnachtszeit, konkret am 26. Dezember. Jeder, der da nÀmlich ministrierte, bekam im Anschluss an die Messe in der Sakristei vom Herrn Pfarrer höchstpersönlich 20 Schilling zugesteckt. Wir brauchten von da an keinen Kalender mehr, um zu wissen, wessen Fest- und Namenstag auf den 26. Dezember fÀllt.
Mit der Zeit hatten wir das Ministrieren wirklich drauf. Wir bewiesen Rhythmus- und TaktgefĂŒhl – und das war gut so, denn manchmal erinnerten unsere TĂ€tigkeiten mehr an eine musikalische FrĂŒherziehung nach Carl Orff: Wir konnten im richtigen Moment, genau dann, wenn die große, runde Hostie in die Höhe emporstieg, exakt zweimal klingeln und in der Karwoche sogar mit HolzhammergerĂ€ten, die GerĂ€usche von sich gaben wie pĂ€dagogisch wertvolle Klanghölzer, die Karfreitagsliturgie in Schwung halten. Besonders liebten wir es aber, wenn wir mit dem Weihrauchfass und seiner Kette dynamisch und rhythmisch dreimal in alle Richtungen einen derartigen Dampf ablassen durften, dass die mutigen GlĂ€ubigen in den ersten Bankreihen nur knapp dem Erstickungstod entronnen sind. Im Laufe eines Hochamtes zogen dann durch den relativ kleinen, barocken, goldenen Kirchenraum enorme Rauchschwaden. Das Singen wurde zum KrĂ€chzen und viele Amraser verfielen in einen ansteckenden, krĂ€ftigen Keuchhusten, der auch uns selbst – inklusive Pfarrer – nicht immer verschonte.
Unter den Ministranten waren aber nicht nur die rhythmisch begabten gefragt, sondern auch die krĂ€ftigen. Wenn etwa wieder einmal ein Evangelium von zwei großen Kerzen links und rechts umrahmt werden sollte, begann so mancher Bizeps nach einigen Minuten unwillkĂŒrlich und unkontrolliert zu zittern. Da konnte es schon passieren, dass das heiße Wachs in die Heilige Schrift tropfte. Warum man angesichts solcher Gefahren bei Tageslicht trotzdem auf die Kerzenbeleuchtung nicht verzichten wollte, blieb fĂŒr einige bis heute ein Mysterium. Leid tun konnten einem vor allem jene, die das große Los gezogen hatten, bei einer Prozession das Kreuz bei jedem Wetter vor dem gesamten Ministrantenzug hertragen zu mĂŒssen. Das waren zwar oft richtige Muskelpakete, oder auf gut Amraserisch Kraftlaggl, aber vielleicht um möglichst authentisch an die Leiden Jesu zu erinnern, kamen diese mit jedem zusĂ€tzlichen gegangenen Meter mehr und mehr ins Schwitzen. Da hĂ€tte eine einzelne Veronika mit einem kleinen Schweißtuch gar nichts mehr ausrichten können. Da hĂ€tten am besten Veronika, Monika und Angelika je eine ganze Tunika zum Schweißabwischen gereicht. Aber wehe, wenn man sie einmal braucht. Wo ist Veronika, wenn der Lenz da ist? Na eben 

So verstĂ€ndnisvoll Pfarrer Lang mit uns letztendlich war: RegelmĂ€ĂŸig waren wir bei ihm mit unserem Latein ganz einfach am Ende. Wir verstanden ihn einfach nicht. Und zwar immer in derselben Situation, nĂ€mlich wenn Pfarrer Lang die Kommunion an die Gemeinde austeilte und einer von uns mit der Patene, einer Art kleinem, goldenem Serviertablett, neben ihm stand. Diese Patene sollten wir den GlĂ€ubigen, die nach einer Mundkommunion verlangten, unters Kinn halten. Man weiß ja nie, was passiert: Der eine beißt daneben, die andere verschluckt sich und bekommt einen Hustenanfall. Da sind die Amraser ja nicht anders als andere Kirchenbesucher woanders auch. So eine Mundkommunion nehmen ja – neben den ungeĂŒbten Erstkommunikanten – vor allem die Ă€lteren Semester zu sich und egal, ob die Eintropfsuppe im trauten Heim oder die Hostie in der Kirche: Da kann schon einmal etwas danebengehen. Die Patene war also dazu da, dass nichts auf den Boden fĂ€llt. Denn was kann es Schlimmeres geben – so wurde uns eingetrichtert –, als wenn der Herrgott höchstpersönlich und leiblich auf den kalten, staubigen Fußboden fĂ€llt. Schließlich ist doch die Oblate nach der Wandlung eben der Leib Christi, demnach Gott himself. Da standen wir also hochkonzentriert in Lauerstellung, bereit, einen Hechtsprung hinzulegen, sollte sich ein Brösel Gottes aus einem Mundwinkel auf den Weg in Richtung schwarz-weiß karierten Marmorboden machen. Neben uns Pfarrer Lang, der nichts unversucht ließ, die Hostien zĂŒgig an den Mann und die Frau zu bringen. Was uns dabei wunderte – und was wir eben nicht verstanden –, war, warum Pfarrer Lang dabei jedes Mal ausnahmslos jeden, der zur Kommunion schritt, richtiggehend anzischte. Denn immerhin könnte da ja auch irgendwer erschrecken und dann wĂ€re natĂŒrlich Patenen-Alarmstufe Rot gewesen! Aber jedem, dem eine Kommunion in den Mund oder die aufgefalteten HĂ€nde gelegt wurde, warf der Pfarrer ein kurzes, heftiges „Pst-Pst!“ zu. Wir dachten uns, das wĂ€re vielleicht so etwas wie ein Befehl oder Kommando, dass die Kommunikanten auch wirklich still sind und auch stillhalten, damit eben nichts hinunterfĂ€llt. Gewissermaßen eine prĂ€ventive Maßnahme von Gottes Gnaden. Andererseits: Warum dann so laut? Denn das könnte ja auch das genaue Gegenteil bewirken. Viel zu lange haben wir gerĂ€tselt, was es mit dem geheimnisvollen „Pst-Pst“ wohl auf sich hat, aber niemand wagte zu fragen. Ich weiß nicht mehr, wie es schlussendlich herauskam, vielleicht weil einer der Älteren von uns dann in der Schule Latein hatte. Irgendwann wurde das RĂ€tsel jedenfalls gelöst: Pfarrer Langs „Pst-Pst!“ hieß nichts anderes als „Corpus Christi“, was Herr Lang sehr schnell, ein wenig undeutlich und mit einem enorm krĂ€ftig betonten „S“ aussprach: Corpusss Chrisssti, also „der Leib Christi“. So ist das, wenn man sich nicht versteht, weil man die Sprache nicht beherrscht – oder auch, weil man sich nicht zu fragen traut. HĂ€tte man drĂŒber geredet, wĂ€re das missverstĂ€ndliche RĂ€tsel wohl schon lange gelöst gewesen. Frei nach dem Motto: Kommunizieren kann Kommunionen klĂ€ren.
Jahre spĂ€ter sollte ich ĂŒbrigens in einer anderen Kirche einen Priester ertappen, der eine Hostie auf den Fußboden fallen ließ. Weit und breit kein Ministrant mit einer Patene zum Auffangen des Malheurs. Und was machte der Priester kurzerhand? Einmal gebĂŒckt, die Hostie aufgehoben und von oben wieder in den Kelch zum Austeilen plumpsen lassen. Da sieht man: Amras war anders.
Freilich wurden wir fĂŒr unsere Ministranten-MĂŒhen auch belohnt. Etwa mit einem Abenteuer, das vermutlich nur ganz wenige Amraser ebenfalls erleben durften. Wir durften. Und es gehörte auch ein wenig Mut dazu, um das zu erleben und – wie wir es danach angeberisch erzĂ€hlten – auch zu ĂŒberleben. Und das kam so: Ich weiß nicht mehr, warum uns dieses GlĂŒck zuteilwurde, aber in einer Ministrantenstunde durften wir den Glockenturm unserer Pfarrkirche erklimmen. Zuerst wurde die kleine, eiserne TĂŒr direkt ĂŒber dem Tor der Sakristei, die man wĂ€hrend eines normalen Kirchenbesuches kaum wahrnimmt, umstĂ€ndlich geöffnet. Mit einer Leiter stiegen wir die ersten paar Treppen hinauf, duckten uns und betraten so durch das gotische Tor erst den eigentlichen Kirchturm: ein dĂŒsteres GebĂ€lk aus dunklem Holz, vor allem aber aus unzĂ€hligen Holztreppen, die uns in schwindelnde Höhen bringen sollten. Wer an Vampire glaubt, hat hier jedenfalls nichts verloren. Etliche FledermĂ€use hatten sich hier zum Schlafen zurĂŒckgezogen, ja, regelrecht aufgehĂ€ngt. Im schmalen Inneren des Turmes war es enorm dunkel, obwohl wir bei Tageslicht eingestiegen waren. Kaum auszudenken, wie unheimlich es hier in der Nacht sein musste. Angesichts solcher Horror-UmstĂ€nde hieß es fĂŒr uns aber, den Kopf nicht hĂ€ngen lassen und sich mutig, aber dennoch vorsichtig eine Treppe nach der anderen nach oben wagen. Apropos Kopf: Dieser befand sich wĂ€hrend dieses Aufstiegs vielmehr in einem Dauereinsatz: Zum einen musste man ihn mal nach links, mal nach rechts wegdrehen, um den unzĂ€hligen Spinnweben zu entgehen. Dann war er in einer stĂ€ndigen Auf-und-ab-Bewegung: nach oben schauen, wo’s hingeht, und dann rechtzeitig ducken, wenn schon wieder ein enormer und dafĂŒr umso niedrigerer Holzbalken fast den Weg versperrte – bis wir dann im HerzstĂŒck des Turms angelangt waren: dort, wo sie zu Hause sind – die Kirchturmglocken von Amras.
Die Ankunft war wohl jener von Kolumbus im vermeintlichen Indien nicht unĂ€hnlich. Manche schwiegen ehrfĂŒrchtig und fasziniert von dem Anblick, den die schmalen Turmfenster nun wieder bei Tageslicht zuließen. Anderen entkam ein krĂ€ftiges „Wow“, und dann gab es noch einige, die die Faszination nur erfassen konnten, indem sie tatsĂ€chlich begriffen, nĂ€mlich die mĂ€chtigen und wuchtigen Glocken, sich darunterstellten und mit ihren HĂ€nden den hohlen „Bauch“ der Glocken betatschen und darĂŒberstrichen. So weit, so gut. Aber schon die kleinste BerĂŒhrung erzeugte einen enormen Klang, der fĂŒr die Ohren nur schwer auszuhalten war. Kaum auszudenken, wenn es einer gewagt hĂ€tte, einen der Klöppel gegen eine dieser Glocken zu schlagen. Dennoch versuchten einige Leichtsinnige sogar, die schweren Glocken leicht hin- und herzuschaukeln. Allerdings wurden sie von unserem Betreuer rechtzeitig eingebremst – und zwar vehement. Schließlich hĂ€ngt im Kirchturm von Amras nicht irgendeine Glocke, sondern unter ihren fĂŒnf Glocken ist auch eine der Ă€ltesten Glocken Tirols, ein jahrhundertealtes Werk der Glockengießerfamilie Löffler, genauer von Peter Löffler aus dem Jahr 1491. Die große, stark verzierte Marienglocke, gestiftet von Sigismund dem MĂŒnzreichen und Kaiser Maximilian persönlich. Zum GlĂŒck wusste unser Betreuer das und er wusste auch, dass die großen Glocken nur zu gewissen Zeiten, wie um 7 Uhr in der FrĂŒh oder um Punkt Mittag, gelĂ€utet werden. Oder wenn man sie vor einem Gottesdienst in der Sakristei extra freischaltet. Mittels Knöpfen brachte man sie ferngesteuert von unten zum Schwingen. Ein Schwingen, das man Dutzende Meter weiter unten fast spĂŒren, jedenfalls hören konnte, bis dann mit einem weiteren Knopfdruck der Klöppel freigeschaltet wurde und das GelĂ€ute tatsĂ€chlich losging. Insofern bestand fĂŒr uns keine wirkliche Gefahr – dachten wir. Denn dann passierte es doch: Eine vermeintlich kleine Glocke, die nur zur vollen Stunde schlĂ€gt, ging plötzlich in unserer unmittelbaren NĂ€he los. Angesichts unserer Begeisterung hatten wir die Zeit ĂŒbersehen und wurden geradezu „vollstĂŒndig“ ĂŒberrascht und obwohl wir uns die Ohren zuhielten, dröhnte es dermaßen, dass jeder Schlag sprichwörtlich durch Mark u...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. PROLOG
  4. PLÄTZE, PERSONEN & PERSÖNLICHKEITEN
  5. PERCHTEN, PALMEN & PROZESSIONEN: FOLKLORE UND VEREINE IN AMRAS
  6. PARTITUREN, PAUKEN & POSAUNEN
  7. PAUSEN, PARTYS & PRÜGELEIEN
  8. DER BLICK IN DIE ZUKUNFT
  9. DANK
  10. Georg Fabjan
  11. Zum Autor
  12. Impressum
  13. E-Books der Reihe „Erinnerungen an Innsbruck“