Psychologie
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Psychologie

Wissenschaftstheorie, philosophische Grundlagen und Geschichte. Ein Lehrbuch

Harald Walach

  1. 415 Seiten
  2. German
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Wissenschaftstheorie, philosophische Grundlagen und Geschichte. Ein Lehrbuch

Harald Walach

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Über dieses Buch

Dieses Werk zeigt anschaulich auf, welche historischen Entwicklungen zur Psychologie geführt haben, welche philosophischen Grundthemen in ihr neu vereinigt und verhandelt werden und welche wissenschaftstheoretischen Strömungen innerhalb der Psychologie aufgegriffen worden sind. Hierbei werden auch Darstellungen zur Phänomenologie berücksichtigt. Das Buch schließt mit einigen Überlegungen zu den wesentlichen ethischen Grundproblemen und ihrer Praxisrelevanz für therapeutisch und in der Forschung tätige Psychologen.Der Autor legt mit diesem Werk einen informativen Grundlagentext vor, der Studierenden der Psychologie beim Einstieg ins Studium behilflich sein soll, aber auch jenen, die zu einem späteren Zeitpunkt ein vertieftes Verständnis der Thematik gewinnen wollen.

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Information

Jahr
2020
ISBN
9783170368279
Teil III: Geschichte der Psychologie im deutschsprachigen Raum, Wissenschaftstheorie, Ethik

9 Von der Philosophie zur Psychologie

9.1 Nach-Kantianische Wissenschaft

Kant hatte versucht, Philosophie, ja Wissenschaft neu zu begründen, indem er darauf hinwies, dass die Erfahrung, die ja auch für die Naturwissenschaft maßgebend ist, immer durch die apriorische Verfasstheit des menschlichen Geistes bedingt ist, sodass die Analyse dieser apriorischen Verfasstheit des Geistes als Domäne der Philosophie jeder empirischen Wissenschaft vorgelagert ist. Daraus entwickelte sich in der Zeit nach Kant das eifrige Bemühen der sogenannten Transzendentalphilosophie, dieses »immer schon« des menschlichen Geistes, die apriorischen Bedingungen von Erkenntnis zu analysieren und zu bestimmen. Eine Entwicklungslinie dieser Transzendentalphilosophie, die wir in diesem Buch nur ansatzweise andeuten, weil sie für die Geschichte der Psychologie wenig ergiebig war, ist die Entwicklungslinie des deutschen Idealismus.

Idealismus

Die großen Denker des deutschen Idealismus, Johann Gottlieb Fichte (1762–1814), Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775–1854), folgten Kant in ihrer Analyse und nahmen ihren Ausgangspunkt von der Selbstgewissheit des denkenden Ichs, das sie zum Prinzip allen Wissens machten, da ohne diese Selbstgewissheit überhaupt nichts gewusst werden kann. Daraus entwickelte sich eine Strömung der Philosophie, die einen Kontrapunkt zu der sich entfaltenden Naturwissenschaft zu setzen strebte. Die idealistische Philosophie versuchte also Gewissheit über die Welt aus der Selbstgewissheit des Ichs herzuleiten. Dies ist ihr methodischer Ansatz und ihre unhintergehbare Voraussetzung. Daraus entwickelte Hegel eine elaborierte Philosophie des Geistes, in der sich aus der Selbstgewissheit des Geistes alles bis hin zur Natur ableiten lässt. Das Problem, das sich aus dieser Art von philosophischer Konzeption ergab, war, dass die Materie, die äußeren Umstände, ja auch die schiere Äußerlichkeit des Lebens, die ja auch politisch und wirtschaftlich gesehen für die Mehrzahl der Menschen in dieser Zeit das Zentrale waren, nicht zufriedenstellend erklärbar waren. Obwohl der Ansatzpunkt des deutschen Idealismus, das Ich in seiner denkenden und reflexiven Grundstruktur als Ausgangspunkt allen Wissens, ja allen Seins, zu nehmen, philosophisch durchaus konsistent ist, scheiterte letztlich diese philosophische Bemühung daran, dass sie keinen konsistenten und gangbaren Begriff der Erfahrung und einleuchtenden Begriff der Materie entwickeln konnte. Hier ist interessant zu bemerken, dass der Materialismus, der spiegelbildlich zum Idealismus die Materie und das Objekt als den Ausganspunkt allen Seins betrachtet, bislang auch spiegelbildlich daran scheitert eine zufriedenstellende Herleitung für das Bewusstsein zu entwickeln.
Eine Ausnahme unter den Idealisten scheint uns der noch wenig erforschte und rezipierte amerikanische Semiotiker und Pragmatiker Charles S. Peirce (1839–1914) zu sein [24]. Er versuchte ebenfalls eine idealistische Konzeption der Welt zu begründen, die er auf Ordnungen von Zeichenprozessen abstrahierte. In den von ihm entwickelten semiotischen Triaden von Objekt oder Bezeichnetem, Zeichen und Sinn lässt sich unschwer das dialektische Wechselspiel von These, Antithese und Synthese wiederfinden, wenngleich auch mit anderer Gewichtung und Benennung. Für Peirce ist, ähnlich wie für andere Idealisten, die Materie erstarrter Geist, oder schlafender Geist, um ein Wort Hegels zu verwenden. Allerdings versuchte Peirce eine konsequente Integration naturwissenschaftlicherErkenntnis und evolutionärer Ideen, was seine besondere Bedeutung ausmacht.
Die Naturwissenschaft ging jedoch andere Wege, vor allem einen Weg der Anwendung neuen Wissens, der von vielen als Weg der Eroberung gesehen wurde. Aus ihren Erkenntnissen, und zunächst aus einem Siegeszug der newtonschen Wissenschaft, ließen sich technische Errungenschaften herleiten, die bislang ohnegleichen waren. Die Beteuerung idealistischer Philosophen, dass letztlich doch das Ich, das Denken und der Geist, Ausgangspunkt all dieser materiell greifbaren Errungenschaften seien, waren vielleicht theoretisch interessant, hatten aber in der praktischen Entwicklung der Wissenschaft und der Philosophie keine weiteren Auswirkungen.
Eine unmittelbare und für die Psychologie bedeutsame Entwicklung, die sich aus der idealistischen Philosophie ergab, war die Wiederbelebung des Begriffs des Unbewussten. Leibniz hatte diesen Begriff vorgeprägt. In der Konzeption der idealistischen Philosophien wurde die Seele zu einem schlafenden, vorbewussten Geist. Schelling vor allem speiste diese Bewegung, die sich mit romantischer Naturverklärung verbündete. Schon Herder hatte die Natur als das Schaffensprinzip schlechthin gesehen. Nun wurde es in Schellings Philosophie mit dem vorbewussten Zustand des Geistes identifiziert. Und von da war es nur noch ein kleiner Schritt zu der Vorstellung, die dann von Carus formuliert und vermittelt wurde, dass das Unbewusste als natürlicher Nährquell des bewussten Geistes all das enthält, was naturhaft-dunkel, schöpferisch-strebend waltet. Von hier führte aus der idealistischen Philosophie ein deutlicher Weg zur psychoanalytischen Theorie vom Unbewussten [32, 34].

Philosophie und Naturwissenschaft

Eine andere Entwicklung der Transzendentalphilosophie versuchte in kantscher Manier stärker an der Realität der geistigen Operationen zu bleiben, zu überlegen und zu philosophieren, wie Erkenntnis möglich wäre. Während sich die Philosophie also theoretisch um das kantsche Erbe kümmerte, schritt die Naturwissenschaft in ihren praktischen Auswirkungen der Technik auf dem Weg zur Befreiung des Menschen von der Natur und zur allgemeinen Wohlfahrt voran, ohne sich um die philosophischen Debatten im Tiefsten zu kümmern. Wissenschaftlich gesehen finden wir also am Ende des 19. Jahrhunderts und zu Beginn der Zeitenwende eine Philosophie, die sich von den Entwicklungen der Naturwissenschaft meistenteils abkoppelt und eine Naturwissenschaft, die sich von den subtilen Überlegungen der Philosophie nicht aufhalten lässt und ihrem eigenen Fahrplan folgt. Die Erfolge der Naturwissenschaft sowohl in der Grundlagenentdeckung, z. B. in der Chemie oder der Physik, als auch in ihren Anwendungen, der Technik, geben ihr im Grunde pragmatisch Recht. Daher muss es nicht verwundern, wenn verschiedene Philosophen zeitgleich und unabhängig voneinander die Sterilität einer philosophischen Erörterung des Geistes beklagen und auf der anderen Seite wahrnehmen, wie die naturwissenschaftliche Methodik der Erfahrung, des Messens, des Zählens und des Experimentierens zu ungeahnten und nie da gewesenen Erfolgen führt. Während die Philosophen sich darüber stritten, was nun eigentlich das Gute konkret im menschlichen Leben sei, wie Moral zu konzipieren sei, wie Wahrnehmung und ihre geistige Verarbeitung funktioniert, verwendeten Naturwissenschaftler den Wahrnehmungsapparat und das Denken, um etwas über die Welt herauszufinden, und waren damit erfolgreich.
Dass dieser Erfolg gerade in politisch-sozialer Hinsicht nicht nur zu einer Befreiung der Menschen, sondern oft auch zu ihrer Verdinglichung verwendet wurde, führte wohl mit dazu, dass die politische Entwicklung ganz andere Wege ging. In den Revolutionsbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts bis hin zu der nationalsozialistischen Machtergreifung spielten philosophische Versatzstücke und naturwissenschaftliche Errungenschaften gleichermaßen eine Rolle. Die idealistische Philosophie hatte Marx und Engels befruchtet und zu ihrer direkten Gegenfigur, dem dialektischen Materialismus geführt. Die braunen Macher der nationalsozialistischen Bewegung waren mit ihren abstrusen ideologischen Glaubenssätzen der Technikgläubigkeit anheimgefallen und huldigten einer bizarren Mischung von materialistisch inspirierter Technikgläubigkeit und Vertrauen auf eine im Dunklen der Geschichte waltenden »Vorsehung«.
Wenn Kant Recht hatte, dann war neueErkenntnis nur im Rahmen synthetischer Urteile möglich. Synthetische Urteile aber stellen, wie wir gesehen hatten, Aussagen dar, in denen einer Sache eine Eigenschaft zugeschrieben wird, die nicht schon aus ihrem Begriff ableitbar ist. Synthetische Urteile erfordern also Empirie, Erfahrung. Insofern es synthetische Urteile a priori nur in bestimmten Bereichen gab – laut Kant in der Moral, in der Theologie und in der Mathematik –, wäre eine gültige und solide Erkenntnis z. B. des menschlichen Innenlebens, der Psychologie, durch reines Nachdenken nicht mehr zu gewinnen. Synthetische Urteile als Voraussetzung neuer Erkenntnis erfordern Empirie, Erfahrungswissenschaft. Daher ist es folgerichtig, dass Philosophen, die sich über den Zustand der Philosophie im Klaren geworden waren und auf der anderen Seite nicht blind gegenüber den wissenschaftlichen Fortschritten in den Naturwissenschaften waren, darüber nachzudenken begannen, wie das Funktionieren des menschlichen Geistes zu erforschen sei und ob nicht auch die Kausalforschung, d. h. die experimentelle naturwissenschaftliche Methode, für die Philosophie geeigneter wäre als die philosophische Reflexion. Aus dieser geistesgeschichtlichen Spannung, die letztlich aus der kantschen Analyse erwuchs, entstand das Kraftfeld, in dem die moderne Psychologie ihren gegenwärtigen, vielleicht wichtigsten Ursprung hat.

9.2 Franz Brentano (1838–1917)

Einer derjenigen Philosophen, die maßgeblich für die Entwicklung der Psychologie als empirische Wissenschaft waren, war Franz Brentano [20]. Brentano wuchs in einem katholischen Elternhaus am Rhein auf. Er war über seinen Onkel, Clemens Brentano, und seine Tante, Bettina von Arnim, mit der literarischen Welt seiner Zeit verbunden. Nach einem ersten Studium in Philosophie entschied er sich zum Priestertum, wurde Priester und vollendete daraufhin seine Philosophiestudien. In Würzburg reichte er 1866 seine Habilitationsschrift ein und wurde Privatdozent für Philosophie. In der Verteidigung seiner Habilitationsschrift stellte er 25 Thesen zur Erneuerung der Philosophie vor. Eine der provokantesten davon lautete »Die Methode der Philosophie ist keine andere als die der Naturwissenschaft«. [4] Damit hatte er den Ton angeschlagen, der letztlich zu einer Abspaltung der Psychologie als empirischer Wissenschaft von der Philosophie führen sollte. Brentanos provokatives Wort von der naturwissenschaftlichen Methode der Philosophie meinte zunächst nichts anderes, als dass Methodik im positiven Sinne auch Grundlage der Philosophie zu sein habe. Dahinter verbarg sich seine Auffassung, dass es verschiedene Phasen auch der philosophischen Wissenschaft gäbe, deren Anfangsphase zu einem Höhepunkt und schließlich zu einem Verfall führen würde. Die Philosophen des deutschen Idealismus sah er als Vertreter einer Zerfallsperiode der Philosophie an, weswegen nun eine neue Epoche beginnen müsse, die sich eben wiederum einer neuen philosophischen Methode zu verschreiben habe, eben jener der Naturwissenschaft. Diese, so meinte Brentano, wäre aber eine Methode der Erfahrung und der systematischen Beobachtung. »Die Philosophie ist eine Wissenschaft wie andere Wissenschaften und muss darum, richtig betrieben, auch eine mit der Methode anderer Wissenschaften wesentlich identische Methode haben. Die wissenschaftliche Methode (…) ist, das ist heute ausgemacht, auch für die Philosophie die einzig wahre. Und so allein wird sie sich dann auch mit den anderen Wissenschaften im Kontakt erhalten. (…) In allen aufsteigenden Epochen der Philosophie hat diese Methode geherrscht und wo sie verlassen wurde, war ihr Verfall notwendig; der wissenschaftliche Charakter war dahin.« [4, S. 32 f.])
Mit dieser programmatischen Idee wollte Brentano also einen Anschluss an die anderen erfolgreichen Wissenschaften, und dies waren die Naturwissenschaften, gewährleisten. Dies schien ihm nur durch einen entschiedenen Schritt der Erneuerung möglich zu sein: nämlich die Psychologie, eine Wissenschaft der psychischen Zustände, zur Grundlage für die Philosophie zu machen. Denn erst, wenn man die Grundlage des Denkens, die Wahrnehmungsprozesse, die Denkprozesse, evtl. auch die motivationalen Prozesse, ausreichend verstanden hat, erst dann wird auch die Philosophie wissenschaftlich zu begründen sein. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass Brentano bereits erste Wahrnehmungsexperimente mit optischen Täuschungsfiguren, z. B. der Müller-Lyerschen Täuschung, machte, in der parallele Geraden verzerrt erscheinen, je nach ihrem Kontext. Brentano stellte also die Forderung auf, dass sich die Philosophie selbst auf eine empirisch zu fassende Psychologie gründen müsse. Dabei darf man das Wort »Empirie« (von gr. empeiria»Erfahrung, Erfahrungswissen«) nicht im verkürzten Sinne nur als Erfahrung von äußeren, materiellen Gegenständen verstehen, sondern gleichermaßen auch als die innere Erfahrung von geistigen Inhalten.
Brentano unterschied zunächst zwei verschiedene Typen von Psychologie: die sogenannte »deskriptive Psychologie« oder »Psychognosie« und die »genetische Psychologie« [6]. Die »deskriptive Psychologie« oder »Psychognosie« war für Brentano die grundlegende Erfahrungswissenschaft, die er im Auge hatte. In ihr sollten durch die innere Erfahrung Denkprozesse und Wahrnehmungsprozesse ergründet werden. Brentano meinte, dass solche innere Erfahrung in hohem Maße Evidenzcharakter besitzen würde, und daher eine Basis für die Wissenschaft abgeben könne. Damit wären also die inneren Prozesse, die der Erfahrung des Außen zugrunde liegen, zunächst methodisch abgesichert und würden dann auch die Erfahrungserkenntnisse der äußeren Welt begründen können. Diese Auffassung scheint er schon sehr früh, nämlich in Würzburg, vertreten zu haben.
Seine Tätigkeit als Privatdozent für Philosophie in Würzburg war verbunden mit theologischer Arbeit als Sekretär der Bischofskonferenz in Fulda. In dieser Funktion hatte er die Denkschrift der deutschen Bischofskonferenz gegen das geplante Unfehlbarkeitsdogma des Papstes ausgearbeitet. Dennoch hatte der Papst sein Unfehlbarkeitsdogma verkündet. Diese Situation machte es Brentano immer schwerer, sein Amt als Priester auszuüben und dabei intellektuell redlich zu bleiben, sodass er schließlich vom Priesteramt zurücktrat. Dadurch wurde er in Würzburg als Mitglied der Universität untragbar und nahm schließlich 1874 gegen viele Widerstände klerikaler Kreise ein Ordinariat für Philosophie in Wien an. Dort übte er eine große Anziehungskraft aus und muss als Quelle und Schlüsselfigur vieler Autoren angesehen werden, die später das Gebiet der Psychologie prägten. Nachweislich hörten Freud, Stumpf und Husserl die Vorlesungen von Brentano in Wien. Auch der Begründer der Anthroposophie, Rudolf Steiner, hörte bei Brentano Vorlesungen. Damit muss Brentano und seine Auffassung von der Empirie des Seelenlebens, seine Betonung der Introspektion und der inneren Erfahrung als Quelle sicherer psychologischer Erkenntnis auch als anregend für Freuds spätere Methodik gesehen werden. Gleichzeitig beeinflusste Brentano damit Husserls spätere Phänomenologie und die Begründung der Freiburger Schule der Psychologie sowie die Weiterentwicklung der Philosophie durch Heidegger und später die philosophische Hermeneutik. Carl Stumpf wiederum wurde zum Begründer der Gestaltpsychologie.
In Wien und nach der Wiener Zeit entwickelte Brentano seine Aufteilung in genetische und deskriptive Psychologie weiter. Die deskriptive Psychologie war für Brentano zweifellos die grundlegende und vorrangige. In ihr ging es also, wie gesagt, um die empirisch beschreibende Darstellung der inneren Akte. Damit meinte Brentano innere Erfahrung, die introspektiv, scharf und evident sei. Die spätere Geschichte hat diese Schwerpunktsetzung Brentanos nicht weiter übernommen, da sich die Akte der Introspektion alles andere als eindeutig erwiesen haben. Dennoch ist das Verdienst, zwei unterschiedliche Erfahrungsweisen voneinander abgehoben zu haben, nicht von der Hand zu weisen. Bereits Aristoteles, mit dessen Philosophie sich Brentano in seiner Dissertation auseinandergesetzt hat, hatte darauf hingewiesen, dass es so etwas wie unbezweifelbare Erkenntnis in den Erfahrungsakten gäbe, die Aristoteles die Wahrnehmu...

Inhaltsverzeichnis

  1. Deckblatt
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Einleitung
  6. Teil I: Das Wesentliche
  7. Teil II: Philosophiehistorisches Propädeutikum, oder: Im Galopp durch die Philosophiegeschichte
  8. Teil III: Geschichte der Psychologie im deutschsprachigen Raum, Wissenschaftstheorie, Ethik
  9. Personenverzeichnis
  10. Sachwortverzeichnis
Zitierstile für Psychologie

APA 6 Citation

Walach, H. (2020). Psychologie (4th ed.). Kohlhammer. Retrieved from https://www.perlego.com/book/1790134/psychologie-wissenschaftstheorie-philosophische-grundlagen-und-geschichte-ein-lehrbuch-pdf (Original work published 2020)

Chicago Citation

Walach, Harald. (2020) 2020. Psychologie. 4th ed. Kohlhammer. https://www.perlego.com/book/1790134/psychologie-wissenschaftstheorie-philosophische-grundlagen-und-geschichte-ein-lehrbuch-pdf.

Harvard Citation

Walach, H. (2020) Psychologie. 4th edn. Kohlhammer. Available at: https://www.perlego.com/book/1790134/psychologie-wissenschaftstheorie-philosophische-grundlagen-und-geschichte-ein-lehrbuch-pdf (Accessed: 15 October 2022).

MLA 7 Citation

Walach, Harald. Psychologie. 4th ed. Kohlhammer, 2020. Web. 15 Oct. 2022.