Erik H. Erikson
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Erik H. Erikson

Grundpositionen seines Werkes

  1. 240 Seiten
  2. German
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Erik H. Erikson

Grundpositionen seines Werkes

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Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

Erik H. Erikson gilt nach wie vor als einer der bedeutendsten Psychoanalytiker nach 1945. Dieses Buch liefert einen kritisch-informativen Überblick über sein umfangreiches Werk. Nach einem biographischen Abriss werden die wichtigsten theoretischen und klinischen Beiträge Eriksons in gut verständlicher Form erläutert und übersichtlich zusammengefasst: die Identitätspsychologie, die sozialpsychologischen Überlegungen, das Acht-Phasen-Modell des menschlichen Lebenszyklus, die Neuformulierung der psychoanalytischen Triebtheorie, die tiefenpsychologischen, ethisch-religiösen und klinischen Beiträge bis hin zu seinen biographischen Studien über Martin Luther und Mahatma Gandhi. Das Buch dient somit auch als wertvolle Hilfe bei der Lektüre und dem Studium der Originaltexte von Erikson.

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Information

Jahr
2020
ISBN
9783170386921
Auflage
2

1 Leben und Werk Erik H. Eriksons

1.1 Kindheit, Jugend, psychoanalytische Ausbildung

Man hat Erikson als den »Pionier der Identitätskrise« bezeichnet, und es war nicht allein wissenschaftliches Interesse, sondern auch eine starke Affinität zu seiner eigenen Lebensgeschichte ausschlaggebend für die Beschäftigung mit diesem Thema. Es könne durchaus sein, gesteht Erikson, »dass ich dieser Krise einen Namen geben und sie in alle anderen Menschen hineinsehen musste, um selbst mit ihr fertigzuwerden« (1982b, S. 25). Obwohl er in behüteten Verhältnissen aufwuchs und es ihm in seiner Kindheit scheinbar an nichts mangelte, war Eriksons Leben von früh auf von Erfahrungen der Randständigkeit geprägt. Seine spätadoleszente Unausgeglichenheit bewegte sich nach eigenen Worten zeitweilig »an der Grenze zwischen Neurose und Jugendpsychose« (ebd., S. 25). Erst die eher zufällige Begegnung mit dem Wiener Kreis um Sigmund Freud, das Erlernen der Psychoanalyse, die ihm »Beruf und Berufung« wurde (1978b, S. 99), brachte größere Stabilität in sein Leben. Eriksons Aufstieg in den USA nach seiner Emigration im Jahr 1934 war kometenhaft. Er wurde zum ersten Kinderanalytiker in den Vereinigten Staaten, zum Dozent an unterschiedlichen amerikanischen Universitäten, zum psychoanalytischen Schriftsteller. Bücher wie »Kindheit und Gesellschaft«, »Der junge Mann Luther«, »Jugend und Krise« oder »Gandhis Wahrheit« wurden in den folgenden Jahrzehnten in viele Sprachen übersetzt und erlangten weltweite Beachtung.
Wie weit Eriksons Ruhm und moralische Autorität seiner inneren Verfassung entsprachen, ist aus heutiger Sicht schwer zu beurteilen. Neuere Veröffentlichungen, vor allem die Biographie des amerikanischen Historikers Lawrence Friedman (1999) und die Erinnerungen Sue Erikson Blolands (2007) an ihren Vater, zeichnen das Bild eines von geheimen Ängsten, Konflikten und Selbstzweifeln belasteten Menschen. Dass Erikson, wie inzwischen ans Licht gekommen, sein behindertes Kind in ein Heim gab und daraus ein Familiengeheimnis machte, verwundert bei einem Psychoanalytiker, der den Appell zu Fürsorglichkeit und Verantwortung in den Mittelpunkt seines Werkes stellte. Hier deutet sich ein Stück menschlicher Zwiespältigkeit an, das Erikson selber sicherlich am wenigsten geleugnet hätte. Vor allem zeigt sich die Macht des Wiederholungszwanges, scheint Erikson doch unbewältigte Themen aus seiner eigenen Biographie an Frau und Kinder weitergegeben zu haben.
Erikson wurde am 15. Juni 1902 in der Nähe von Frankfurt a. M. geboren. Seine Mutter, Karla Abrahamsen, stammte aus Kopenhagen und war in einer gut situierten jüdischen Familie aufgewachsen. Nachdem sie kurz nach der Hochzeit von ihrem Mann, dem Börsenmakler Valdemar Salomonsen verlassen worden war, ging sie, mit Erik schwanger, nach Deutschland. Durch die Recherchen Friedmans wissen wir mittlerweile, dass Salomonsen nicht Eriksons Vater war, er offenbar aus einer Affäre hervorgegangen ist. Das Rätsel um den leiblichen Vater konnte bis auf den heutigen Tag nicht gelöst werden und belastete Erikson bis ins hohe Alter offenbar schwer. Karla Abrahamsen heiratete schließlich im Jahr 1905 den Karlsruher Kinderarzt Dr. Theodor Homburger, und das großbürgerliche Haus des Stiefvaters Am Schlossplatz 9 wurde Eriksons prägendes Kindheitsmilieu. Erik erwies sich als ein musisch begabtes Kind, erlernte das Klavierspielen und zeichnete von früh auf mit großer Leidenschaft. Die modisch-elegante, an Kunst, Philosophie und Literatur interessierte Mutter und der gebildete, feinfühlige, strenggläubige Stiefvater führten ein an die bürgerlichen Konventionen der damaligen Zeit angepasstes Leben, vermittelten ihrem Sohn aber, ebenso wie den nach ihm geborenen zwei Stiefschwestern, ein liberales Klima geistiger Offenheit. Dennoch verschwiegen sie dem jungen Erik seine wahre Herkunft, so dass das Familiengeheimnis bei ihm vage Gefühle von Fremdheit, Befangensein, Anderssein zurückließ. Schon früh scheint er in seinen Tagträumen an einem Familienroman gestrickt zu haben, von einem dänischen Aristokraten abzustammen, als Sohn besserer Eltern zu Höherem berufen zu sein (vgl. Erikson, 1973, S. 808; Erikson Bloland, 2007, S. 45ff.)
In Karlsruhe besuchte Erikson zunächst die Volksschule und von 1912 bis 1920 das Bismarckgymnasium, »seine letzte wirklich durchgehaltene Auseinandersetzung mit formaler Bildung« (Coles, 1974, S. 29). Empfindsam, scheu, hielt er eher Abstand gegenüber den Klassenkameraden, konnte sich nicht gut gegen Angriffe wehren. Inmitten hochgeputschter nationaler Gefühle wurde Erik mitunter als »der Däne« abgetan oder Judenjunge verschrien, während er in der Synagoge des Stiefvaters, blond und blauäugig, als »Goy« galt. Allen Versuchen Theodor Homburgers, ihn in der Tradition des jüdischen Glaubens zu unterweisen, begegnete der junge Erik mit passivem Widerstand. Das liberale Judentum schlug in ihm keine bleibenden Wurzeln. Noch weniger behagten ihm die Tugenden des wilhelminischen Zeitalters, Disziplin, soldatische Zucht, Pauken und Auswendiglernen. Verträumt, sich oftmals in innere Welten zurückziehend, sehnte Erik sich nach etwas »ganz Anderem« jenseits der bürgerlichen Konventionen seiner Umgebung. Der Naturheilkundler und »Wasserdoktor« Edwin Blos, Vater seines Jugendfreundes Peter Blos, der sich damals wie Gandhi kleidete, beeindruckte ihn in seiner mutigen Exzentrizität. Quasi in Opposition zur Weltanschauung seines Stiefvaters fühlte Erik sich als Heranwachsender zu den christlichen Evangelien hingezogen. Und schon damals imponierte ihm die Person eines der größten Widerspruchsgeister der Geschichte: Martin Luther.
Nach dem Abitur widersetzte sich Erik dem Wunsch Theodor Homburgers, Medizin zu studieren, um dann die kinderärztliche Praxis zu übernehmen. Es folgten sieben krisenhafte Jahre der Unentschlossenheit und des oft ziellosen Sich-Treiben-Lassens. Immer wieder unternahm Erikson in dieser Zeit Versuche, eine formale künstlerische Ausbildung zu absolvieren, die er nach kurzer Zeit abbrach, um auf Wanderschaft zu gehen. All die Stimmungsschwankungen und Arbeitsstörungen, die er später bei seinen jugendlichen Patienten behandelte, durchlebte er als Spätadoleszenter selber. Erst die Bitte Peter Blos’, ihn in Österreich beim Aufbau einer kleinen Privatschule für die Kinder amerikanischer Psychoanalyse-Anhänger zu unterstützen, brachte seinem Leben die entscheidende Richtungsänderung. Die Arbeit als Pädagoge in Wien von 1927 bis 1932 war die erste von vielen Tätigkeiten, für die Erikson nicht die richtigen Zeugnisse mitbrachte. Der junge Mann, der unkonventionell und antiautoritär unterrichtete, und die Schar der Wiener Psychoanalytiker, von denen manche ähnlich improvisierten Lebensläufen gefolgt waren – sie passten irgendwie zueinander. Anna Freud hatte gerade ihr später berühmtes kinderanalytisches Seminar eingerichtet und interessierte sich für das Experiment mit der Privatschule. Erikson wurde zum Kandidaten für die psychoanalytische Ausbildung vorgeschlagen und absolvierte von da an bei Anna Freud täglich eine Stunde Lehranalyse in Sigmund Freuds berühmter Privatpraxis, Berggasse 19. Der Gründervater der Psychoanalyse hatte sich damals aus der Wiener Gesellschaft weitgehend zurückgezogen und lehrte auch nicht mehr. Erikson begegnete ihm bisweilen im Wartezimmer zu Anna Freuds Praxis oder auf gemeinsamen Spaziergängen. Er vermied es jedoch, Freud anzusprechen, nicht nur aus Scheu, sondern auch, weil das Sprechen dem alten Mann aufgrund des fortgeschrittenen Kieferkarzinoms Schmerzen bereitete.
Neben der Ausbildung in der Kinderanalyse und einem parallel dazu absolvierten Montessori-Studium führte Erikson auch erste, vom Lehranalytiker kontrollierte Therapien Erwachsener durch und arbeitete sich am Wiener Institut gründlich in das Theoriegebäude der Psychoanalyse ein. Seine Lehrer waren jene später international renommierten Persönlichkeiten wie Heinz Hartmann, Paul Federn, Ernst Kris, Helene Deutsch, August Aichhorn oder Edward Bibring. Die Seminare fanden in der Regel abends statt. Die Gruppe der Teilnehmer – Ärzte, Lehrer, Erzieher, Literaten – war meist so klein, dass man sich bequem in den Wohnungen der Dozenten treffen konnte. Erikson bezeichnete diesen Kreis als eine Art psychiatrische »freie Universität« und empfand in dieser Forschungsgemeinschaft ein hohes Maß an Loyalität und gegenseitiger Achtung. Später mutmaßte er, dass es »irgendwie eine positive Stiefsohnes-Identität war, die mich wie selbstverständlich annehmen ließ, ich würde dort akzeptiert, wo ich nicht ganz dazugehörte. Aus dem gleichen Grund aber musste ich auch meine Nichtzugehörigkeit kultivieren und zu dem Künstler in mir Kontakt halten; meine Identität als Psychoanalytiker sollte sich daher erst viel später festigen, als ich mit Hilfe meiner amerikanischen Frau ein schreibender Psychoanalytiker wurde – wenngleich wiederum in einer Sprache, die nicht meine eigene war« (1982b, S. 28f.).
Die Wiener Zeit war nicht frei von Krisen. Je weiter die Lehranalyse fortschritt, desto mehr zeigte sich Eriksons tief verwurzelte Angst, festgelegt und in seinem persönlichen Freiraum beschnitten zu werden. Als er Anna Freud wieder einmal auseinandersetzte, dass er bei einem so intellektuellen Unternehmen wie der Psychoanalyse kein Betätigungsfeld für seine künstlerischen Neigungen sähe, soll sie mit leiser Stimme gesagt haben: »Sie könnten den Menschen helfen, sehen zu lernen« (1982b, S. 29). Dieses einfache Gebot wirkte auf Erikson wie eine Art Offenbarungserlebnis. Er war fortan nicht an einer strengen theoretischen Verankerung der Lehre vom Unbewussten auf naturwissenschaftlichem Fundament interessiert. Vielmehr fühlte er sich von jenen verborgenen künstlerischen, idiographischen und ethischen Seiten der Psychoanalyse angesprochen, die Freud aus Gründen wissenschaftlicher Redlichkeit eher zu unterdrücken versucht hatte. Die Heirat mit der aus Kanada stammenden Joan Serson im Jahre 1929 bedeutete einen weiteren Schritt seiner persönlichen Identitätsfindung. Erikson hatte die attraktive und gebildete Frau, die sich in Europa aufhielt, um für ihre Promotion die Geschichte des modernen Tanzes zu recherchieren, auf einem Faschingsball kennengelernt. Während all der späteren Jahre blieb die ebenso liebenswürdige wie manchmal energische Joan die komplementäre Ergänzung zu seiner Persönlichkeit, eine Art schöpferischer Resonanzboden und kritischer Inspirator vieler seiner Schriften.

1.2 Der Aufstieg in den Vereinigten Staaten

1934 emigrierte Erikson mit seiner Familie in die Vereinigten Staaten und nannte sich ab seiner Einbürgerung 1939 Erik Homburger Erikson. Er eröffnete eine kinderanalytische Praxis in Boston und fand als einer der letzten Nicht-Mediziner Aufnahme in die Amerikanische Psychoanalytische Gesellschaft. Amerikanische Universitäten empfingen damals Psychoanalytiker aus Europa mit offenen Armen. Die medizinische Fakultät der Harvard Universität ernannte Erikson zum Mitglied, ab 1936 erhielt er einen Lehrauftrag am Institute of Human Relations der Yale Universität und wurde wenig später zum Assistenzprofessor an der Yale Medical School berufen. Die Freiheit zu verschiedensten Forschungsprojekten, der undogmatische Gedankenaustausch mit Ärzten, Soziologen und Anthropologen beeinflusste Eriksons Denken stark. Sein wissenschaftlicher Weg, die psychoanalytische Lehre vom Unbewussten und die Triebtheorie mit dem Einfluss von Gesellschaft und Geschichte auf die Persönlichkeitsentwicklung zu verbinden, deutete sich hier bereits an. Freilich verstand sich Erikson in erster Linie als Kliniker. Ähnlich wie sein Stiefvater behandelte er Kinder aus wohlhabenden Bostoner Familien, kümmerte sich daneben aber auch um problematische Jugendliche aus sozialen Brennpunkten.
Eriksons Jahre in Kalifornien von 1939 bis 1950 waren die wohl schöpferischsten seines Lebens, in denen er endgültig aus dem Schatten Freuds heraustrat und einen eigenständigen Ansatz in der Psychoanalyse formulierte. Seine vielfältigen neuen Erkenntnisse auf dem Gebiet der Ich- und Identitätspsychologie, der psychoanalytischen Sozialpsychologie, Entwicklungstheorie und Psychosenforschung fasste Erikson 1950 in seinem Hauptwerk »Kindheit und Gesellschaft« zusammen. Dieses ungemein vielfältige und anregende Buch wurde ein Welterfolg und machte ihn mit einem Schlag zu einem der populärsten Vertreter der nachfreudianischen Psychoanalyse. Nach außen führte Erikson mit seiner Frau und seinen Kindern Kai, Jon und Sue ein harmonisches Familienleben, war aber nicht so kritiklos an das amerikanische Establishment angepasst, wie man es ihm später mitunter unterstellte. Sein entschiedenes Eintreten für die akademische Freiheit in den Zeiten antikommunistischer Hexenjagd, sein Rücktritt von der Professur an der Berkeley-Universität 1950 in der Debatte um den Treueeid, zeugten von Mut und Zivilcourage. Belastet wurden diese Jahre von einem Ereignis, das sich nur schwer in Eriksons Biographie einordnen lässt. Als das vierte Kind Niels 1944 behindert zur Welt kam, entschied Erikson nach Rücksprache mit einigen Experten, den Säugling sofort nach der Geburt in ein Heim zu geben. Ob dies nach damaliger Sachlage das Beste für das Kind war, ob Erikson, wie es bei Erikson Bloland (2007) anklingt, seine weitere Karriere nicht zu sehr belasten wollte, ist aus heutiger Sicht schwer zu beurteilen. Niels lebte noch 21 Jahre, ohne dass die Familie Kontakt zu ihm aufnahm. In ihrer Autobiographie »Im Schatten des Ruhms« führt Eriksons Tochter Sue aus, wie sehr ihre persönliche Entwicklung durch das Familiengeheimnis belastet wurde, welche Ängste und Selbstzweifel sie bei ihren Eltern hinter dem Streben nach Erfolg und Anerkennung stets gespürt habe.
1951 kehrte Erikson in den Osten der USA zurück und war für zehn Jahre am Austen-Riggs-Center tätig, einem kleinen, forschungsfreudigen Privatkrankenhaus in Stockbridge, Massachusetts. In der therapeutischen Begegnung mit präpsychotisch gestörten jungen Patienten rückte das Jugendalter in den Blickpunkt seines Interesses, arbeitete er das Syndrom der Identitätsverwirrung näher heraus. Zwischen 1954 und 1963 verfasste Erikson eine Reihe von Aufsätzen zur Entwicklungsproblematik der Adoleszenz, die er 1968 überarbeitet in seinem zweiten Hauptwerk »Jugend und Krise« zusammenfasste. Höhepunkt der Veröffentlichungen dieses Jahrzehnts war 1958 »Der junge Mann Luther«, eine faszinierende Biographie über den Weg des Reformators aus schweren Identitätsnöten zu historischer Größe, die Erikson zu einem Mitbegründer der psychohistorischen Forschung machte.
1960, nach seiner Berufung als Professor für Entwicklungspsychologie an die Harvard-Universität in Cambridge, musste Erikson seine klinische Tätigkeit weitgehend aufgeben. Er erwies sich als ungemein packender Dozent, ein Menschenführer, der in seinen jungen Studenten ein kritisches Bewusstsein zu wecken suchte. Nicht nur in den USA, weltweit besaß Erikson eine immer größere Schar von Anhängern, wenngleich er es stets ablehnte, eine eigene »Eriksonsche« Schule der Psychoanalyse zu gründen. Thematisch beschäftigte er sich in den 1960er-Jahren vor allem mit den Lebensstadien des erwachsenen Menschen, der Problematik des Alterns und des Lebenssinns: so flossen zunehmend ethisch-religiöse und politische Themen in seine Schriften mit ein. Engagiert wandte sich Erikson gegen den Rassismus in den Südstaaten, stellte sich auf die Seite der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung um Martin Luther King und unterstützte die südafrikanischen Studenten in ihrem Kampf gegen die Apartheidpolitik. Entschieden sprach er sich gegen die schrankenlose atomare Aufrüstung aus, bezeichnete die Eskalation des Vietnam-Krieges als einen Rückfall in den Kolonialismus und trat für einen Dialog zwischen reichen und »unterentwickelten« Ländern ein. Auch die Psychoanalyse müsse ihre politische Kritikfunktion ernst nehmen. Angesichts der mörderischen Konsequenzen moderner Wissenschaft und Technik bedürfe es einer ständigen ethischen Rückbesinnung auf das eigene Tun. Ansonsten laufe auch jede Psychologie Gefahr, sich in den Dienst des Machtstrebens und der politischen Unterdrückung zu stellen. Weit über sein Fachgebiet hinaus wurde Erikson zum Mahner für Ausgleich und Versöhnung und zu einer Symbolfigur für Teile der Studentenbewegung, wenngleich er stets vor Einseitigkeiten und ideologischen Rigorismen warnte. Bei alldem war der Gedanke immer zwingender geworden, eine Biographie über das Leben des Mannes zu schreiben, der im katastrophalsten Jahrhundert der Menschheitsgeschichte einen überragenden ethischen Impuls gesetzt hatte. 1969, nach jahrelanger Vorbereitung, erschien »Gandhis Wahrheit«, das Alterswerk Eriksons, die Verbindung seiner persönlichen und wissenschaftlichen Erkenntnisse mit seiner humanistischen Ethik, ein brillant geschriebenes Buch, für das er im folgenden Jahr mit dem Pulitzer-Preis und dem National Award ausgezeichnet wurde.
Seit seiner Emeritierung im Jahre 1970 blieb Erikson bis in die 1980er-Jahre als Vortragsreisender und wissenschaftlicher Autor tätig. Aus der Vielfalt seiner Erfahrungen, aus unterschiedlichsten geistigen Strömungen, nicht zuletzt aus der fruchtbaren Widersprüchlichkeit seiner Person war ein eindrucksvolles Lebenswerk entstanden. Gerade von den akademischen Institutionen, die er anfangs so sehr gemieden hatte, war ihm Anerkennung im Übermaß zuteil geworden. Ob es eine schleichende Depression war, wie seine Tochter vermutet, oder die Folgen der Alzheimer-Erkrankung – Eriksons Geist verabschiedete sich in seinen letzten Jahren langsam aus dieser Welt. Eine Abhandlung über seinen großen dänischen Landsmann Kierkegaard zu schreiben, blieb ihm nicht mehr vergönnt. Als Erikson am 12. Mai 1994 hochbetagt in einem Seniorenheim in Harwich starb, würdigte ihn der damalige amerikanische Präsident Bill Clinton als hervorragenden Wissenschaftler und steten Anwalt der Humanität, der mit dazu beigetragen habe, das Bild des Menschen über sich selber, seine unbewussten Abhängigkeiten wie seine schöpferischen Potenzen, entscheidend zu erweitern.

1.3 Eriksons Identität als Psychoanalytiker

Schon aus dieser kurzen biographischen Skizze wird deutlich, wie sehr Eriksons Lebensschicksal mit der Psychoanalyse verschmolzen ist. Entscheidend war, dass die Lehre vom Unbewussten ihn, den Grenzgänger und Nonkonformisten, nicht festlegte, ihm Raum gab für die Entfaltung seiner vielfältigen Interessen und Begabungen – eine Art ideale »soziale Nische«, in der er zu beruflicher Identität finden konnte, ohne unzufrieden und unschöpferisch zu werden. Stets verstand Erikson sich als Schüler Freuds, der sich auf die Schultern des Meisters stellt und dessen geniale Denkanstöße, dessen Lust an Freiheit und Improvisation des Forschens fortführt. Aber ist sein interdisziplinärer Ansatz wirklich eine legitime Weiterentwicklung Freud’scher Ideen? Oder bleibt er ein habitueller Stiefsohn, der sich nie ganz mit der Psychoanalyse identifizieren konnte, ein begabter Künstler und Schriftsteller, der vieles aufgreift, im Grunde aber für kein Fachgebiet die notwendige Disziplin mitbringt? Nicht selten wurde Erikson, der den Begriff »Identität« in die Psychoanalyse eingeführt hat, vorgehalten, er mache seinen eigenen wissenschaftlichen Standpunkt zu wenig deutlich. Sogar die eigene Lehranalytikerin Anna Freud soll ihn als »Renegaten« bezeichnet haben, der das Werk ihres Vaters mit amerikanischen Soziologismen verwässert habe (vgl. Erikson-Boland, 2007, S. 135). Dass Erikson die Grenzen etablierter Fachbereiche stets souverän zu überspringen vermochte und sich wenig um theoretische Auseinandersetzung mit anderen psychoanalytischen Autoren kümmerte, ist sicher unbestritten. Andererseits hat er an seiner Loyalität zur Person Freuds und zur Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung nie einen Zweifel gelassen. Freuds Werk ist für ihn »der Felsen«, auf dem er aufbaut (1975a, S. 8), die »ursprüngliche ideologische Kraft und Quelle der Inspiration« (1981a, S. 237). Theoretisch liegen viele von Eriksons Beiträgen zwischen der klassischen Ich-Psychologie Anna Freuds und Heinz Hartmanns und den Autoren der späteren Ich-, Selbst- und Objektbezie-hungspsychologie wie Spitz, Mahler, Klein, Jacobson, Winnicott, Kernberg oder Kohut, deren Auffassungen er sich bisweilen annähert bzw. in manchen Grundzügen auch vorwegnimmt. Aber die Breite und Vielschichtigkeit von Eriksons Denken lässt sich nicht auf eine dieser Strömungen reduzieren. In manchem nähert er sich Gedanken Adlers, der Neofreudianer oder A...

Inhaltsverzeichnis

  1. Deckblatt
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Vorwort zur zweiten Auflage
  6. Einleitung
  7. 1 Leben und Werk Erik H. Eriksons
  8. 2 Eriksons Identitätspsychologie
  9. 3 Eriksons sozialpsychologische Beiträge
  10. 4 Die acht Stufen des menschlichen Lebenszyklus
  11. 5 Die Neuformulierung der Triebtheorie
  12. 6 Erikson und die Lehre vom Unbewussten
  13. 7 Die ethischen und religiösen Beiträge Eriksons
  14. 8 Erikson als Kliniker
  15. 9 Der junge Mann Luther
  16. 10 Gandhis Wahrheit
  17. Nachwort
  18. Literatur
  19. Personen- und Sachregister