III.
»Nicht meine Stimme singt allein: es klingt«
(Rainer Maria Rilke)
ödöns stör
för wörnör
ödöns stör röhrt
ödön: hör stör hör
ödöns stör grölt bös
ödön: höhö
ödön föhnt göd
ödön blökt blöd
ödön hört
ödön: stör stör
ödön frönt
ödöns stör stört
ödön: lös stör lös
ödöns stör nölt
ödöns stör ölt
ödön: nö gö gö nö
örtör r. böldörl
(nöch örnst jöndl)
Sabine Fuchs
Poesie in Bildern
Interpretation mit Farbe. Ernst-Jandl-Bilder
Heidi Rösch
Poetik der Verschiedenheit oder doch Poetik der Vielfalt?
Werner Wintersteiners Standardwerk aus (literatur-)didaktischer Perspektive
Sehr oft habe ich vor allem das literaturwissenschaftliche Standardwerk zitiert und bin dabei immer wieder über den Titel gestolpert, weil mir meist ›Poetik der Vielfalt‹ aus der Tastatur floss und ich darüber irritiert den Band aus dem Regal nehmen musste, um mich des korrekten Titels Poetik der Verschiedenheit (Wintersteiner 2006a) zu vergewissern. Diesem kleinen Unterschied möchte ich nachgehen und zwar aus (literatur-)didaktischer Perspektive. Selbstredend werden dabei auch Werner Wintersteiners Band Transkulturelle literarische Bildung (Wintersteiner 2006b) und seine spätere Annäherung an das Konzept der »Global Citizenship Education« einbezogen. Doch ich werde die Auseinandersetzung nicht auf Literaturdidaktik reduzieren, sondern sie im Kontext von Annedore Prengels Pädagogik der Vielfalt, der migrationspädagogischen Auseinandersetzung um Differenzlinen im Rahmen einer (reflexiven) Diversität unter Berücksichtigung von Homi Bhabhas Differenz- und Hybriditätsbegriff sowie Jacques Derridas Konzept der »différance« (statt différence) führen.
1. Divers, verschieden, vielfältig
Poetik setzt sich theoretisch mit der Poetizität von Literatur, ihren Formen, Funktionen, Ausdrucksmitteln, Aufgaben und Wirkungen auseinander. Werner Wintersteiner tut das im Kontext des Diversen und bezieht sich dabei auf Victor Segalens Ästhetik des Diversen (1994), wobei Wintersteiner betont, dass Poetik, wenn Ästhetik als Wahrnehmung und Gestaltung des Schönen gilt, zur Lehre davon wird. Doch wichtiger ist Segalens Verständnis des Diversen: Er will das Andere nicht vereinnahmen oder nivellieren, sondern »als Quelle der Energie« (Segalen 1994, S. 107) und aus Freude an der Verschiedenheit erhalten – zumal er die Vielfalt an Kulturen aufgrund der Hegemonisierung der Welt als äußerst bedroht betrachtet. Daraus folgt das Prinzip, sogenannte kleine, minorisierte Kulturen zu erhalten und wertzuschätzen, statt sie dominanz- oder transkulturell zu nivellieren. Dies gilt auch für sogenannte kleine, minorisierte Literaturen.
In Anlehnung an Édouard Glissant verwendet Wintersteiner den Begriff »Poetik der Verschiedenheit« und meint damit »zunächst eine Schule oder Lehre der Wahrnehmung und Wertschätzung des Diversen in seiner ästhetischen Gestalt« und gleichzeitig »ein gesellschaftliches, ein politisch-kulturelles und letztlich auch ein pädagogisch-aufklärerisches Anliegen« (Wintersteiner 2006a, S. 19) poetischer Werke. Es geht also nicht nur um die ästhetische Gestaltetheit, sondern auch um das Anliegen von Literatur im Kontext von gesellschaftlicher und globaler – so möchte ich es formulieren – Diversität.
Glissant selbst nennt seinen Ansatz 1990 »Poétique de la Relation« und stellt damit die (Wechsel-)Beziehung, das Verhältnis, die Verbindung bzw. Verknüpfung in Form von Kreolisierung, Globalität sowie »zersplitterten Welten« als Ästhetik der Kulturenvielfalt für eine menschliche Identität, die sich über die Vielfalt der Beziehungen und nicht über die ethnische Abstammung definiert, ins Zentrum. 1996 spricht Glissant von einer »poétique du divers«, die Wintersteiner in »Poetik der Verschiedenheit« überträgt, während Beate Thill (1991) Glissants Konzept als »Poetik der Vielheit« (Glissant/Thill 2005) bezeichnet. Das französische »divers« meint wie das deutsche Pendant »divers« verschieden, vielfältig, vermischt, unterschiedlich etc. und lässt damit beide Auslegungen zu. Ich denke, dass auch »Poetik der Vielfalt« eine mögliche Übertragungsvariante gewesen wäre, die näher bei Thill als bei Wintersteiner liegt, denn Verschiedenheit verweist auf Differenzen, Vielheit bzw. Vielfalt dagegen auf Diversität, wobei auch dieser Begriff mehrere Konnotationen zulässt. Auch Wintersteiner stellt sein Konzept in den »Diskurs der Diversität« (Wintersteiner 2006a, S. 33–112) und untersucht Kultur bzw. Literatur und Bildung und damit auch kulturelle und literarische Bildung unter den Bedingungen von Globalisierung. Er orientiert sich dabei u. a. an Homi Bhabhas Hybriditätskonzept, womit das Oszillieren zwischen der Beibehaltung von Unterschieden und ihrer Auflösung gemeint ist. Hybridität bezieht sich nicht auf homogene Kulturen, die sich mischen, und nicht auf ein Problem der Identität zwischen zwei differenten Kulturen, das sich im Kulturrelativismus auflösen ließe, sondern es geht darum, dass einzelne Kulturen und ihre Vertreter*innen unterschiedlichen, hegemonialen Einflüssen ausgesetzt sind.
Auch wenn Wintersteiner Jacques Derrida nicht zitiert, scheint mir ein Bezug zu seinem Verständnis von Différance implizit enthalten. Denn seine Strategie der Dekonstruktion will »die Verwerfungen, das Verdrängte und Unterdrückte freilegen, das in der Tradition abendländischer Philosophie und in den Praktiken der hegemonialen westlichen Gesellschaftsverhältnisse als das Andere ausgeschlossen und negiert wird« (Wartenpfuhl 1996, S. 193). Im Zentrum der Dekonstruktion steht nicht die Annäherung an dieses Andere, sondern der Abstand, das Unentscheidbare zwischen dem Verdrängten und Nicht-Verdrängtem, dem Unterdrückten und dem Dominanten, kurz zwischen dem Einen und dem Anderen. Dieses Unentscheidbare wird nicht binär, als Gegensatzpaar aufgefasst, sondern von Jacques Derrida in den Begriff der »différance« überführt. Dieser meint im Unterschied zu Differenz (französisch: différence) nicht nur einfach Unterschied, Verschiedenheit. An Stelle einer Fixierung und Hierarchisierung von Gegensätzen tritt ihr Werden und ihre Ambiguität. »Die Gegensätze werden durch das Konstrukt der ›différance‹ als ein Verhältnis bestimmt, in dem das Eine immer auch das Andere ist« (Wartenpfuhl 1996, S. 203), was nicht nur im Kontext einer auf die Kategorie Geschlecht bezogenen, sondern auch für jede inter- oder auch transkulturelle Didaktik von großer Bedeutung ist.
2. Diversität – Superdiversität
Diversität orientiert sich an den seit den späten 1990ern etablierten Diversity-Konzepten, die sich von gruppenbasierten Konzepten des Multikulturalismus abwenden und das Individuum mit seinem Potential und damit seinem Nutzen für die Institution in den Mittelpunkt stellen. Die damit verbundenen Veränderungen müssen nicht Gruppen oder Personen leisten, sondern sie sind die Aufgabe von Institutionen, die sich dieses Label anheften.
Das Konzept Superdiversität wurde 2007 von Steven Vertovec am Beispiel von London als »world in one city« (Vertovec 2007, S. 1024) eingeführt. Im Zentrum steht die urbane (Super-)Diversität zum einen jenseits der Vorstellung von Multikulturalismus, wonach sich die Gesellschaft aus verschiedenen ethnischen Gruppen zusammensetzt, die nebeneinander leben und sich gemäß ihren eigenen Prinzipien entwickeln, und zum anderen jenseits der Vorstellung von interethnischen oder interkulturellen Beziehungen auf der Basis der binären Konstruktion zwischen Minderheit und Mehrheit. Es geht um »die zunehmende Größe und vor allem die interne Komplexität der Einwanderbevölkerung« aufgrund vielfältiger Herkunftsländer, Sprachen, Religionen, Migrationswege und Einwanderungsstatus sowie aufgrund von Geschlecht und Alter (Vertovec 2012, o. S.). Das Konzept der Superdiversität vermeidet eine ethno-nationale Kulturalisierung und Lingualisierung von Migrant*innen(gruppen) und verleiht migrationsbedingten Lebenslagen und Statusfragen eine angemessene Bedeutung. Dabei sollte der Fokus auf die Superdiversität der migrantischen Bevölkerung meines Erachtens den Blick auf die Gesamtbevölkerung der Migrationsgesellschaft, zu der auch die Autochthonen gehören, nicht verschließen. Auch ist sie nicht auf urbane Zentren zu reduzieren und wird etwa in dem Projekt »Sprachliche Superdiversität gestalten: Erstellung von Schulsprachprofilen« an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd1 im ländlichen Raum verortet. Es bleibt die Frage, was daraus resultiert – eine Vielfalts-Idylle auf individueller Ebene, die dominanzkulturell leichter zu integrieren ist als die Anerkennung einer migrationsgesellschaftlichen Vielfalt, die die Ungleichstellung verschiedener Gruppen und Individuen aufbricht.
Nach meinem Verständnis zielen (Super-)Diversitätsansätze darauf, ethnische, sprachliche, religiöse und andere ›Verschiedenheiten‹, die als Differenzmerkmale Diskriminierung bzw. Privilegierung unterstützen, zu überwinden und stattdessen Pluralität und damit Vielfalt (aufgrund dieser Verschiedenheiten) zu etablieren. Auf die dabei entstehenden Lücken verweist der Begriff Diversity-Gap, der die weit verbreitete Ignoranz gegenüber Diskriminierung und mangelnder Gleichstellung aufgrund der genannten Differenzmerkmale bzw. ihrer Intersektionalität kritisiert. Sichtbar werden dabei u. a. »koloniale Wunden«, die sich als Erlebnis und Folgen von Kolonialismus, Rassismus und Othering in Generationen von Menschen als Narben und Verletzungen eingeschrieben haben und »nach Gerechtigkeit schreien« (Jarosch 2015, S. 46). Die Perspektive auf die Lücken fragt danach, wer oder was in Diversity-Konzepten nicht repräsentiert ist und welches Repräsentationsgefälle erkennbar ist. Dabei spielen Fragen eine Rolle wie: Wird zwischen Frauen, Männern und einem sogenannten ›Dritten Geschlecht‹ bzw. ›divers‹ unterschieden oder wird der Prozess der Frauisierung bzw. der genderspezifischen Vergesellschaftung thematisiert? Geht es um Schwarze, People of Colour und Weiße oder werden rassistische Markierungspraktiken bzw. die Konstruktion von majoritären Wir- und minoritären Nicht-Wir-Gruppen reflektiert? Der Hinweis auf die Lücken der Diversität meint konstruktiv gewendet, Prozesse, Strategien und die Wirkung der Ex- und Inklusion sowie der Zuschreibungs-, Kulturalisierungs- und Lingualisierungspraxen zu dekonstruieren, um sie zu überwinden und Vielfalt jenseits identitärer Konstruktionen von Gruppen oder Menschen zu gestalten. Damit rückt aber nicht, wie eingangs erwähnt, einfach das Individuum ins Zentrum, sondern es geht um das Aufdecken und Überwinden der genannten Gleichstellung verhindernden Praxen.
Dieses Konzept zeigt Bezüge zu Werner Wintersteiners Verständnis und Umgang mit dem »Diskurs der Diversität«2, wobei er eine ideologiekritische Haltung einnimmt, indem er Eurozentrismus, Deterritorialisierung und Globalisierung aufeinander bezieht, Homi Bhabhas »Diskurs der Hybridität« aufgreift, »Identitätsdiskurse zwischen Tribalismus und Neoliberalismus« beleuchtet und die »Möglichkeiten des Individuums, Autonomie gegenüber sozialen Zwängen zu bewahren«, auslotet. Er skizziert »Globale Bildung für eine plurale Welt«, die er später in das Konzept der »Global Citizenship Education« (Wintersteiner u. a. 2014) überführt. Bei einem Vortrag an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe 2015 hat er anhand des Gedichts Speak White von Michèle Lalonde3 und dessen gesellschaftlicher Resonanz »Literarische Bildung als Global Citizenship Education« vorgestellt, die Lyrik (bzw. Literatur allgemein) als sprachlichen Widerstand und Mehrsprachigkeit als Instrument von Sprachkritik versteht. Der Titel des 1968 verfassten Gedichts, das 1980 die Grundlage eines 6-minütigen Films von Pierre Falardeau und Julien Poulin4 bildete, greift die im Kanada dieser Zeit verbreitete rassistische Redensart ›Speak White‹ gegenüber Menschen auf, die in der Öffentlichkeit eine andere Sprache als Englisch benutzten, und zeigt die Diskriminierung gegenüber französischsprechenden Kanadier*innen. Es ist in Französisch mit englischen Anteilen verfasst. Der Italo-Québecer Marco Micone schrieb 1989 das Gedicht Speak What?, worin er auf andere Sprachgruppen aufmerksam macht und mehr sprachliche Inklusion fordert. Im Elsass entstand ein Gedicht gegen die französische Sprachdominanz: »redd wiss / nêger / wiss ésch scheen / wiss ésch nôwel / wiss ésch gschît / wiss ésch fránzeesch / fránzeesch ésch wiss«. Wintersteiner beurteilt Speak White im globalen, post-kolonialen Kontext als lyrische Antwort auf regionale Repression in der Spra...