Liturgik
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Über dieses Buch

Über Liturgie - als rituelles Handeln des Glaubens - wurde zu allen Zeiten des Christentums aus theologischen oder kulturellen Gründen diskutiert. Und das ist auch heute so: Veränderte Perspektiven auf die lange Geschichte der christlichen Liturgie fördern neue Erkenntnisse zutage; besondere Gottesdienstformen werden aus biographischen oder gesellschaftlichen Anlässen heraus entwickelt; themen- oder zielgruppenorientierte Formate gewinnen an Popularität.Das Kompendium zeichnet die historische Entwicklung der Liturgie nach und erörtert, welche Bedeutung die empirischen Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte für die Liturgieforschung haben. Gegenwärtige liturgische Entwicklungen und Fragestellungen werden aufgezeigt. Das Selbstverständnis der Liturgik und Liturgiewissenschaft wird entfaltet im Blick auf ihre Beziehung zur Praktischen und zur Systematischen Theologie sowie zu den kultur- und gesellschaftswissenschaftlichen Bezugswissenschaften wie Kommunikationswissenschaft, Semiotik, Rezeptions- und Ritualwissenschaft.

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Information

1.  Einleitung

1.1  Was ist Liturgie?

Die Feier der Liturgie bzw. die Gottesdienstfeier ist für die Feiernden eine Handlung des Glaubens. Die Glaubenden feiern mittels der gottesdienstlichen Elemente (z. B. Gebete und Lieder, Schriftlesungen und Predigt, Glaubensbekenntnis und Sakramente). Gott und Mensch begegnen sich, was unterschiedlich beschrieben werden kann: als Kommunikation (des Evangeliums), als Verkündigung des Wortes Gottes oder mit Luther: durch Wort und Gebet. Friedrich D. E. Schleiermacher hat den Gottesdienst als die »darstellende Mittheilung und mittheilende Darstellung des gemeinsamen christlichen Sinnes« definiert (Schleiermacher 1850, 145). Diese Definition aufnehmend beschreibt Peter Cornehl die Liturgie als sinnstiftende Orientierung, sinngestaltende Expression und sinnvergewissernde wie sinnerneuernde Affirmation (Cornehl 1979). Karl-Heinrich Bieritz hält fest, dass das gesamte kirchliche Handeln mit Zeugnis (μαρτυρία), Dienst (διακονία), Feier (λειτουργία) und Gemeinschaft (κοινωνία) beschrieben wird, so dass mit der Feier eine gottesdienstliche Kultur in den Blick kommt, die »Ausdruck der darstellend-symbolischen Dimension kirchlich-religiösen Handelns« ist (Bieritz 2004, 7f). Rainer Volp hat seiner Liturgik gleich den Titel gegeben, der zugleich die Liturgie als Handlung in den Blick nimmt: Liturgie ist die Kunst, Gott zu feiern (Volp 1992/1994). Michael Meyer-Blanck berücksichtigt ausdrücklich die Öffentlichkeit des Gottesdienstes, so dass Liturgie »öffentlicher Gebetsdienst der Kirche« ist (Meyer-Blanck 2011, 7). Unter dem Gesichtspunkt, dass Liturgie mit dem Anspruch von Wahrheit gefeiert wird, habe ich formuliert: »Anhand der Feier des Glaubens, die Liturgie genannt wird, kann gezeigt werden, wie die Glaubenden an Gott glauben, sein Wirken erwarten, was sie glauben und wie sie sich als Kirche verstehen.« (Neijenhuis 2017, 25).
Für die römisch-katholische Kirche hielt Romano Guardini 1921 fest, dass Liturgie eine Kultausübung der »lebendige[n], opfernde[n], betende[n], die Gnadengeheimnisse vollziehende[n] Kirche« ist (Guardini 1921, 104). Das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965) hat von diesem statischen Modell – die Kirche im Gegenüber zu Gott – Abstand genommen und die Liturgie in ihrer Geschichtlichkeit in den Vordergrund gerückt, weil die Kirche niemals aufgehört hat, das »Pascha-Mysterium« seit Christi Tod und Auferstehung zu feiern. Sie versteht die Liturgiefeier als Fortführung des Heilswerkes Christi (SC 6f).
Der Gottesdienst bzw. die gefeierte Liturgie wird in beiden Kirchentraditionen als Mitte der Gemeinde bzw. als Mitte der Kirche gedeutet, weil sich hier die zentrale Begegnung von Gott und Mensch ereignet und Menschen, so vom Wort Gottes gestärkt, in den Alltag gehen, um nun ihr Christsein zu leben und sich im Gottesdienst des Alltags zu bewähren, z. B. durch die tätige Nächstenliebe (Mt 25). Insofern ist der Begriff Gottesdienst der umfassendere Begriff, der fast synonym mit Christsein verwendet wird: Der ritualisierte Gottesdienst am Sonntag oder andere Gottesdienste wie eine Trauung oder eine Bestattung finden ausdrücklich in der Kommunikation mit Gott statt, während der Gottesdienst des Alltags dem Nächsten dient. So wird Gott in jedem Menschen erkannt, der Hilfe bedarf und dem man begegnet. Darum könnte man mit gewissem Recht, wenn auch ungebräuchlich, für die rituelle Feier am Sonntag oder die Feier der Kasualien, Andachten etc. besser den Begriff »Liturgie« verwenden. Das findet allerdings schon deshalb wenig Anklang, weil die Predigt in der Regel nicht als zur Liturgie gehörig betrachtet wird: Die Struktur der Liturgie als Feier ist rituell, die Predigt dagegen ist rhetorisch zu verstehen. Darum bleibt der weite Begriff des Gottesdienstes für die rituelle Feier ebenso bestehen wie für das Christsein im Alltag.
Die Liturgie kann wie jedes Fest den Alltag unterbrechen. Ist der Alltag vorrangig dem nützlichen Tun gewidmet, wird dieser Alltag durch die Feier der Liturgie unterbrochen, weil nun eine Sinnvergewisserung vorgenommen wird (Neijenhuis 2012b, 135–137 mit Bezug auf Schleiermacher). Die Sinnvergewisserung bzw. die Stärkung des Glaubens geht weit über ein nützliches Tun hinaus und zeigt eine weitere, eigenständige Dimension des Lebens an. So wird das Leben mit Hilfe des Glaubens gedeutet durch die beiden Dimensionen Alltag und Fest/Feier. Hierbei erfolgt die Sinnvergewisserung vermittels des Festes/der Feier, und der Alltag ist dem nützlichen Tun gewidmet, das auf seine Weise einen eigenen Sinn hat.
»Das kommt bei der Feier in der Weise zum Zuge, dass mit der Feier die Existenz des Lebens an sich in den Vordergrund gerückt wird. Die Feier deutet die Existenz des Lebens als sinnstiftend, sinnvergegenwärtigend und sinnvergewissernd. Bipolar dazu wird das Leben im Alltag, also die Nicht-Feier, in seinem nützlichen, zweckhaften und funktionalem Handeln gedeutet und gewürdigt. Denn auch diese alltägliche Seite ist ein selbstverständlicher Teil des Lebens, der auf seine funktionale Weise sinnvoll ist. Auch diese Seite des Lebens wird durch die Feier als sinnvoll qualifiziert.« (Neijenhuis 2020, 200). Entsprechend aufwendig werden Feste und Feiern gestaltet, und das kann sich auch bei der Liturgiefeier zeigen. Hier werden heilige Texte verlesen, die – vor dem Hintergrund eines theologischen Studiums historisch und kontextuell verstanden – gepredigt werden; situativ formulierte Gebete oder geprägte Gebetsformeln wie das Vaterunser reden Gott ausdrücklich an. Dasselbe gilt auch für Lieder, die teilweise Gebete sind und nun mit dem Zeichencode Musik eine besondere Bedeutung erhalten. Während der Liturgie können auch musikalische Kunstwerke zu Gehör kommen, wenn z. B. ein Orgelpräludium zu Beginn des Gottesdienstes gespielt oder eine Kantate im Zusammenhang eines Gottesdienstes aufgeführt wird. Ein durch Kunstwerke aufgewerteter Kirchenraum hebt den Wert der Gottesdienstfeier hervor, was sich an der besonderen Gestaltung von Altar und Kanzel, Kirchenfenstern und Orgel zeigt. Auch die liturgische Kleidung und die Paramente unterstreichen diese Wertschätzung und Bedeutung von Fest und Feier für die Liturgie. Insofern kann man sagen, dass alle »Sprachen« des Menschen für die Feier der Liturgie zum Einsatz kommen können: verbale und nonverbale Sprache, Musik, Bilder, Textilien, Gerüche, Speisen, Bewegungen etc. Alle menschlichen Ausdrucksweisen werden eingesetzt, um der Kommunikation mit Gott und auch der Kommunikation untereinander Gestalt zu geben – durch die Feier der Liturgie.
Dabei ist das Muster der Kommunikation des Evangeliums, die Verkündigung des Wortes Gottes, nicht der einzige, wohl aber der vorrangige evangelische Zugang zum Verständnis des Gottesdienstes. Die Elemente von Gottesdienst sind zwar in den meisten christlichen Kirchen dieselben: Es wird aus der Heiligen Schrift vorgelesen, gepredigt, gebetet und gesungen, Taufe und Abendmahl/Eucharistie werden gefeiert. Doch untergründig wirken noch andere Verständnisse von Gottesdienst, von Kirche und Christsein, was sich wiederum auf die Gestaltung der Liturgie auswirkt. Solche untergründigen Verständnisse sind am deutlichsten festzustellen, wenn kirchliche (Reformation), gesellschaftliche (Aufklärung), politische Umbrüche (Kommunismus oder Faschismus) deutliche Wirkungen zeigen, die selbstverständlich oder auch überraschend den Gottesdienst betreffen. So hat z. B. die Aufklärungsliturgik dem Gottesdienst eine wesentlich belehrende Funktion gegeben und damit der Predigt eine dominante Rolle zugewiesen ( 2.8, S. 65). Der Gottesdienst kann von gesellschaftlichen Veränderungen ja nicht unberührt bleiben, sei es, dass sie zu einer Weiterentwicklung und Reform, sei es, dass sie zu einer Abwehr nichtchristlicher gesellschaftlicher Einflüsse führen. Gesellschaftstheoretiker wie Hartmut Rosa (Rosa 2005), der von einer sozialen Beschleunigung durch Technik und Produktion spricht, die sich auch in der Kommunikation und im zwischenmenschlichen Verhalten zeigt als Beschleunigung des Lebenstempos, oder Andreas Reckwitz (Reckwitz 2017), der eine Gesellschaft der Singularitäten beschreibt, in der das Allgemeine wenig zählt, wohl aber das Besondere, machen Gesellschaftsveränderungen deutlich, die man als Spätmoderne oder Postmoderne bezeichnet. So nehmen die sich wandelnde Gesellschaft und das sich wandelnde Selbstverständnis von Menschen Einfluss auf die Weiterentwicklung von Gottesdienst und Liturgie. Denn Christen können Gottesdienst und Liturgie nur in der Weise und mit der Gestalt feiern, wie sie sich selbst als Menschen und Christen verstehen und deuten. Und das ist wiederum davon abhängig, in welcher Kultur sie aufgewachsen und von welcher Kultur und Sprache sie geprägt worden sind.

1.2  Fragestellungen an die Liturgie und gegenwärtige Herausforderungen

Darum befassen wir uns mit Fragestellungen, die sich durch die Gegenwart, den kirchlichen Kontext, das gesellschaftliche Umfeld und die Zeitläufte ergeben. Alle Christen leben in Zeitgenossenschaft mit ihrer Kultur, und je nachdem, wie stark die Prägung durch die Kultur ist, kann die Feier der Liturgie befördert werden (wenn die Kultur ausgesprochen christlich geprägt ist) oder auch erschwert werden (wenn die Kultur vorrangig säkular oder durch eine andere Religion geprägt ist). Auf den europäischen Kontext bzw. auf Deutschland bezogen bestehen die Herausforderungen – nicht nur für die Feier der Liturgie, sondern für die Kirche als Ganze – darin, dass die Selbstverständlichkeit der christlichen Tradition abnimmt. Auch die Individualisierung und die damit verbundene Vielfalt, die sich in unterschiedlichen Milieus und Stilen ausbildet, wirken sich liturgisch aus. Christliche Bildung und Glaubensprägung nehmen ab. Gehörten Anfang der 1950er Jahre noch 90 % der Bevölkerung in West- und Ostdeutschland einer christlichen Kirche an, so waren es 2016 noch etwa 60 % (www.ekd.de; Zahlen und Fakten des kirchlichen Lebens).
Die EKD hat diese Entwicklungen selbst durch Befragungen erforscht und dokumentiert sie in ihren Untersuchungen. Die dritte Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung, die 1992 vorgenommen wurde, bekam bezeichnenderweise den Titel Fremde Heimat Kirche, und in der letzten Untersuchung, die im Herbst 2012 durchgeführt wurde, zeigte sich die Unsicherheit vieler Kirchenmitglieder, über den eigenen Glauben bzw. über die eigene Kirche zu sprechen, bei der Frage: »Welche der folgenden Aussagen kommt Ihren Überzeugungen am nächsten?« 61,1 % der befragten evangelischen Kirchenmitglieder glauben, »dass es einen Gott gibt, der sich in Jesus Christus zu erkennen gegeben hat.« 23,3 % glauben, »dass es irgendein höheres Wesen oder eine geistige Macht gibt.« 10,2 % teilen mit: »Ich weiß nicht genau, was ich glauben soll.« Und 5,4 % sagen: »Ich glaube nicht, dass es einen Gott, irgendein höheres Wesen oder eine geistige Macht gibt.« (Bedford-Strohm/Jung 2015, 500).
Die Religionsvielfalt in Deutschland, Europa und weltweit (vermittelt auch durch moderne Medien) sorgt für eine Konkurrenz von Sinnanbietern. Nicht mehr nur die eigene Kirche, sondern viele Kirchen, Religionen und säkulare Einrichtungen bieten Sinn und Orientierung für die Lebensführung an. Hinzu kommt noch die Vielfalt der Konfessionen, die den meisten Christen mehr oder weniger dem Namen nach bekannt sind, in der Sache herrscht Unkenntnis und kaum Erfahrung vor (evangelisch: lutherisch, reformiert, uniert; anglikanisch, römisch-katholisch, verschiedene orthodoxe Kirchen, dann die Freikirchen, neben den traditionellen Freikirchen der Baptisten oder Methodisten die neueren der evangelikalen oder charismatischen Prägung etc.). Eine Reaktion auf diese Vielfalt ist der Ruf nach Konzentration auf die Ökumene, nach interreligiösem Dialog und nach inter- oder multireligiösen Gottesdiensten.
War die evangelische Kirche über Jahrhunderte hinweg eine Bildungskirche (festzumachen an der Predigt als Auslegung von Bibeltexten oder am Konfirmandenunterricht), so scheint sie sich in Deutschland immer mehr dem Unterhaltungsmilieu anzupassen, das von der modernen Medienwelt als Kultur nahelegt wird (Schulze 1992/2005). Der Glaubende erfährt sich immer weniger als Gemeindemitglied oder gar als Glied am Leibe Christi, sondern als Konsument – auch von Gottesdiensten und Liturgien. Eine gewisse Eventerwartung wird somit durch die Feiernden selbst auch in die Feier der Liturgie eingebracht.
Zu bedenken ist, dass für die Pfarrperson die Vorbereitung und Feier von Gottesdiensten eine Hauptaufgabe darstellt. Vorbereitung, Durchführung und ggf. Nachbereitung von Gottesdiensten nehmen wohl den größten Anteil an wöchentlicher Arbeitszeit in Anspruch, der sich nochmals erheblich erhöht, wenn die hohen christlichen Feiertage wie Weihnachten und Ostern anstehen. Zu beachten ist auch, dass der Sonntagsgottesdienst nicht der einzige Gottesdienst innerhalb einer Woche ist, sondern dass auch Kasualien, Andachten, Schulgottesdienste, Gottesdienste aus gesellschaftlichem oder staatlichem Anlass, Gottesdienste in Heimen oder in Privathäusern etc. dazukommen.
Zudem erfahren Pfarrpersonen und Gemeinden, dass ihr christliches Leben im Gottesdienst in eine Krise geraten kann oder schon geraten ist. Denn so mancher Gottesdienst mit seiner klassischen Wort-Gottes-Theologie und mit seiner traditionellen liturgischen Gestaltung wirkt nicht mehr recht verständlich und wird folglich als lebens- oder weltfremd erfahren. Solche Krisenerfahrungen gab es immer wieder: So wurde die Taufe im Neuen Testament und in den ersten Jahrhunderten der Kirche als ein Herrschaftswechsel von der bisherigen Gesellschaft (Götterverehrung, Dämonenglaube etc.) in die neue Gesellschaft der Kirche gedeutet. Die Taufe war nicht allein ein Glaubenswechsel, sondern teilweise auch ein Kulturwechsel. Dieses Konzept des Herrschaftswechsels geriet in eine Krise, als die christliche Religion im römischen Reich zu einer anerkannten Religion wurde, und erst recht, als im Mittelalter und zur Reformationszeit die Gesellschaft und die Kirche nahezu deckungsgleich waren. Eine Reaktion auf die Krise war, dass die Taufe verstanden wurde als eine Eingliederung in die Gesellschaft, die Kirche bzw. in die eigene Familie. Die Tauffeier als Initiation zum christlichen Glauben war dagegen eher unbekannt.
Wie werden sich die Tauffeier und das Taufverständnis einer Kirche weiterentwickeln, deren gesellschaftliches Umfeld bestenfalls multireligiös ist, aber in seiner Kultur zunehmend säkular wirkt? Solche Krisenmomente lassen sich auch bei anderen Kasualien beobachten. Sie betreffen alle Handlungen, da die Religion in der Moderne bzw. Spätmoderne in eine Krisensituation geraten ist. Diese äußert sich primär als ein Vertrauensverlust. Dieses Krisenmoment zeigt sich übrigens auch bei anderen staatlichen oder gesellschaftlichen Institutionen. Denn die Moderne selbst ist in eine Krise geraten. Hatte die Aufklärung nach Immanuel Kant die Befreiung des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit im Blick, so ist schier das Gegenteil für das 20. und 21. Jahrhundert festzustellen. Die instrumentelle Vernunft, die vorrangig technisch und zweckrational orientiert ist, ist derart wirkmächtig (und selbstverständlich) geworden, dass Kriegskatastrophen (Weltkriege) und Zivilisationsbrüche (Holocaust), Umweltgefährdung und Finanzkrise (2008), Big Data und Fake News in der Lage zu sein scheinen, die europäische Kultur zu gefährden oder gar bleibend zu beschädigen. Zugleich ist aber auch zu sehen, dass im selben Zeitraum großartige wissenschaftliche Leistungen erbracht wurden, die das Leben von Menschen z. B. durch Medizin und Technik wesentlich erleichtern und ein längeres Leben ermöglichen (Wolfrum 2017). Trotz der offenen, demokratischen Entwicklung der westlichen Länder haben sich immer wieder geschlossene, diktatorische Systeme (Kommunismus, Faschismus) entwickeln können, die eine Gefahr für eine offene Gesellschaft darstellen. All diese gesellschaftlichen Entwicklungen und Kräfte, ob sie nun schon Jahrhunderte zurückliegen oder die Gegenwart mitbestimmen, gehen weder an den Kirchen noch an den Gottesdienstfeiern spurlos vorüber. Ihre erwünschten oder unerwünschten Einflüsse und manchmal (noch) unverstandenen Wirkungen sind immer mit zu bedenken, wenn über die Entwicklung von Gottesdienst und Liturgie reflektiert werden soll.
Liturgie wird als »Kommunikation des Evangeliums«, als Begegnung mit Gott verstanden. Der Begriff Gottesdienst umfasst das gesamte christliche Leben und bezeichnet sowohl die rituelle liturgische Feier als auch das christliche Leben im Alltag. Die Liturgiefeier vermag den Alltag zu unterbrechen und ermöglicht eine Sinnvergewisserung des Glaubens. Für diese Feier können alle Ausdrucksmöglichkeiten des Menschen eingesetzt werden. Diese »Sprachmöglichkeiten« sind weder kultur- noch zeitunabhängig. Sie tragen auf ihre Weise durch die Feiernden selbst die Erfahrungen geschichtlicher Umbrüche bzw. die Fragen und Krisen wie auch die Fortschritte der Gegenwart in die Feier der Liturgie ein. Am Gebrauch der biblischen Texte, der Gebete, der Lieder etc. für die Liturgiefeier kann abgelesen werden, wie die Glaubenden das Wirken Gottes verstehen.

2. Liturgiegeschichte

2.1 Der Begriff Liturgie im Alten und Neuen Testament

Im Hebräischen ist das Verb עבד (abad) bzw. das Substantiv בוֹה (abodah) ein Hauptbegriff für den Gottesdienst im Alten Testament. Das Verb kann mit arbeiten, dienen ins Deutsche übersetzt werden, das Substantiv darüber hinaus auch mit Gottesdienst. Die Septuaginta übersetzt עבד (abad) mit ἐργάζεσθαι (ergázesthai – arbeiten) und δουλεύειν (duléuein – dienen). Im profanen Bereich kann δουλεύειν das Gott-Dienen etwa durch die Toraobservanz bezeichnen, im Zusammenhang des Kultes bezeichnet δουλεύειν das kultische Dienen Gott gegenüber. Die Übersetzer der Septuaginta haben für den eigentlichen gottesdienstlichen Bereich die Worte λατρεύειν (latréuein) bzw. λατρεία (latréia) gewählt, was mit Gottesdienst feiern, opfern übersetzt werden kann, das Wort λειτουργεῖν (leiturgéin) bzw. λειτουργία (leiturgía) wird mit priesterlich Gottesdienst zelebrieren übersetzt. Das für den Opferdienst wichtige Verb שׁרת (scheret) bzw. das Substantiv ת (scha...

Inhaltsverzeichnis

  1. Deckblatt
  2. Impressum
  3. Vorwort
  4. 1.  Einleitung
  5. 2.  Liturgiegeschichte
  6. 3.  Empirische Erkenntnisse
  7. 4.  Systematische Entfaltungen der Disziplin Liturgik bzw. Liturgiewissenschaft
  8. 5.  Literaturverzeichnis
  9. 6.  Register