Die Eigensprache der Kinder
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Die Eigensprache der Kinder

Idiolektische Gesprächsführung mit Kindern, Jugendlichen und Eltern

  1. 279 Seiten
  2. German
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Die Eigensprache der Kinder

Idiolektische Gesprächsführung mit Kindern, Jugendlichen und Eltern

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Über dieses Buch

Ein Kind, dessen eigene Sprache aufgegriffen wird, spürt, dass man ihm zuhört. Für den Aufbau eines guten Selbstvertrauens und von sicheren Bindungen ist das von enormer Bedeutung.Mit zunehmendem Alter und kognitiven Fähigkeiten kann das Eingehen auf die Eigensprache den Zugang des Kindes zu sich selbst fördern. Über die eigene Sprache kann es sich selbst entdecken und verstehen. Da Kinder gerne in Bildern sprechen, können sie mit einfachen Fragen zu Bildern viel anfangen und in der Regel leicht und spontan antworten. Kinder selbst haben noch die Fähigkeit, einfache und konkrete Fragen zu stellen, Erwachsene müssen das erst wieder neu lernen.Dieses Buch beschreibt erstmals die idiolektische Gesprächsführung für die Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Eltern. Die Fokussierung auf die bildhafte Sprache macht die Idiolektik zu einem sehr effektiven Werkzeug in den unterscheidlichsten Situationen, Settings und Kontexten. Wer mit Kindern, Jugendlichen und deren Eltern arbeitet, findet hier Grundlagen und Handwerkszeug, um Kinder besser zu verstehen und auf sie einzugehen.Mit Beiträgen von Daniel Bindernagel • Hans Hermann Ehrat • Marianne Kleiner • Ivonne Krüger • Franz-Jochen Pelzer • Horst Poimann • Tilman Rentel • Angela Schiemer • Andreas Speth.

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Information

Jahr
2016
ISBN
9783849780364
1 Wie entwickelt sich Eigensprache?
Daniel Bindernagel
Theoretische Einführung
In den 1970er-Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelte der Psychiater David Jonas die Methode der Idiolektik, die Lehre von der Eigensprache des Individuums. Er bezog sich bei dieser Wortschöpfung auf den Begriff des Idiolektes aus der Linguistik, der das individuelle Sprachmuster eines Sprechenden mit all seinen phonetischen, grammatischen und die Wortwahl betreffenden Vorlieben beschreibt (siehe Einleitung). Idiolektik ist ein Konzept, das seinen Ursprung aus der sorgfältigen Analyse von sprachlichem Austausch in Arzt-Patient-Kontakten in der klinischen, vor allem psychosomatischen Praxis nahm. Später untersuchte David Jonas sprachbezogene Kommunikation in Alltagssituationen und integrierte Befunde aus der Kommunikation von Primaten. David Jonas, ursprünglich Psychoanalytiker, erkannte, dass es sehr nützlich ist, den therapeutischen Dialog zu vereinfachen und sich als Therapeut aktiv in den Dialog einzubringen. Dazu griff er sogenannte Schlüsselworte und bildhafte Beschreibungen auf und ging konsequent auf sie ein.
In diesem Kapitel möchte ich der Frage nachgehen, wie sich die eigene Sprache ontogenetisch, also im Laufe eines menschlichen Lebens entwickelt. Dabei werde ich das Konzept der Eigensprache verknüpfen mit anderen Entwicklungstheorien, psychoanalytischen Konzepten und mit neuen Befunden aus der Entwicklungspsychologie, der Säuglingsforschung, der Verhaltensforschung und den Neurowissenschaften. Ich werde eine Auswahl von Themen aus dem umfassenden Gebiet der Entwicklungspsychologie treffen, die für das Verständnis des Konzeptes der Eigensprache hilfreich ist. Zielführend bei der Auswahl dieser Anknüpfungspunkte ist für mich die Frage: Wie können wir uns die Entstehung von Eigensprache erklären? Doch zunächst ganz einfach: Der Mensch äußert sich über Sprache. Wir können Sprache also als interaktive Oberfläche des Menschen betrachten, über die er mit seiner Umgebung in Kontakt tritt. Unter dieser Oberfläche liegen viele Schichten, die sich im Laufe seines Lebens bis zu diesem Moment, in dem ich seine Äußerung höre, gebildet haben. Diese Schichten können wir vergleichen mit Sedimenten seiner bisherigen Lebenserfahrungen. Durch die Sedimente hindurch bis hin zur sprachlichen Oberfläche zeigen sich die Spuren unserer im Laufe des Lebens gesammelten Erfahrungen. Allerdings sind die Schichten nicht wie geologische Sedimente fixiert, sondern veränderbar. Sie können sich aufgrund neuer Erfahrung neu organisieren und miteinander in Kontakt treten. Diesen Aspekt würde das Bild eines lebendigen Organs wie beispielsweise der Haut, deren verschiedene Schichten mit Blutgefäßen und Nervenfasern untereinander in Kontakt sind, besser veranschaulichen. Auch der regenerative, das heißt sich erneuernde und entwickelnde Aspekt kommt im Schichtenbild der Haut gut zum Ausdruck.
Im Zentrum dieses Kapitels steht natürlich die Sprachentwicklung. Zu betonen ist, dass es um »normale« Sprachentwicklung geht, Spracherwerbsstörungen werden teilweise erwähnt, aber nicht ausgeführt. Zur Behandlung von Spracherwerbsstörungen bedarf es der Logopädie. Hier kann die idiolektische Methode hilfreich ergänzen, keinesfalls ersetzen. Der Blick auf die Sprachentwicklung ist kein »klassischer«. Der Blick erweitert sich auf andere Entwicklungsbereiche, beispielsweise die Bereiche der Bindung und Beziehung, der Vitalitätsformen, der Motivation und Intention, des Fühlens und Denkens und der Interaktion, welche alle besonders in die impliziten Schichten von Sprache (siehe Abb. 1) hineinwirken. Wir werden sehen, dass vor allem der Blick auf die vorsprachliche Entwicklung, also auf die Lebensphase, in der wir noch keine Wörter für unsere Kommunikation verwenden, die impliziten Schichten von Sprache erhellen kann. Hinsichtlich des kommunikativen Aspektes können wir Sprache auch als ein Mittel zur Bewältigung unserer ursprünglichen Trennung zunächst von der Mutter, später von anderen Menschen generell betrachten. Sie hilft uns, als eigenständige Wesen in der Welt zu sein. Sprache bewegt sich unter diesem Blickwinkel an der Grenze zwischen der Subjektivität des Einzelnen und der Objektivität der Sprachgemeinschaft. Sprache kann hier Grenzen zwischen Individuen überwinden, Nähe und Vertrauen herstellen und damit die Trennung zwischen Menschen überbrücken. Auf der anderen Seite kann Sprache z. B. durch sprachliche Missverständnisse auch Trennung zwischen Menschen schaffen. Sie kann auch bewusst dazu eingesetzt werden, Grenzen zu betonen, sich abzugrenzen und Distanz zu schaffen. Sie dient also im weitesten Sinne auch der Nähe-Distanz-Regelung zwischen Menschen.
Im Laufe der kindlichen Entwicklung werden die verschiedenen Funktionen von Sprache durchlaufen. Auch deshalb ist der folgende Streifzug durch die Entwicklungspsychologie für den Gebrauch von Sprache im Erwachsenenalter sehr erhellend. Unabhängig von der jeweiligen Funktion von Sprache bleibt sie in großem Ausmaß subjektiv, das heißt eigensprachlich.
Ich werde im Weiteren herausarbeiten, welche Entwicklungsschritte im jeweiligen Alter anstehen und welche Bedeutung hier jeweils das Konzept der Eigensprache haben kann. Dieser letzte Schritt wird zu großen Teilen hypothetisch sein, da diese Reflexion in dieser Form erstmals angestellt wird. Wenn wir Entwicklungsphasen betrachten, ist zunächst festzuhalten, dass diese Phasen nicht fix sind und meistens nicht gegenüber den vorherigen oder späteren Phasen durch eine klare Markierung abgegrenzt werden können. Wichtig ist insbesondere bei der Sprachentwicklung, dass es sensible Phasen gibt, in denen wichtige Lernvorgänge geschehen müssen. Wenn sie nicht stattfinden, ist ein späteres Nachholen, wenn dieses »Entwicklungsfenster« geschlossen ist, sehr schwierig und aufwendig.
Für das bessere Verständnis einzelner Entwicklungsphasen braucht es einige theoretische Grundlagen. Theorien versuchen, eine möglichst große Anzahl von Phänomenen zu erfassen und zu erklären. Sie können sich untereinander widersprechen und ergeben dann kein einheitliches Erklärungsmodell. Dies stellt die Geduld der Leserin und des Lesers auf die Probe. Anhand der zahlreichen Fallbeispiele mit entsprechenden Reflexionen in den folgenden Kapiteln können die theoretischen Ausführungen an der Praxis nachvollzogen und überprüft werden.
Beginnen möchte ich mit einer Unterscheidung zwischen zwei grundlegend verschiedenen Wissensformen: dem impliziten und dem expliziten Wissen.
Wie in Abbildung 1 in Pfeilform angedeutet, entwickeln sich beide Wissensformen unser ganzes Leben lang weiter. Sie werden laufend durch alltägliche Erfahrung genutzt und verändern sich dadurch. Schon Anna Freud hat in den 1970er-Jahren (Freud 1980) von einem »Konzept der Entwicklungslinien« gesprochen. Sie hat verschiedene Erlebensdimensionen beschrieben, die sich aus einer wechselseitigen Beeinflussung von angeborenen Anlagen, dem »Es«, dem »Ich« und den Umwelteinflüssen entwickeln würden (ebd., S. 2690 ff,). Ich verwende das Modell vom impliziten Wissen und expliziten Wissen lieber, weil es einfacher, anschaulich und ganzheitlich ist. Ebenso wie der Begriff des Unbewussten und der des Es in der Psychoanalyse bleibt auch das »«implizite“ Wissen teilweise spekulativ, weil es sich eben gerade der expliziten Sprache und dem Verstand entzieht. Die Unterscheidung zwischen beiden Wissensstrukturen ist dennoch für die idiolektische Methode enorm wichtig, weil die impliziten Anteile von Sprache hier eine entscheidende Rolle spielWährend explizites Wissen in Worten ausgedrückt werden kann, ist dies beim impliziten Wissen nicht direkt möglich. Implizites Wissen ist also nonverbal. Es besteht zunächst einmal aus sinnlicher Erfahrung und motorischen Antworten und baut sich auf Bindungserfahrungen bezüglich der primären Bezugspersonen auf. Es ist davon auszugehen, dass das Implizite Wissen verschiedene Bereiche umfasst und sehr umfangreich und nuancenreich ist. Einer diese Bereiche ist unser Beziehungswissen, welches Teilhaben am Erleben des anderen, Erkennen von Intentionen sowie die Affektregulation, also die Art und Weise, wie wir unsere Gefühle regulieren, mit einschließt. Ein weiterer Begriff kann mit dem impliziten Wissen in Zusammenhang gebracht werden: Es ist das prozedurale Wissen in seiner erweiterten, ebenfalls die Affekte und die Beziehungsregulation mit einschließenden Bedeutung. Mit prozeduralem Wissen sind zunächst erlernte komplexe motorische Abläufe wie zum Beispiel beim Fahrradfahren oder Schwimmen gemeint. Das prozedurale Wissen bezieht sich aber nicht nur auf die Motorik, sondern eben auch auf die Affekte und die Beziehungsregulation. Verallgemeinernd ausgedrückt, geht es hier um das Know-how, also das »Gewusst, wie«, also das Wissen, wie etwas geht, wie ich überhaupt lernen kann. Implizites Wissen bleibt entgegen früherer Annahmen das ganze Leben erhalten und differenziert sich weiter aus. Beim impliziten Wissen gibt es keine semantische und symbolische Bedeutungsebene.
Über diese Bedeutungsebenen verfügen wir erst, wenn wir Sprache erlernen. Mit Worten können wir Wissen abrufen und ausdrücken. Es ist nun explizit. Wir können etwas erklären (deklaratives Wissen), wir können Ursache-Wirkungs-Beziehungen benennen (Kausalität), wir verfügen über Faktenwissen (Semantik) und wir können symbolisch sprechen. Explizites Wissen ist potenziell bewusst, implizites Wissen unbewusst. Beide Wissensbereiche umfassen funktionelle Gedächtnissysteme, die sich in der Eigensprache verschränken und in der idiolektischen Methode besondere Beachtung finden.
Abb. 1: Entwicklung von Wissensstrukturen (nach Bindernagel 2010, S. 79)
Die Entwicklung von Begriffen vollzieht sich auf der Grundlage von vier basalen Repräsentationssystemen, die in der funktionellen Hirnforschung auch als sogenannte neuronale Karten bezeichnet werden; es sind: die Aktion, das Bild, das Symbol und das Zeiterleben (siehe Abb. 1). Wie zu zeigen sein wird, finden diese vier Ebenen in idiolektischen Gesprächen eine Analogie im methodischen Vorgehen. Begriffe sind verdichtete Konzepte. Sie sind vergleichbar mit Handlungsschablonen, mit denen die Welt erkundet werden kann (Resch 1996). Sie sind gleichzeitig Modelle der Wirklichkeit. Sie ermöglichen Antizipation der Welt, d. h., vorwegnehmend an der Welt teilzuhaben. Das Kind konstruiert seine Begriffe subjektiv in der Interaktion mit den primären Bezugspersonen (siehe oben). Später bekommen Begriffe zunehmend abstraktere Merkmale. Es ist aber davon auszugehen, dass in jedem Begriff, sei er auch noch so abstrakt, eine ursprüngliche durch subjektive Erfahrung entstandene Matrix enthalten ist. Das ist die Tiefendimension der Eigensprache. Im Bild der geologischen Schichten gesprochen, ist hier die Rede von den frühen, tiefer gelegenen Sedimenten. Jedes Denken erfordert eine innere Vergegenwärtigung von Information. Diese innere Vergegenwärtigung kann nach Jerome Bruner (1987) Repräsentation genannt werden. Jerome Bruner beschreibt drei unterschiedliche Medien, in denen Informationen vergegenwärtigt werden können. Diese drei Medien bilden sich in der kindlichen Entwicklung nacheinander und übereinander aus. Das erste Medium ist die Aktion, das zweite das Bild und das dritte das Symbol. Die aktionale (d. h. handlungsbetonte) Repräsentationsform beginnt bereits vorgeburtlich und entwickelt sich im ersten Lebensjahr. Hier werden kinästhetische Erfahrungen, also die Bewegung betreffende Empfindungen, gespeichert. Es ist davon auszugehen, dass neben diesen kinästhetischen Erfahrungen über das auditiv-vibratorische Erleben der intrauterinen Klangwelt auch erste »protomentale« Repräsentationen von Klang gebildet werden, die bereits mit emotionaler Erfahrung verknüpft sind (vgl. Maiello 2013). Vermutlich macht das Baby im Bauch erste Erfahrungen von Kontinuität durch das unaufhörliche Wahrnehmen des mütterlichen Grundrhythmus von z. B. Herzschlag und Atmung und Darmgeräuschen. Dieses »Geräuschuniversum«, das die erwähnten rhythmischen Geräusche sowie die arrhythmischen Klänge wie z. B. die mütterlichen Darmgeräusche umfasst, fällt bei Geburt abrupt weg. Hingegen bleibt die mütterliche Stimme, die das Neugeborene wiedererkennt, erhalten. Andererseits kann das Baby bereits im Bauch seine erste Erfahrung von Diskontinuität, also Trennung, machen, indem es zeitweise die mütterliche Stimme hört und streckenweise nicht hört, weil die Mutter nicht spricht. Darüber hinaus weisen Untersuchungen darauf hin, dass der Fetus bereits auf die Qualität der mütterlichen Stimme reagiert. Diese »Vor«-Repräsentationen vollziehen sich in vorsprachlichen, intuitiven Austauschprozessen zwischen Eltern, vor allem der Mutter, und Kind, mit denen das implizite Wissen aufgebaut wird. Die aktionalen und möglicherweise auch klanglichen Repräsentationsformen dienen als erstes inneres Bezugssystem für eigene Handlungen. Die aktionale begriffliche Vorstellung von Objekten ist ausschließlich durch die an ihnen vorgenommenen Handlungen definiert. Der kindliche Begriff ist hier noch im wahrsten Sinne des Wortes das Ergebnis des Begreifens (Bullens 1983). Das erste Medium des Denkens ist damit die Aktion. Ab dem ersten Lebensjahr wird diese erste Repräsentationsform von der bildhaften (ikonischen) Repräsentationsform überlagert. Die bildhafte Darstellung ermöglicht die sensorische Repräsentation von Erfahrungen aller Sinneskanäle. Innere Bilder oder Szenen können jetzt abgespeichert und später wieder abgerufen werden. Mit dieser neuen Darstellungsform kann sich das Kind allmählich von der an unmittelbare Handlungen gebundenen Repräsentation lösen. Beide Repräsentationsformen, die aktionale und die bildhafte, bleiben bis ins Erwachsenenalter erhalten. Sie können beispielsweise im Traum oder in kreativen Tätigkeiten handlungsbestimmend werden. Die idiolektische Methode fokussiert diese beiden Repräsentationsformen durch die Art des Fragens nach Handlungen und nach Bildern. Sie versucht so; dem Gegenüber diese meist im impliziten Wissen liegenden Bereiche zugänglicher zu machen. Etwa ab dem Alter von 18 Monaten beginnt die dritte, die symbolische Repräsentationsform. Es werden nun nicht mehr einzelne Wahrnehmungsinhalte, sondern stellvertretend dafür Symbole repräsentiert. Spätestens mit Beginn der symbolischen Repräsentation können wir das semantische Gedächtnis, d. h. das Abrufen von Fakten, verwenden. Das wichtigste Mittel dafür, die Bedeutung von Objekten und Szenen symbolisch begrifflich festzuhalten, ist die Sprache. Wenn das Kind diese Stufe erreicht hat, beginnt es, Erfahrungen aus den aktionalen – möglicherweise auch klanglichen – und bildhaften Repräsentationsformen neu zu strukturieren. Aber auch innerhalb der symbolischen Repräsentationsform kommt es immer wieder zu Neuorganisationen des Wissens.
Damit sind wir an einem entscheidenden Punkt für idiolektische Gespräche oder für therapeutische Situationen ganz allgemein angelangt. Leibliche, über die Bewegung und Muskelempfindung und klanglich vermittelte Wahrnehmungen und Erfahrungen, die ihren Ursprung in der aktional-klanglichen Repräsentation haben, fließen in unser implizites Wissen ein, das sich meist nicht in Worte fassen lässt, aber dennoch unser Verhalten stark beeinflusst. In einem idiolektischen Gespräch kann dieser Bereich genutzt werden, indem nonverbale Signale des Gesprächspartners laufend registriert und ernst genommen werden. Sie können wie ein Kompass als Orientierungshilfen für den Verlauf des Gespräches verwendet werden. Vereinfacht gesagt, zeigen positive Signale den Weg an, negative weisen darauf hin, vorzugsweise eine andere Richtung einzuschlagen. Hilfreich für das Verständnis nonverbaler Signale ist auch das auf den ersten Blick etwas abstrakt scheinende von Daniel Stern (2011) beschriebene Konzept der »dynamischen Vitalitätsformen«. Stern hält sie für die fundamentalsten aller gefühlten Erfahrung (ebd., S. 19). Erkennbar würden Vitalitätsformen nicht über den Inhalt, sondern in der Art und Weise, wie etwas ausgedrückt werde. Diese Art und Weise könne mit den fünf Kriterien der Bewegung, der Zeit, der Kraft, des Raums und der Gerichtetheit wahrgenommen und beschrieben werden. Stern schildert, wie hilfreich es im therapeutischen Dialog sein kann, sich genau auf diese Ebene, nämlich die Dynamik des Ausdruckes einer Geste oder einer Sprechweise, zu beziehen. Eine andere Technik der Idiolektik ist das Aufgreifen von Verben statt Substantiven. So können aktionale Repräsentationsformen, also prozedurales Wissen, aktiviert werden und damit neue Verknüpfungen zwischen Sprache und Handlung und »gespürtem Wissen« entstehen. Ein Erlebnis, über das in dieser Weise gesprochen wird, kann dann anders »gespürt« oder erfahren werden. Bildhafte Erfahrungen sind prinzipiell verbalisierbar und somit dem expliziten Wissen und der Sprache leichter zugänglich. Das systematische Aufgreifen- und Beschreibenlassen von Bildern aktiviert die Ebene der bildhaften Repräsentationsformen. Durch diese Aktivierung werden wiederum Verknüpfungen zwischen explizitem und implizitem Wissen erleichtert. Bilder können so in einem idiolektischen Gespräch in einer neuen Weise wahrgenommen werden. Ungefähr ab dem vierten Lebensjahr stellt sich die vierte Repräsentationsform ein: Nun fangen wir an, uns in der Zeit selbst zu erleben. Hier beginnt die Fähigkeit zu virtuellen Zeitreisen. Damit ist die Grundlage für das autobiografische Gedächtnis geschaffen. Wir können in einem Gespräch, einer mentalen Zeitmaschine gleich, in die Vergangenheit und die Zukunft reisen. In einem idiolektischen Gespräch beobachten wir zuweilen, dass das Zeitgefühl abhandenkommt. Dies ließe sich damit erklären, dass durch eine starke Aktivierung der bildhaften und aktionalen Ebene das aktuelle Zeiterleben und die Symbolebene im Hier und Jetzt während der virtuellen Zeitreise übersprungen werden. Symbolebene und Zeiterleben werden erst in der Schlussphase beim »Zurückkommen« aktiviert, wenn über das Gespräch, das stattgefunden hat, reflektiert wird. Ein solches Erleben ermöglicht wiederum die oben erwähnten Verknüpfungen zwischen impliziten und explizitem Wissen und damit eine Neuorganisation von Gedächtnis, wie z. B. eine Modifikation einer traumatischen Erinnerung.
Das Neugeborene: Hier bin ich! Wie finde ich meinen Rhythmus und meine Befriedigung?
Die Vorstellungen und Kenntnisse betreffend das menschliche Neugeborene haben sich seit den 1990er-Jahren grundlegend gewandelt: vom Bild eines unreifen, durch eine »autistische Schale« abgeschirmten, passiven Organismus, der mit Reflexen und angeborenen Signalen ausgestattet ist, hin zu dem Bild eines neugierigen, lernbereiten Gegenübers, das aktiv mit allen Sinnen nach angemessener Strukturierung sucht und selbst mit eigenem Verhalten Einfluss auf die Welt nehmen kann. Dieser allgemeinen Feststellung würden vermutlich die meisten Exponenten aus der Säuglingsforschung zustimmen. Unterschiedlicher sind hingegen die Vorstellungen davon, wie ein Neugeborenes oder ein einjähriger Säugling die Welt selbst erlebt, was sich in seinem Inneren abspielt. Diese Vorstellungen werden stark vom theoretischen Hintergrund und von der Sichtweise des jeweiligen Forschers oder Praktikers geprägt. Doch bleiben wir zunächst bei den durch Beobachtung gesicherten Kenntnissen über Neugeborene.
Zunächst muss festgehalten werden, dass ein menschliches Neugeborenes eine physiologische Frühgeburt ist, das heißt im Vergleich zu neugeborenen Tieren sehr unreif ist und auf umfassende körperliche und emotionale Pflege angewiesen ist. Dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – verfügen Neugeborene bereits über erstaunliche Fähigkeiten zur sozialen Interaktion. Normalerweise kriechen sie wenige Augenblicke nach der Geburt zur Brustwarze der mütterlichen Brust, öffnen den Mund und platzieren ihn perfekt, solange man sie dabei z. B. durch sofortiges Waschen nicht stört. Wäscht man die eine Brust, kriecht, es dem Geruch folgend, zur anderen. Neugeborene versuchen auch auf andere Weisen sehr aktiv, Bonding-Reaktionen von Erwachsenen auszulösen (Music 2011). Mit »Bonding« ist gemäß Karl Heinz Brisch (1999) das elterliche Bindungsverhalten gegenüber ihrem Kind gemeint, welches wiederum sichere Bindung vom Kind zu den Eltern fördert. In der Neugeborenenperiode betrifft dies in erster Linie Körperkontakt und intuitives feinfühliges Pflegeverhalten. Neugeborene ziehen lebendige Gesichter unbelebten Objekten vor und reagieren ihnen gegenüber anders, indem sie den Blickkontakt suchen, auf Erwiderung und ein Lächeln warten. In einem Experiment konnte gezeigt werden, dass Neugeborene in kurzer Zeit lernen können, über eine Veränderung ihrer Saugfrequenz an der mütterlichen Brust, genauer gesagt: über eine Senkung ihrer sonst gewohnten Saugrate die auf einem Tonträger aufgenommene mütterliche Stimme gegenüber anderen Stimmen auszuwählen. Ja, sie wählten sogar bestimmte vorgelesene Geschichten aus, die ihnen offenbar mehr zusagten als andere (De Casper a. Spencer 1986). Eine ausgeprägte Lernfähigkeit und interaktive Kompetenz werden hier deutlich. Mit anderen Experime...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titelblatt
  3. Urheberrecht
  4. Vorwort
  5. Einleitung
  6. 1. Wie entwickelt sich Eigensprache?
  7. 2. Die Eigensprache des Babys und Kleinkindes
  8. 3. Die Eigensprache der Vorschulkinder
  9. 4. Die Eigensprache der Schulkinder
  10. 5. Die Eigensprache der Jugendlichen
  11. 6. Die Eigensprache von Eltern
  12. 7. Die Eigensprache von Fachpersonen – Interdisziplinäre Zusammenarbeit
  13. 8. Schluss: Nutzen der Idiolektik
  14. Ausbildung in Idiolektik
  15. Literatur
  16. Über die Autorinnen und Autoren
  17. Über den Herausgeber