1 Der Mobbing-Steckbrief: Daten und Fakten
Die Definition
Eine allgemeine verbindliche Definition von Mobbing gibt es nicht. Je nach Autor lautet sie anders, aber alle weisen mehr oder weniger die gleichen Strukturmerkmale auf:
Im angelsächsischen Sprachraum wird der Begriff »Bullying« verwendet, der übersetzt so viel bedeutet wie Einschüchterung, Tyrannisieren, Schikanieren. Im deutschsprachigen Raum wird wahlweise sowohl der Begriff Bullying als auch Mobbing benutzt.
In diesem Buch soll Mobbing unter Schülern (vgl. Wyrwa 2012) folgendermaßen verstanden werden: Mobbing als extremer Konflikt ist ein Akt der Gewalt, welcher die systematische Wiederholung personenzentrierter destruktiver Handlungen über einen längeren Zeitraum beinhaltet, der zielgerichtet ist, primär auf einem asymmetrischen Machtverhältnis basiert und darauf abzielt, ein Individuum bewusst psychisch, aber gegebenenfalls auch physisch, zu schädigen.
Mobbing ist mehr als ein »normaler« Konflikt. Die Abgrenzung ist allerdings nicht immer einfach. Pöbeleien auf dem Schulhof, Beleidigungen, Schlägereien, Streitereien etc. sind nicht per se als Mobbing zu verstehen. Ebenfalls gehören Belästigungen (ein Schüler wird nicht in Ruhe gelassen) oder Bedrängungen mit dem Zweck, ein Ziel zu erreichen (z. B. Erpressungen), nicht dazu (s. Teuschel u. Heuschen 2013; Scheithauer, Hayer u. Petermann 2003)
Können Konfliktlotsen bzw. Mediatoren an Schulen leichtere Konflikte unter Schülern noch lösen, ist dies beim Mobbing nicht der Fall. Zum einen spiegeln sich hier mehr oder weniger nichtbewusste Ängste aufseiten der Mobber wieder. Zum anderen gehört zu einem extremen Konflikt eine Reihe von Faktoren, die bei einem leichteren Konflikt nicht vorhanden sind.
Mobbing ist in diesem Zusammenhang als psychische Gewalt zu verstehen, die physischer Gewalt in der Bewertung gleichzustellen ist. Nach Bauer (2011) lassen sich bei Demütigungen, Erniedrigungen und sozialen Ausgrenzungen dieselben hirnbiologischen Abläufe nachweisen, die auch bei körperlichem Schmerz auftreten.
Mobbing zeichnet sich des Weiteren durch systematische Wiederholungen personenzentrierter destruktiver Handlungen aus. Beleidigungen, Hänseleien, körperliche Attacken, das Verbreiten von Gerüchten, Verunglimpfungen einer Person über das Internet, Cybermobbing (Katzer 2014, Wyrwa 2016) erfolgen nicht einmalig, sondern geschehen regelmäßig.
Hieraus ergibt sich ein Zeitkriterium. Mobbinghandlungen dauern über einen längeren Zeitraum an. Sie beginnen nicht an einem Tag und enden nicht an diesem Tag. Das Zeitraumkriterium ist allerdings nicht exakt bestimmbar und muss im Einzelfall immer wieder neu bestimmt werden. Mobbing kann sich über viele Wochen, Monate oder sogar Jahre hinziehen (Teuschel u. Heuschen 2013; Scheithauer, Hayer u. Petermann 2003).
Ein weiteres wichtiges Kriterium ist die Zielgerichtetheit. In der Regel wird ein einziger Schüler einer Klasse oder einer Stufe zum Opfer stilisiert. Dabei kann es sein, dass die Opfer nach einer gewissen Zeit wechseln und andere Schüler in den Fokus der Mobber gelangen.
Das Machtverhältnis ist insofern asymmetrisch, als sich der von Mobbing Betroffene immer in der unterlegenen Position befindet. Entweder verfügt der einzelne Mobber über so viel Macht bzw. Einfluss in der Klasse, dass sich ihm niemand entgegenstellt oder die Asymmetrie basiert darauf, dass die mobbenden Schüler in der Überzahl sind. Eindeutig liegt jedoch ein Oben-unten-Verhältnis vor.
Eine – mehr oder weniger bewusste – Schädigungsabsicht liegt vor. Das Opfer soll ausgegrenzt und isoliert werden. Doch im Gegensatz zum Mobbing unter Erwachsenen im Kontext Arbeit, wo es darum geht, den Gemobbten zur Aufgabe seines Arbeitsplatzes zu veranlassen, ist dies nicht das primäre Ziel im Kontext Schule. Die Anwesenheit des Opfers in der Klasse ist durchaus erwünscht. Es ist zwar ausgegrenzt, bleibt aber doch Teil der Klasse und »gehört dazu«. Es ist in seiner Ausgrenzung quasi eingegrenzt. Der von Mobbing Betroffene hat für den Mobber und/oder die anderen Mitschüler eine Spaß- bzw. Unterhaltungsfunktion (Wyrwa 2016).
Die Häufigkeit
Allgemein kann von etwa 500.000 bis 750.000 betroffenen Schülern und Schülerinnen in Deutschland ausgegangen werden (vgl. Teuschel u. Heuschen 2013; Schäfer u. Herpel 2010; Scheithauer, Hayer u. Petermann 2003).
Die Handlungen
Unterschieden werden kann zwischen direkten und indirekten Mobbinghandlungen. Direkte Mobbinghandlungen beziehen sich sowohl auf verbale wie auch auf körperliche Angriffe. Hierunter fallen: Beleidigungen, Hänseleien, Spucken, Treten, Schlagen, körperliche Demütigungen. Indirekte Mobbinghandlungen sind: Gerüchte, Cybermobbing, soziale Ausgrenzungen, Beschädigungen von Eigentum (Teuschel u. Heuschen 2013; Scheithauer, Hayer u. Petermann 2003).
Die Opfer
Die von Mobbing Betroffenen sind immer einzelne Schüler. Sie zeichnen sich im Allgemeinen dadurch aus, dass sie nicht einem gesellschaftlich und medial vermittelten Klischee – wie etwa Attraktivität oder Selbstbewusstsein – entsprechen. Optische Merkmale wie Größe, Gewicht, Kleidung, Behinderungen können Auslöser für Mobbing sein ebenso wie Ungeschicklichkeit, Schüchternheit, Ängstlichkeit, exzentrische Verhaltensweisen oder auch besondere Intelligenz (Wyrwa 2016).
Letztlich kann jedoch jede Besonderheit einer Person dazu führen, dass sie gemobbt wird. Ein Zuviel an äußerlicher Attraktivität kann ebenso zu Mobbingaktivitäten führen wie ein Zuwenig. Ein Zuviel an Intelligenz kann Mobbing genauso auslösen wie ein Zuwenig. Allerdings gibt es auch Opfer, die absichtlich ebenso wie unabsichtlich provozieren. Beispiele hierfür sind: Dominanzbestrebungen, Aggressivität oder Hyperaktivität.
Die Täter
Die Täter sind Personen, die innerhalb einer Klasse eine herausragende Position innehaben. Sie können sich durch einen hohen Grad an Beliebtheit auszeichnen. Sie sind in der Regel sozial eingebunden (Wyrwa 2016, Teuschel u. Heuschen 2013; Schäfer u. Herpel 2010; Scheithauer, Hayer u. Petermann 2003). Aber auch die Angst vor den Tätern kann dazu führen, dass diese in ihrem Verhalten akzeptiert oder sogar unterstützt werden.
Die Motive sind unterschiedlich. Sie reichen u. a. von der Lust am Quälen und Schikanieren über Frustrationsabbau durch Aggressionen zu Selbsterhöhungen und dem Streben nach Vorherrschaft. Neid und Eifersucht können eine Rolle spielen. Die Täter sind meist selbstbewusst, streben danach, sich durchzusetzen und haben kein Mitgefühl für ihre Opfer. Allen Tätern ist das Streben nach Macht gemeinsam (Teuschel u. Heuschen 2013; Scheithauer, Hayer u. Petermann 2003).
Die Mittäter
Die Mittäter sind solche, die den Mobber bei seinen Handlungen aktiv unterstützen. Auch ihnen geht es um Macht, Frustrationsabbau und Spaß am Quälen. Aber sie streben auch nach Zugehörigkeit innerhalb der Klasse bzw. Stufe (vgl. Teuschel u. Heuschen 2013; Schäfer u. Herpel 2010; Scheithauer, Hayer u. Petermann 2003).
Die Mitläufer
Dies sind solche Schüler, die sich nicht aktiv am Mobbing beteiligen, es aber passiv gutheißen und denen es Vergnügen bereitet, zuzusehen (vgl. Teuschel u. Heuschen 2013; Schäfer u. Herpel 2010; Scheithauer, Hayer u. Petermann 2003).
Die Wegseher
Diese Schüler halten sich aus allem heraus – sei es aus Angst davor, selbst ein Opfer werden zu können, sei es, weil sie sich einreden, dass das Opfer das Mobbing verdient hätte. Sie sehen weg, wenn es passiert. Es gefällt ihnen nicht, aber sie verhalten sich durchgehend passiv (vgl. Teuschel u. Heuschen 2013; Scheithauer, Hayer u. Petermann 2003).
Die Helfer
Dies sind meist Einzelpersonen, die unter Umständen einschreiten, dann aber Gefahr laufen, das nächste Opfer zu werden. Sie haben in der Regel keinen Einfluss auf die
Täter (vgl. Teuschel u. Heuschen 2013), wenn sie nicht die Unterstützung der Klasse haben.
Die Schulform
Vom Kindergarten bis zum Gymnasium wird gemobbt (Alsaker 2012; vgl. Teuschel u. Heuschen 2013; Schäfer u. Herpel 2010; Scheithauer, Hayer u. Petermann 2003). In Grundschulen wird nach einigen Untersuchungen am häufigsten gemobbt.
Die Folgen für die Opfer
Ganz gleich, ob Schüler massiven physischen oder psychischen Attacken ausgesetzt sind, führen die Angriffe gegen ihre Person früher oder später zu psychischen und/ oder psychosomatischen Folgen – insbesondere dann, wenn der betroffene Schüler keine Hilfe bekommt. Behandlungsbedürftige Depressionen, Angststörungen, posttraumatische Belastungsstörungen u. a. können die Folge sein (Teuschel u. Heuschen 2013; Schäfer u. Herpel 2010; Scheithauer, Hayer u. Petermann 2003).
Mobbing hat Auswirkungen auf die Lern- und Leistungsfähigkeit eines Schülers. Seine Konzentration leidet darunter. Seine Angst vor der Schule steigt. Es kommt zu längeren Krankschreibungen, eventuell wird sogar ein Schulwechsel notwendig.
2 Der Ansatz: Eine systemischexistenzielle Perspektive Eine systemischexistenzielle Perspektive
Was veranlasst einen Schüler dazu, einen anderen gezielt und systematisch zu demütigen, ihn zu quälen, ihn dabei gegebenenfalls auch körperlich zu misshandeln?
Sind es intrapsychische Faktoren, wie seine Persönlichkeitsmerkmale, seine Lebenserfahrungen, seine Bedürfnisse nach Kontrolle und Zugehörigkeit oder seine Frustrationen aufgrund seiner Lebensumstände?
Sind es interpsychische Faktoren wie kommunikative Strukturen, gruppendynamische Prozesse, organisations- und gesellschaftsbezogene Strukturen, die sich im Miteinanderagieren von Individuen und Strukturen selbstorganisatorisch gebildet haben?
Aus einer systemisch-existenziellen Perspektive wird Mobbing sowohl von interpsychischen als auch von intrapsychischen Faktoren beeinflusst (Wyrwa 2012), die im Folgenden skizziert werden sollen.
Systemisch betrachtet ist Mobbing ein Phänomen der Herstellung von Ordnung (Wyrwa 2012; Wyrwa 2016). Von jener Entwicklungsstufe an, auf der das menschliche Gehirn als Produkt der Evolut...