1 Grundlagen
Systemische Betrachtungsweisen haben den Vorteil, dass sie keine starren Lösungsvorschläge hervorbringen, sondern bei den »Klienten« Reflexionsprozesse anregen sollen, um zu einer individuellen – den Kontext einbeziehenden – Lösung zu gelangen.
1.1 System
Ein System ist eine Gesamtheit von mehreren Einzelteilen, die aufeinander bezogen sind. Somit stellt eine Familie nach Ansicht der systemischen Beratung ein System dar, bei denen die einzelnen Familienmitglieder Teile des Systems ausmachen. Weitere Systeme sind beispielsweise ein Liebespaar, eine Sportgruppe, Schulklasse usw. Die Teilnehmer eines Systems sind durch Regeln miteinander verbunden.
1.2 Muster
Muster in Beziehungen sind eingeübte Verhaltensweisen bzw. Kommunikationen, die sich immerzu wiederholen und Sicherheit geben bzw. Verbindungen schaffen.
Wenn sich zwei Menschen, die sich nur oberflächlich kennen, in der Stadt begegnen, kommt es evtl. zur Kommunikation über das Wetter und man verabschiedet sich danach wieder höflich. Würde man sich regelmäßiger treffen, so würde sich die Kommunikation allmählich verändern. Es bilden sich Strukturen bzw. Muster.
Bei Liebesbeziehungen lässt sich das prima beobachten: Paare verlieben sich, finden sich gegenseitig anziehend und treffen sich häufiger. Mit dem Beginn der Beziehung kommt es zur Musterbildung: Es entwickeln sich kommunikative Routinen wie liebevolle Bezeichnungen als »Schatz«, »mein Engel« oder »Bärchen«. Dies löst zunächst Glücks- und Sicherheitsgefühle aus. Mit zunehmender Stabilisierung werden auch unsensible Seiten gezeigt: Er liest Zeitung beim Frühstück oder legt die Füße beim Fernsehen auf den Tisch, und sie rollt ihre Haare abends mit Lockenwicklern hoch. Der weitere »Ausbau« der Musterbildung hilft bei der Stabilisierung einer Beziehung – Verhaltensautomatismen unterstützen dabei die Kommunikationsroutinen: Er bringt sie morgens zur Bahn und winkt ihr herzergreifend nach, sie kocht täglich leckere Gerichte. Der Alltag ist in vollem Gange und man richtet sich auf Dauer und Ruhe ein. Die ersten Muster sind stabil, und der Umgang miteinander wird zunehmend automatisierter.
In Paarbeziehungen weiß »man« daher voneinander genau, wie sich der Partner in bestimmten Situationen verhalten wird. Diese Muster sind sehr stabil und bleiben auch nach Trennungen meist erhalten. Das Interessante daran ist, dass auch Dinge getan werden, die nicht unbedingt nützlich oder zieldienlich sind. So wirft der Mann beispielsweise die Socken nicht in den Wäschekorb, sondern neben das Bett, obwohl er seit Jahren weiß, dass seine Frau sich darüber ärgern wird. Die Frau weiß hingegen seit Jahren, dass ihr Mann seine Socken neben das Bett legen wird und nicht in den Wäschekorb. Bei solchen Streitigkeiten sieht jeder das Problem beim Partner bzw. gibt ihm die Schuld, wodurch auch in Beratungsgesprächen »Problemgespräche« entstehen können.
Übung
Beobachten Sie in Ihrem Kollegium in den Pausen oder bei Konferenzen usw. das Geschehen im Lehrerzimmer:
• Gibt es wiederkehrende Kommunikations- bzw. Verhaltensstrukturen zwischen bestimmten Lehrern?
• Welcher Lehrer wird eher freundlich auf eine überraschende Vertretungsstunde reagieren, welcher wird sich beschweren?
• Ist dies mit einer bestimmten Vorhersagewahrscheinlichkeit verbunden, d. h., welche Muster haben sich hier gebildet?
1.3 Zirkularität
Zirkularität bedeutet, dass sich das Verhalten zwischen Menschen einer Gruppe bzw. eines Systems gegenseitig bedingt. Das heißt, Ursache ist gleich Wirkung und Wirkung ist gleich Ursache.
Bei dieser zirkulären Auffassung ist unter systemischen Gesichtspunkten die Suche nach Schuld bzw. dem Verantwortlichen wenig nützlich, denn das Verhalten der Mitglieder eines Systems bedingt sich gegenseitig, wie Abbildung 1 verdeutlichen soll.
Übung
Beobachten Sie in Ihrer Klasse zirkuläres Verhalten, indem Sie Ihr eigenes Benehmen in Bezug auf einen »störenden« Schüler und dessen »Stören« beobachten:
• Sind zirkuläre Kreisläufe erkennbar – wie beispielsweise das »störende Reinrufen oder Reden mit dem Nachbarn« des Schülers? Wie sind Ihre Reaktionen darauf (Strafarbeiten, Arrest)? Ersetzen sie im Schaubild »Zirkularität« die Personen durch die des Lehrers und des Schülers:
• Lässt sich nun noch erkennen, was Ursache und was Wirkung ist?
Abb. 2: Zirkularität im Unterricht
1.4 Konstruktivismus
Durch psychische, soziale und neuronale Wechselwirkungen mit der Umwelt konstruieren Menschen ihre eigene Wirklichkeit. Dabei »erfasst« der Mensch aus der Vielzahl aller vorhandenen Reize in einer Situation nur einen kleinen Teil. Diese Reize werden im Gehirn subjektiv verarbeitet bzw. bewertet. Somit wird die »Wirklichkeit« im Gehirn nicht abgebildet, sondern mit subjektiven Erkenntnisstrukturen im Innern aufgebaut.
Kippbilder helfen dabei, dies zu verdeutlichen (vgl. Abb. 3).
Abb. 3: Alte oder junge Frau?
Auf diesen Grundlagen bewertet jeder einzelne Mensch eine bestimmte Situation, indem er auch Erfahrungswerte aus der Vergangenheit einbezieht sowie individuelle und für ihn schlüssige Reaktionen und Lösungen gestaltet.
Somit hat jedes Mitglied eines Systems gute Gründe für sein Handeln und eine eigene Wahrnehmung und -gebung der Wirklichkeit.
Aufgrund dessen können sich in (Paar-) Beziehungen immer wieder Meinungsverschiedenheiten entwickeln, wer von beiden »die Wirklichkeit richtig sieht« und somit recht hat.
Übung
Beobachten Sie eine Gesamtlehrerkonferenz und unterhalten Sie sich danach mit verschiedenen Kollegen darüber:
• Kann es sein, dass es verschiedene Meinungen über die Nützlichkeit und den Ablauf dieser Konferenz gibt? Wie kommt das? Wer hat nun recht?
1.5 Pacing und Leading
Der Begriff »Pacing« bezeichnet die Fähigkeit des Beraters/Lehrers, sich auf die anwesenden Gesprächspartner »einzuschwingen«, ihre emotionale Verfassung zu erspüren und Bedürfnisse wahrzunehmen. Personen, die sich gut verstehen, zeigen oft eine ähnliche Körperhaltung. Man kann das im Biergarten oder bei einem Essen beobachten. Die Gesprächspartner zeigen in Mimik und Gestik Ähnlichkeiten:
So haben beispielsweise beide die Arme aufgestützt, den Oberkörper vorgebeugt oder die Beine ähnlich positioniert. Auch das Gegenteil ist beobachtbar: Ist ein empathischer Kontakt verloren gegangen, so zeigen die Kommunikationspartner eine eher »abwehrende« Körperhaltung, indem sich einer weiter zu dem anderen beugt, wohingegen dieser sich immer mehr in seinen Stuhl zurücklehnt.
Pacing ist somit eine Haltung, die das Gegenüber in seinem aktuellen »Systemzustand« wertschätzt und akzeptiert.
Durch »Leading« kann der Berater/Lehrer versuchen, das Gespräch achtsam z. B. in Richtung Lösungsorientierung zu lenken bzw. Ideen anzubieten oder gemeinsam zu entwickeln, wobei die Auswahl der Lösungswege von den anwesenden Eltern getroffen wird. Gelingt es dem Lehrer, ein vertrauensvolles und wertschätzendes Verhältnis zu den Eltern aufzubauen, so werden die Eltern wiederum mögliche Ideen des Lehrers mit größerem Interesse annehmen.
Übung
Ein Vater kommt in die Sprechstunde der Mathelehrerin, weil sein Sohn auf einer »5« steht. Er ist im Beruf erfolgreich und hat eine gehobene Position als Rechtsanwalt. Er wirkt unsympathisch und arrogant. Seiner Meinung nach sind die Lehrer verantwortlich, da sie die falschen Übungsbeispiele auswählen. Die Mathelehrerin würde zu wenig und falsch erklären und nicht alle Sinneskanäle schulen. Wenn sich die Noten seines Sohnes nicht verbessern würden, so müsste ein Gespräch mit der Schulleitung erfolgen, damit die Arbeitsweise der Lehrerin überprüft werde.
Aufgabe:
Beraten Sie den Vater und achten Sie ...