Teil III: Kontexte – Interkulturelle soziale Arbeit und ihre Organisation 6Interkulturelle soziale Arbeit braucht einen Rahmen – Die Gestaltung kultursensibler Dienste
Thomas Hegemann und Nicolas Grießmeier
Kontext
Eine große Zahl von jungen Geflüchteten, darunter viele unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF), nehmen die Dienste von Jugendhilfeeinrichtungen, Beratungsstellen und gesundheitlichen und Bildungseinrichtungen in Anspruch.
Diese jungen Menschen bilden keine homogene Gruppe, sondern unterscheiden sich durch ihre divergente Lebenslagen schon vor Verlassen des Herkunftslandes, wie Schichtzugehörigkeit, Biografie, Ethnizität – jeweils im Kontext der strukturellen politischen, ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen der Herkunftsländer. Ebenso unterscheiden sie sich in den Migrationsgründen und Migrationsverläufen, wie Reisewegen, der Dauer des Fluchtverlaufes, den Zwischenstationen und diversen Traumen unterwegs. Und genauso unterscheiden sie sich bezüglich differierender Lebenslagen im Zufluchtsland, abhängig von Faktoren wie dem Vorhandensein von Verwandten vor Ort, der Existenz einer Community, der«Unterbringungsart« – wie Flüchtlingslager oder Jugendhilfeeinrichtungen –, dem Lebensort – wie Stadt oder ländlicher Raum mit den jeweiligen Sozialstrukturen – sowie im Besonderen vom rechtlichen Aufenthaltsstatus (Grießmeier 2015; Stauf 2011).
Für viele Einrichtungen im Sozial- und Gesundheitsbereich und ihre Mitarbeiter stellt diese Nutzergruppe eine neue und besondere Herausforderung dar.
Aktuell zeigt sich, dass strukturelle Barrieren – wie beispielsweise der eingeschränkte Zugang zur regulären Gesundheitsversorgung – den Kontakt und die Etablierung von Hilfemöglichkeiten erschweren. Dies hat zur Folge, dass Geflüchtete seltener in rehabilitative und vor allem psychotherapeutische Einrichtungen weiterverwiesen werden und dafür umso häufiger im Krisenfall in Einrichtungen der Akutversorgung aufgenommen werden. Zugespitzt zeigt sich dies beispielsweise bei der hohen Zahl von Akuteinweisungen von Flüchtlingskindern und heranwachsenden Flüchtlingen in psychiatrische Kliniken (vgl. Grießmeier 2015, S. 99; Issig 2016).
Daher gilt es, einerseits die strukturellen Rahmenbedingungen und andererseits die Prozessqualität in der Einzelfallarbeit zu verbessern.
Erfreulicherweise ist festzustellen, dass Professionelle in vielen Einrichtungen aufgrund der allgegenwärtigen Flüchtlingsthematik zunehmend ein Interesse an der interkulturellen Arbeit finden und nach Möglichkeiten suchen, ihre Kompetenzen in diesem Bereich zu verbessern. Die Anzahl der Publikationen zur interkulturellen Beratung und Therapie hat sich seit etwa den Nullerjahren auch in deutscher Sprache vervielfältigt (vgl. Radice von Wogau et al. 2004; Hegemann u. Oestereich 2009; Kaviani u. Hegemann 2011; Hegemann 2015). In Workshops und auf Tagungen und Kongressen wird ein großes Angebot zur interkulturellen Kompetenzerweiterung unterbreitet. Einzelne – auch Hochmotivierte und fachlich Kompetente – stoßen aber rasch an ihre Grenzen, wenn Einrichtungen sich nicht als Ganze auf den Weg begeben, eine kultursensible und damit nutzerorientierte Betriebs- und Servicekultur zu entwickeln. Institutionen der psychosozialen Versorgung werden daher nicht umhinkommen, eigene Profile für die Versorgung von jungen Menschen mit einem fremden kulturellen Hintergrund und heterogener Fluchtgeschichte herauszubilden. Hierfür benötigen Einrichtungen nachhaltige Entwicklungen interkultureller Kompetenzen sowohl auf der Ebene der Fachlichkeit der Mitarbeiter als auch auf der institutionellen Ebene, hier insbesondere bei organisatorischen und Managementfragestellungen.
In diesem Beitrag wird dazu in einer Übersicht dargestellt, wie eine solche Entwicklung gefördert werden kann, und es werden die wichtigsten Prozessschritte beschrieben.
Leitideen
Entwicklungsprogramme zur interkulturellen Kompetenz sind dann am erfolgreichsten, wenn sie den folgenden Kriterien gerecht werden:
• Die Verantwortlichkeit zu interkultureller Kompetenzentwicklung und Öffnung liegt beim Management und kann nur in Kooperation mit ihm gelingen.
• Je intensiver eine Institution interkulturelle Kompetenzentwicklung zu einem eigenen Qualitätsmerkmal macht, umso größer ist die Nachhaltigkeit.
• Je stärker eine Institution Migranten als Beschäftigte und als Kooperationspartner einbindet, umso kostengünstiger und nachhaltiger ist die Entwicklung.
• Je sorgfältiger die Interessen und Anliegen sowohl des Managements wie auch der Mitarbeiter bei Maßnahmen zur interkulturellen Organisationsentwicklung aufeinander abgestimmt werden, umso kostengünstiger fallen Maßnahmen und Schulung aus.
• Je besser sich Einrichtungen in dieser Frage vernetzen, umso höher ist der Lerneffekt.
Feedbackveranstaltungen in jährlichem Abstand erhöhen die Nachhaltigkeit durch kontinuierliche Anpassungsprozesse.
Lohnend ist es dabei, sich – guter systemisch-lösungsorientierter Tradition folgend – an den Einrichtungen zu orientieren, die eine gute Entwicklung bereits gemeistert haben. Orientierend und wegweisend diesbezüglich ist eine Untersuchung des schweizerischen Bundesamtes für Gesundheit. Es hat das Schweizerische Forum für Migrations- und Bevölkerungsstudien beauftragt, am Beispiel der Suchthilfe herauszufinden, was die Akteure von Einrichtungen, die einen Prozess der interkulturellen Öffnung durchlaufen hatten, rückwirkend als die wichtigsten Schritte zur Entwicklung eines interkulturell kompetenten Services beschrieben haben (Dahinden et al. 2005). Zusammenfassend wird festgestellt:
• Der Prozess zur Entwicklung eines kultursensiblen Servicedienstes hat einen Anfang, der eine Entscheidung der Leitungsebene einer Institution voraussetzt.
• Er sollte kontinuierlich erfolgen und ist daher auch nicht irgendwann abgeschlossen.
• Er bedarf eines Controllings, damit die Fortentwicklung, die auftretenden Hindernisse und die notwendigen Anpassungsprozesse kontinuierlich verfolgt werden können!
• Er folgt daher in seiner Umsetzung den Kriterien guten Qualitätsmanagements.
Demnach müssen bei der Implementierung einer kultursensiblen Servicekultur folgende Kriterien beachtet werden.
Längerfristige Ziele: Sie geben die Richtung vor, in die die Entwicklung gehen soll. Sie drücken den politischen Willen der Institution, der Kostenträger und der politisch Verantwortlichen aus, nachhaltig und verbindlich soziokulturelle und strukturelle Barrieren schrittweise zu vermindern und durch einen verbesserten Service die Handlungskompetenz der Klienten mit Migrationshintergrund zu verbessern.
Mittelfristige Ziele: Sie legen die anzugehenden Aufgaben fest und die wichtigsten Felder für Veränderungsprozesse. Vier Handlungsfelder verdienen bei der Entwicklung kultursensibler Servicedienste besondere Aufmerksamkeit:
• Migrations- und kultursensible Organisationsentwicklung, damit die Abläufe der Institution neuen Anforderungen angepasst werden können
• Migrations- und minderheitenspezifische Angebote zur Kundenorientierung
• Vernetzung und Rückkopplung mit den Communitys der Migranten und ihrer Repräsentanten ebenso wie eine Vernetzung mit den Angeboten für Jugendliche der Mehrheitsgesellschaft
• Migrations- und minoritätenspezifische Personalentwicklung, damit die Mitarbeiter angemessen qualifiziert werden können.
Operationale Ziele: Sie legen für diese Felder konkrete und überprüfbare Ziele fest. Beispiele finden sich dazu in Tabelle 1.
Ressourcen: Zeiten, aber auch finanzielle und personelle Ausstattung – Sie bestimmen das Tempo der Entwicklung.
Die längerfristigen Ziele sind durch die Führungsverantwortlichen festzulegen. Da sie die Richtung der Entwicklung bestimmen und festlegen, welches Profil die Einrichtung pflegen will, können auch nur sie entscheiden, ob eine Einrichtung ihr Profil in diese Richtung entwickeln will und soll. Dies gilt genauso für alle Substrukturen. Auch wenn eine Einrichtung, ein Krankenhaus oder ein Verband für sich (noch!) keine interkulturelle Entwicklungsperspektive festgelegt hat, haben Gruppen, Stationen, Beratungsstellen oder andere Untereinheiten durchaus die Möglichkeit dazu – selbst wenn zugegeben werden muss, dass dies schwerer ist, als wenn dazu von der Leitung eine Unterstützung kommt.
Hier soll eher auf die mittelfristigen Ziele und ihre Operationalisierung eingegangen werden. Tabelle 1 listet die oben genannten vier relevanten Felder detailliert auf.
Organisationsentwicklung | Serviceangebote |
• Einsetzung einer Fachgruppe Migration • Entwicklung und Anpassung von Jahreszielen und Strategieplänen • regelmäßige Überarbeitung des Leitbildes und der Einrichtungskonzeptionen • Entwicklung einer migrationsspezifischen Dokumentation mit Sammlung relevanter Papiere und Literatur • Einführung eines migrationsspezifischen Controllings • Know-how-Transfer • Anpassung der Stellenprofile • Einsetzung einer Steuerungsgruppe | • Einführung eines Dolmetscher- und Übersetzungskonzepts • fremdsprachige Erstgespräche und Beratungsangebote • strukturierte und transparente Behandlungspläne • Entwicklung kultur- und migrationssensibler Gruppenangebote • routinemäßige Migrationsanamnese • Übersetzung der Informationsmaterialien und wichtigsten Mitteilungen • kultursensible Raumeinrichtung und Speisepläne • Schaffung transparenter Beschwerdemöglichkeiten bzw. Ombudsstellen |
Communitys und andere Anbieter | Personalentwicklung |
• aufsuchende Kontaktpflege und Kooperationen mit Schlüsselpersonen der Communitys • Förderung von Netzwerken • Angebot von Informationsveranstaltungen • Förderung von Selbsthilfegruppen • Förderung des Austausches mit anderen Institutionen • aufsuchende Netzwerkarbeit mit anderen Anbietern • Gremienarbeit | • Fort- und Weiterbildung zu relevanten Themen offerieren • auf Migrationsarbeit ausgerichtete Intervision und Supervision ermöglichen • die Förderung interkultureller Fachlichkeit als Leitungsaufgabe definieren • regelmäßiges Review der Anwendung der neuen Methoden und Konzepte durch die Mitarbeiter • regelmäßige Überarbeitung der Stellenprofile und -ausschreibungen |
Tab. 1: Entwicklungsfelder einer kultursensiblen Servicekultur psychosozialer Dienste
Migrations- und kultursensible Organisationsentwicklung
Grundlage guter interkultureller Entwicklung in Institutionen ist die Übernahme der Prozessverantwortung durch das Management!
In den Ländern, in denen der Staat aus einem multikulturellen Staatsverständnis heraus gesetzlich eine Politik des Diversity Management einfordert, ist durchweg das Management stärker gefordert, sich um die Entwicklung eines kultursensiblen Services zu kümmern. Großbritannien, Kanada, die USA oder Schweden wären Beispiele. Aber auch hier ist es, wie in den meisten Ländern, zu einer Polarisierung gekommen. In Teilen der Gesellschaft ist eine sehr große Akzeptanz für kulturelle Vielfalt zu beobachten, bei anderen Teilen eine immer drastischere Ablehnung.
Aus den aktuellen Notwendigkeiten heraus haben eine Vielzahl von Institutionen und Verbänden Richtlinien, die Vielfalt und Antidiskriminierung betreffen, verabschiedet. Zunehmend wird nicht nur die »Herkunftskultur« einbezogen, sondern intersektionale Facetten des menschlichen Daseins wie Geschlecht, sexuelle Orientierung, Religion, Körper etc., die vielfach von Diskriminierung betroffen sind. Leitung kommt hier, wie bei allen Steuerungsaufgaben, eine besondere Verantwortung zu.
Steuerung der Umsetzungsprozesse und ein dazu notwendiges Controlling auf der einen Seite sowie die Förderung der notwendigen Fachlichkeit auf der anderen Seite sind die zentralen Aufgaben (siehe auch Tab. 1). In größeren Organisationen bewährt es sich, diese Aufgaben zu trennen. Einzelne Personen übernehmen die Steuerung und sollten in Leitungsverantwortlichkeiten eingebunden sein; andere übernehmen die Förderung der interkulturellen Fachlichkeit und können als Stabsstelle fungieren. In kleineren Einrichtungen können beide Aufgaben auch von der gleichen Gruppe übernommen werden.
Eine Fachgruppe bietet sich den Mitarbeitern als Ansprech- und Kontaktpartner an und sammelt das relevante Wissen der Institution. Hierzu gehören Fachwissen wie Literatur, einschlägige Gesetze, wichtige Adressen, Förderprogramme etc. Es gehört aber noch mehr dazu: Beziehungswissen in Bezug auf relevante Akteure der Region; kooperative Unterstützer auf der Ebene der Regierung, Verwaltung und Wirtschaft; Kontakte zu und Wissen über Migranten-Communitys; gute Trainer und Weiterbildner; vorbildliche Einrichtungen, die gute Modelle entwickelt haben.
Gerade in Teams, die in ihrer praktischen Tätigkeit mit komplexen Themen zu tun haben, bietet es sich an, Mitarbeiter des Teams offiziell als Ansprechpartner (Focal Points) zu bestimmten dieser Themen zu benennen. Außer der durch den Arbeitgeber geförderten Gewinnung bestimmten Wissens obliegt es ihnen, Kontakte zu knüpfen, auf die im Bedarfsfall zurückgegriffen werden kann. Bei der Arbeit mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen im Rahmen der Jugendhilfe wären mögliche Themenfelder sexualisierte Gewalt, Genitalverstümmelung, »Kindersoldaten«, Kinderrechte, spezifische Herkunftsländerexpertise etc.
Ein nicht zu unterschätzendes Instrumentarium der Entwicklung interkultureller Kompetenz ist eine kultursensible Personalpolitik. Keine andere Maßnahme ist so effektiv und gleichzeitig so ökonomisch wie die Einstellung von Professionellen, die selber aus Migrantengruppen stammen und eine eigene Fluchterfahrung haben. Vor allem auf indirektem Wege – durch informellen Austausch und Erzählungen von persönlichen Erfahrungen – vermitteln sie unersetzbares Wissen.
Alle diese Maßnahmen werden nur dann die erforderliche Verbindlichkeit erhalten, wenn das notwendige Controlling erfolgt. Wie bei jeder guten Qualitätsentwicklung geht es hier weniger darum, mit möglichst brillanten Antworten zu glänzen, sondern vielmehr darum, seine eigene Einrichtung realistisch zu betrachten und in einer kontinuierlichen Entwicklung zu halten. Trainin...