Lesereise Westirland
eBook - ePub

Lesereise Westirland

Halbzeit auf dem Weg zur Ewigkeit

  1. 132 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
eBook - ePub

Lesereise Westirland

Halbzeit auf dem Weg zur Ewigkeit

Angaben zum Buch
Buchvorschau
Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

Wo die Einsamkeit groß und das Donnern des Atlantiks nah ist, wo es mehr Feen als Bäume gibt und noch immer kehliges Keltisch gesprochen wird, dort schlägt das wilde Herz des irischen Westens. Unterwegs auf dem Wild Atlantic Way, einer der längsten Küstenstraßen der Welt, ist Nicole Quint dem Versprechen von Weltferne und lebendigen Traditionen gefolgt. Gefunden hat sie John Lennons irische Insel, den schweigsamsten Walsichter der Welt, ein Friedhofskamel und Antworten auf viele Fragen, die sie sich gar nicht gestellt hatte. Jetzt aber weiß sie, wie man für einen matrosentauglichen Magen trainiert und weshalb es sich lohnt, dem irischen Hang zur Nostalgie auf den Grund des Guinnessglases zu gehen.

Häufig gestellte Fragen

Gehe einfach zum Kontobereich in den Einstellungen und klicke auf „Abo kündigen“ – ganz einfach. Nachdem du gekündigt hast, bleibt deine Mitgliedschaft für den verbleibenden Abozeitraum, den du bereits bezahlt hast, aktiv. Mehr Informationen hier.
Derzeit stehen all unsere auf Mobilgeräte reagierenden ePub-Bücher zum Download über die App zur Verfügung. Die meisten unserer PDFs stehen ebenfalls zum Download bereit; wir arbeiten daran, auch die übrigen PDFs zum Download anzubieten, bei denen dies aktuell noch nicht möglich ist. Weitere Informationen hier.
Mit beiden Aboplänen erhältst du vollen Zugang zur Bibliothek und allen Funktionen von Perlego. Die einzigen Unterschiede bestehen im Preis und dem Abozeitraum: Mit dem Jahresabo sparst du auf 12 Monate gerechnet im Vergleich zum Monatsabo rund 30 %.
Wir sind ein Online-Abodienst für Lehrbücher, bei dem du für weniger als den Preis eines einzelnen Buches pro Monat Zugang zu einer ganzen Online-Bibliothek erhältst. Mit über 1 Million Büchern zu über 1.000 verschiedenen Themen haben wir bestimmt alles, was du brauchst! Weitere Informationen hier.
Achte auf das Symbol zum Vorlesen in deinem nächsten Buch, um zu sehen, ob du es dir auch anhören kannst. Bei diesem Tool wird dir Text laut vorgelesen, wobei der Text beim Vorlesen auch grafisch hervorgehoben wird. Du kannst das Vorlesen jederzeit anhalten, beschleunigen und verlangsamen. Weitere Informationen hier.
Ja, du hast Zugang zu Lesereise Westirland von Nicole Quint im PDF- und/oder ePub-Format sowie zu anderen beliebten Büchern aus Personal Development & Travel. Aus unserem Katalog stehen dir über 1 Million Bücher zur Verfügung.

Information

Jahr
2020
ISBN
9783711754226

IM WESTEN

Halbzeit auf dem Weg zur Ewigkeit

Kuhweidenkloster und Kunstfehler

Es heißt ja, Irland sei voll von spirituellen Orten, die man nur finden müsse. Davon, dass man Reisenden die Suche extra schwer macht, ist hingegen nie die Rede, aber eine der schönsten Klosterruinen des ganzen Landes entdeckt man nur mit sehr viel Glück. Zuerst darf man auf der kleinen Straße zwischen Killala und Ballina im County Mayo das Hinweisschild »Moyne Friary« nicht übersehen und sich dann auch nicht davon irritieren lassen, dass der Wegweiser einen schnurstracks zu einem Bauernhof führt. Ab da ist der Weg zum Ziel nur noch fünfhundert Meter weit. Eine fünfhundert Meter lange Mutprobe. »Beware of the bull«, hat der freundliche Farmer vorsichtshalber an seinen Zaun geschrieben. Leider ist kein Baum da, auf den ich klettern, keine Hecke, hinter der ich mich verstecken könnte, nur ein weicher, nasser Boden, in dem meine Schuhe tief und leise glucksend einsinken. Ein plötzlich nötiger Sprint ließe sich auf diesem Untergrund nicht hinlegen. Heute aber gehen keine hitzigen Bullen auf Touristenjagd. Eine friedlich grasende Herde Mutterkühe mit Kälbchen hat die Klosterwacht übernommen.
Schon beim Erreichen des Eingangs erfüllt mich das Gefühl, etwas Besonderes zu tun, und mit dem nächsten Schritt hinein ins Kirchenschiff ist es, als wäre ich geradewegs durch ein Tor der Zeit getreten und im Jahr 1590 gelandet. Damals war das Kloster völlig niedergebrannt. Auch heute fehlen die Dächer, sonst aber ist alles noch da – Kirche, Kreuzgang, Sakristei und Küche, und auch die Nische, in der zu den Mahlzeiten ein Vorleser stand, kann man in der Ostwand des Refektoriums noch erkennen. Durch die Fensterhöhlen blitzt das Blau des Himmels und spielt Kontrast mit dem Schwarzgrau verwitterter Mauern. Den Arkadenbögen rund um den Klostergarten ist ein Moosfell gewachsen, von dem ein geisterhaft grellgrüner Schimmer ausgeht, und der Klosterturm wirft trotz abgebrochener Spitze einen langen Schatten auf Generationen uralter Grabplatten, denen der Frost tiefe Risse in den Stein gesprengt hat. Über Treppen gelange ich in das Obergeschoss, in dem sich die Schlafräume der Mönche befanden. Von hier reicht der Blick weit in die Killala Bay, zur Mündung des Flusses Moy und der Bergkette der Ox Mountains.
An rud a lionas an tsuil lionann sé an croi – »Was das Auge füllt, erfüllt das Herz«, lautet eine gälische Redensart, und mit jedem weiteren Blick auf spätgotische Fenster, auf Kapitelle, Säulenstümpfe und Graffitis, die von den ersten Mönchen im 15. Jahrhundert in den Stein geritzt wurden, dringt die Mystik des Mittelalters in mich ein. Aber nicht allein die Schönheit der Ruine, nicht ihre Besinnlichkeit macht den Zauber der Vergangenheit aus. Die Magie dieses Ortes besteht darin, dass hier einmal Menschen lebten und es einem überhaupt nicht schwerfällt, sich dieses Leben vorzustellen. Als hätten die Klostermauern alles gespeichert, was in ihnen gedacht, geträumt und gesagt wurde. Als hätten die Mönche ihre Erinnerungen zwischen diesen steinernen Kulissen zurückgelassen. Hier priesen sie Gott, verfluchten das irische Wetter, fischten Lachse im Moy River oder gingen auf der nahen Insel Bartragh auf Kaninchenjagd. Zur Hochzeit des 1462 erbauten Klosters lebte hier eine Gemeinschaft von rund fünfzig Priestern, Professoren, Studenten und Laienbrüdern. Es gab eine wertvolle Bibliothek, eine Krankenstation, hervorragende Weidegründe, eine Wassermühle, Fischteiche, Obst-und Gemüsegärten, und der Wein kam als Fracht spanischer Handelsflotten direkt bis in den nahen Hafen von Killala. »Leben wie Gott in Irland« könnte die Devise der Mönche damals gelautet haben.
Sich an diese Menschen zu erinnern, heißt, sie Gegenwart werden zu lassen. Physisch im Jetzt, psychisch im Gestern – das gelingt in der Moyne Abbey besonders gut, weil man sich den Ort fast nie mit anderen Reisenden teilen muss, die das Kloster mit moderner Gegenwart infizieren würden. In Deutschland hätte man längst die Kühe verscheucht, einen Zaun um die Anlage gezogen, ein Besucherzentrum samt Souvenirshop und einem Kinosaal errichtet, in dem stündlich Filme zur Klostergeschichte vorgeführt würden. In Mayo kann sich eine der imposantesten Klosterruinen Irlands auf einer Kuhweide verstecken, weil die Grafschaft im Nordwesten keine Massen anlockt. Mayo, durch Moore und Bergketten vom Rest des Landes abgeschieden, war schon immer die am wenigsten besuchte Gegend Irlands und gilt vielen Urlaubern als unbereisbar. Zu viel stinkendes Moor, zu wenig Sonnenschein, keine Museen, Boutiquen und Cafés, eine Gegend ohne Robinson Club eben. In Mayo gibt es nur Wiesen, Himmel und Meer – eine touristische Sackgasse. Sogar Ortsnamen riechen hier nach Schaf, Guinness und Einöde: Shrule, Brackloon und Carrowteige. Eine imposante Ruine kann da mit ihren scharfen Silhouetten auf die Leere der Landschaft enorm belebend wirken und gleichzeitig Stoff für Sagen und Legenden liefern. In Killalas »Wolfdog Tavern« überbieten sich die Gäste jedenfalls mit Geschichten vom Moyne-Kloster. Von spukenden Mönchen, die ihre Seele dem Teufel verkauft haben, wird erzählt, von Intrigen und verbotenen Lieben und vom Dorfjungen Peter Cumming. Um eine Wette zu gewinnen, musste Peter nachts Gebeine aus dem Kloster holen, erwischte aber ausgerechnet den Schädel des eigenen Großvaters. Der erwachte prompt aus seiner Totenruhe und hielt dem Enkel eine kräftige Standpauke. Großartige Geschichten sind zeitlos, großartige Bauwerke leider nicht. Ihnen droht das Vergehen und uns das Verschwinden einer alten Welt. Die Vergangenheit als Ziel einer Reise nach Mayo ist aber noch lange nicht verloren. Diese Gewissheit verdanke ich Jorge Luis Borges. Der Schriftsteller hatte geraten, sich die Ewigkeit als einen Engel vorzustellen, der mit seinen Flügeln über einen Marmorbrocken streicht – so lange, bis dieser vollkommen verschwunden ist. Über die Mauern der Moyne Abbey streichen Wind und Wetter seit über fünfhundert Jahren. Ein halbes Jahrhundert ist nicht viel für so ein altes Land und nur ein Wimpernschlag in der Erdgeschichte. Auch der markante Brandungsfelsen Dún Briste, der sich rund zwanzig Autominuten von Moyne Abbey entfernt vor der Küste aufbaut, hat auf dem Weg zur Ewigkeit noch nicht einmal die Halbzeit erreicht. Dabei trägt er die Handschrift von Jahrmillionen. Wie ein Stück aus einer geologischen Schichttorte lassen sich seine verschiedenfarbigen Lagen aus Schiefer, Kalk- und Sandstein erkennen, jenem Baumaterial, aus dem die gesamte Felsformation dieser Küste vor etwa dreihundertfünfzig Millionen Jahren geformt wurde.
Daran, dass Dún Briste aus der Gesteinsfamilie ausbrach und zum Einzelgängerfelsen wurde, soll der heidnische Anführer eines örtlichen Clans schuld gewesen sein. Mit seiner vehementen Weigerung, zum Christentum zu konvertieren, hatte er den heiligen und in Glaubensfragen kompromisslosen Patrick so stark provoziert, dass dieser seinen Predigerstab in den Boden rammte und ein Stück Felsmasse abspaltete – natürlich genau das mit dem sturen Stammesführer darauf.
Die Festlandseite erhielt den Namen Downpatrick Head. Dún Briste – »zerstörtes Fort« – taufte man das Bruchstück, das mit fast fünfzig Metern Höhe ungeheuer dekorativ in der Ozeankulisse steht, und deshalb vom irischen Fremdenverkehrsamt zu einem der besonders sehenswerten Signature Points des Wild Atlantic Way erklärt wurde. Zum Downpatrick Head findet man daher auch erheblich leichter als zur Moyne Abbey, doch das von einem dichten Graspelz überzogene Gelände ist so groß, dass Touristen sich weit darüber verteilen können. Vorsichtig nähern sie sich dem Klippenrand und halten Ausschau nach den Seevögeln, die dort in Gesteinsmulden nisten. So wie beim Schütteln einer Schneekugel weiße Partikel aufgewirbelt werden und sich langsam wieder setzen, werden auch die Küstenfelsen immer wieder eingeschneit, wenn Bewegung in die Vogelkolonien kommt. Dann kreist minutenlang eine weiße Wolke aus Möwen und Sturmtauchern umher. Der durchdringende Hall ihrer hundertfachen Schreie mischt sich mit dem übrigen Küstengetöse: Knistern, Rauschen, Grollen und Schäumen, und was da so aus der Tiefe eines Loches gurgelt, gibt Hinweise auf die wahre Entstehungsgeschichte von Dún Briste: Tatsächlich hatte sich die atlantische Brandung so lange in das Gestein gegraben und die entstandenen Höhlen und Tunnel unterspült, bis die darüberliegenden Flächen Ende des 14. Jahrhunderts eingestürzt sind. Im Zugangsbereich von Downpatrick Head warnen Schilder vor solchen tückischen Brandungslöchern, und um einen besonders großen Abgrund wurde ein ringförmiger Hügel samt Metallzaun errichtet. Eine schnöde Sicherheitsmaßnahme? Nein, das ist Kunst. Die enorme Installation mit dem Titel »The Crossing« ist Teil eines Projekts, das der US-Architekt Travis Price initiiert und mit einigen Studenten realisiert hat.
Als man Anfang der neunziger Jahre damit begann, erste Skulpturen in Mayos Landschaft zu stellen, geschah das in der Absicht, Menschen in diese abgelegene Gegend zu locken. Die Attraktivität einer bühnenbildhaft schönen Landschaft durch Kunst steigern zu wollen, war aber auch damals schon so sinnvoll, als würde man die Wirkung des Küstenwetters durch den Einsatz von Wind- und Nebelmaschinen verstärken. Inzwischen sind zahlreiche weitere Werke hinzugekommen – gemauerte Fenster, die den Blick auf den Ozean rahmen, an Bushaltestellenhäuschen erinnernde Schreine und Metallflächen, die von einem Flugzeugwrack stammen könnten. In Mayos Natur bleiben die Objekte aus geschliffenem Stein, Eisen und Glas nur traurige Fremdkörper, obwohl sie doch alle Bezug auf irische Traditionen, Geschichten und Mythen nehmen. Welche das genau sein sollen, müssen jedoch die nebenstehenden Tafeln erklären. Auch gut gemeinte Kreativität kann eine Landschaft kontaminieren.
Unterschätze ich etwa die Sogwirkung moderner Kunst? Wären die Menschen ohne »The Crossing« vielleicht gar nicht nach Downpatrick Head gefahren? In der Gruppe der Amerikaner, die ich frage, ob ihnen die Installation gefällt, lachen mich alle aus. »Dieser Maulwurfshügel mit Notausgang soll Kunst sein?«, lautet ihre Gegenfrage. Sie hätten vielleicht nicht mehr gelacht, wenn ich ihnen die Kosten des Maulwurfshügels genannt hätte: sechshundertvierzigtausend Euro. In der Kollektion der Argumente wiegt der Vorwurf der Geldverschwendung allerdings nicht so schwer wie die Kritik, Natur zu verschandeln. Wir sind von zu vielen Städten, von zu viel Künstlichkeit umzingelt, sehnen uns nach Ursprünglichkeit und Weite, und dann plumpsen mitten in die schönste Choreografie aus Farbe, Licht und schroffen Formen allerlei Absonderlichkeiten von Kunst und Architektur.
Die Klippen von Downpatrick Head muss man nicht neu designen, nicht schmücken oder aufwerten und keinen wie auch immer gearteten Gebrauch von ihnen machen. Es genügt, einfach nur da zu sein. Die Felsen sind Millionen Jahre alt, aber geschaffen für die Gegenwart. Unter einem sich ständig wandelnden Himmel stehen und erleben, was die äußere mit der inneren Landschaft macht. Nach einigen Minuten ist der Ärger über den Maulwurfshügel verweht, und zu meiner Freude beobachte ich eine Asiatin dabei, wie sie ihren Selfiestick samt Smartphone neben sich ins Gras legt und versonnen auf die ungeheure Bläue der rauen See blickt. Die Sonne schmuggelt ein paar Strahlen zwischen dicke Wolkenbäuche hindurch. Möwen rudern mit den Flügeln im Wind, und ich bin an der Wurzel des Wohlbefindens angekommen. Würden Landschaften wie Hotels und Restaurants mit Sternen ausgezeichnet, Downpatrick Head hätte mindestens acht verdient.

Stilles Örtchen

Beste Chancen auf Weltferne

Schmatzend versinken die Schuhe in triefnassen Moorwiesen. Braunschwarze Sprenkel bleiben nach jedem Schritt auf den Hosenbeinen zurück. Aufgescheuchte Vögel flattern davon. Nur eine Feldlerche verharrt im Standflug über meinem Kopf und bringt mir ein Ständchen. Kein Baum, kein Strauch, keine anderen Menschen, und nachdem die Lerche zu singen aufgehört hat auch keine Geräusche mehr. Alles Möwengeschrei verliert sich unhörbar in den Tiefen der Steilklippen, und selbst dem Atlantik hat ein windstiller Sommertag den Ton abgedreht. Erris Head heißt dieser Ort, hoch im Norden der Mullet-Halbinsel im County Mayo. Die einsamste und vielleicht auch stillste Ecke Irlands ist für viele Städter nur schwer zu ertragen, denn hier regieren Meer und Wetter, nicht Internet und Smartphone, und hier lässt man den Menschen auch noch allein mit der Natur. Weder Outdoor-Abenteurer noch ambitionierte Nordic-Walking-Truppen oder Luftbild-Fetischisten, die mit dem penetranten Surren ihrer Kamera-Drohnen der Stille Gewalt antun, nehmen den Weg durch einsame Moor- und Heidelandschaften auf sich.
Gemäß eines Berichts der Europäischen Umweltagentur gelten gerade einmal achtzehn Prozent der Flächen Europas noch als ruhig, Erris Head aber ist der Gipfel der Ruhe und Einsamkeit. Eine häuser-, straßen- und strommastfreie Oase. Nur mit einigen Schwarzkopfschafen, die ringsherum wie Flusen auf einem Teppich liegen, muss man sich das Panorama des Ozeans teilen. In der Ferne bohrt eine markant gezackte Inselgruppe ihre Felsspitzen in einen tiefer gelegten Himmel. Die Stags of Broadhaven sind nur ein Teil der faszinierenden Geologie von Nord-Mayo. Die Gesteinsformationen entlang dieser Küstenlinie sind vor rund einer Milliarde Jahren entstanden und gehören zu den ältesten in Irland. Hoffentlich geben sich die »Star Wars«-Produzenten mit der im Südosten Irlands gelegenen Insel Skellig Michael als Drehort zufrieden und verschonen die Stags of Broadhaven, die je nach Perspektive mal an das Opernhaus in Sydney, mal an ein prähistorisches Seemonster erinnern. Die anderen Zacken, die sich gelegentlich in der Broadhaven-Bucht erspähen lassen, sind die öligen grauschwarzen Rückenflossen der Riesenhaie. Lang wie ein Bus, mit einer Leber im Format eines Mittelklassewagens und einem Gehirn kleiner als ein Apfel, aber mit einem Maul, das einen Menschen am Stück verschlingen könnte – dergestalt jagte der zweitgrößte Fisch der Erde irischen Fischern einst gewaltige Angst ein, bis sich herausstellte, dass er sich ausschließlich von Plankton ernährt und absolut harmlos ist. Seitdem gibt es das Sprichwort As tranquil as a basking shark – »So ruhig wie ein Riesenhai«, das die gelassene und gutmütige Natur des Giganten beschreibt. Mayos Lokalzeitungen berichten von Begegnungen zwischen Tauchern und Riesenhaien, und wenn der Rundfunksender RTÉ nach den Verkehrsnachrichten eine Hai-Sichtung vermeldet, macht sich auf den Weg, wer kann. Menschenmassen kommen an Mayos Küste dann trotzdem nicht zusammen. Mayo, durch Moore und Bergketten vom Rest Irlands abgeschieden, ist eine der am dünnsten besiedelten Regionen Irlands. Dreiundzwanzig Einwohner pro Quadratkilometer stehen in Deutschland vergleichsweise zweihundertzweiunddreißig Einwohnern pro Quadratkilometer gegenüber. Mayos Abgeschiedenheit verdankt Belmullet das Überleben seiner Kleinstadtatmosphäre. Paula Murphys Blumenlädchen, die Bäckerei »An Builín Blasta«, Reillys Eisenwarenhandlung und die Metzgerei der Sheridan-Brüder – alles alteingesessene Familienbetriebe, die das knapp tausend Einwohner zählende Städtchen zum Einkaufszentrum der Mullet-Halbinsel machen. Brautkleider bekommt man in Belmullet nicht, sonst aber ist alles zu haben, von Toilettendeckeln über Torfbriketts, hausgemachtem soda bread und glücklich gelegten Eiern bis zu den sonnengetrockneten Algenchips aus Mary Conroys Gemüseladen, und gratis obendrauf gibt es noch ein Gespür für den Gemeinschaftssinn, den sich die Menschen Belmullets bewahrt haben. Abends im »McDonnell’s Pub« diskutieren sie über das letzte Spiel von Mayos Gaelic Footballmannschaft, über die Politik des irischen Premierministers und den Schafzüchter aus Westport, der den Wettbewerb zum »Farmer des Jahres« gewonnen hat. Jeden Fremden, der nicht bloß auf der Durchreise ist, versorgen sie hier mit Tipps zu allem, was sie für sehenswert halten, zum Beispiel der Kirche der Lokalheiligen Deirbhile, die hier im 6. Jahrhundert lebte. Dreimal muss ich mich durch das enge Fenster des verfallenen Gotteshauses winden, um fortan vor dem Schicksal des Ertrinkens gefeit zu sein.
Auch den Weg zum Blacksod Lighthouse an der Südspitze Mullets schlagen oft nur Reisende ein, denen Einheimische vorher von der Bedeutung des...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Über den Autor
  3. Titel
  4. Impressum
  5. Inhalt
  6. Wilder Weg
  7. IM NORDWESTEN
  8. IM WESTEN
  9. IM SÜDWESTEN