Lesereise Israel
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Party, Zwist und Klagemauer

  1. 132 Seiten
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Lesereise Israel

Party, Zwist und Klagemauer

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Über dieses Buch

Israel, die Wiege der drei monotheistischen Religionen, ist nicht bloß einer der unruhigsten Orte der Welt, sondern auch ein lebendiger, jugendlicher Mikrokosmos, in dem Moderne und Tradition, Abendland und Morgenland mit- und nebeneinander bestehen. Ein arabischer Siedler, humorvolle ultraorthodoxe Juden und ein israelischer Elitesoldat, der für einen Palästinenserstaat demonstriert, sind einige der Beispiele dafür, wie Gil Yaron mit verbreiteten Stereotypen über Israel aufräumt. Stein für Stein legt der Autor ein facettenreiches, farbenfrohes Mosaik dieser vielschichtigen Gesellschaft.

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Information

Jahr
2020
ISBN
9783711754240

Wie der Holocaust nach Israel kam

Der Holocaust ist ein entscheidender Bestandteil der israelischen Psyche. Das war nicht immer so

Beruhigend tickt die große Standuhr im Hintergrund und passt so gar nicht zu der Geschwindigkeit, in der dieser agile dreiundachtzig Jahre alte Mann sein ereignisreiches Leben Revue passieren lässt. »Es ist vielleicht nur eine Nebensache«, sagt Gabriel Bach. »Aber jedes Mal, wenn ich ein Kind in einem roten Mantel sehe, bekomme ich Herzklopfen. Dieser Anblick erinnert mich mehr an den Prozess als alles andere.« Selbst bei jemandem, der so abgebrüht und erfahren ist wie Gabriel Bach, hinterlässt es schmerzvolle Narben, einen der größten Mörder des 20. Jahrhunderts anzuklagen. Das Aktenzeichen 40/61 mag harmlos klingen. Hinter diesen Ziffern versteckt sich jedoch einer der wichtigsten Prozesse in Israels Staatsgeschichte. Kein anderes Gerichtsverfahren prägte die israelische Gesellschaft so nachhaltig wie der Prozess gegen SS-Obersturmbannführer Otto Adolf Eichmann, der als Leiter des Referats IV D4 im Reichssicherheitshauptamt maßgeblich für die Deportation und Ermordung von Millionen Juden verantwortlich war. Bach hat als Staatsanwalt und später als Richter am Höchsten Gerichtshof an mehreren spektakulären Prozessen mitgewirkt. Kein Ereignis prägte sein Leben jedoch so wie die Monate, in denen er als stellvertretender Chefankläger im Eichmann-Prozess fungierte.
Als israelische Geheimdienstagenten den Obersturmbannführer 1960 in Buenos Aires aufgriffen und nach Jerusalem vor Gericht brachten, begann für Bach und den ganzen Staat Israel ein neues Kapitel. Am 11. Mai 1960 versetzte Israels Premier David Ben-Gurion das Land in Aufregung. In trockenen Worten verkündete er vor der Knesset, dass »unsere Sicherheitsdienste vor kurzer Zeit einen der berüchtigtsten Naziverbrecher, Adolf Eichmann, gefasst haben. Er war gemeinsam mit der Führung der Nazis für das verantwortlich, was sie als ›die Endlösung der Judenfrage‹ bezeichneten – in anderen Worten, die Vernichtung von sechs Millionen europäischen Juden. Adolf Eichmann ist bereits in unserem Land in Haft, und wird […] hier in Israel vor Gericht gestellt werden.« – »Es war, als hätte Ben-Gurion uns einen Stromschlag versetzt«, erinnert sich Bach.
Zwei Tage später erhielt er den bereits erwarteten Anruf vom Justizminister, der ihn bat, im Prozess eine besondere Rolle zu spielen, nicht zuletzt wegen seiner perfekten Deutschkenntnisse. »Ich sollte die Beratung der Polizeieinheit 06 übernehmen, die die Anklageschrift gegen Eichmann vorbereitete.« Bach war kurze Zeit zuvor im Alter von dreiunddreißig Jahren zum stellvertretenden Generalstaatsanwalt ernannt worden. Wie viele seiner Mitbürger war auch Bach ursprünglich ein Flüchtling aus dem »Dritten Reich«. »Eine Reihe von glücklichen Zufällen hat dafür gesorgt, dass ich noch lebe«, sagt Bach. Seine Familie entschloss sich erst 1938 zur Flucht aus Berlin, zwei Wochen vor der Reichspogromnacht, nach der die Flucht aus Deutschland unmöglich wurde. Fast wäre die Flucht gescheitert: »An der holländischen Grenze hielt ein SS-Offizier uns an und befahl uns, aus dem Zug zu steigen. Er durchsuchte unsere Koffer und ließ uns erst gehen, als der Zug bereits zu fahren begann.« Zu seinem »Glück«, so erinnert sich Bach heute mit einem leichten Schmunzeln, trat ihm der SS-Mann in den Hintern und half ihm so auf den Waggon. Ein markanter Abschied für jemanden, der später einmal das Bundesverdienstkreuz erhalten sollte. Nur einen Monat vor dem Einmarsch Deutschlands in Holland reiste seine Familie nach Palästina aus. »Es war die letzte Fahrt der ›Patria‹ – auf der nächsten Überfahrt wurde das Schiff versenkt«, sagt Bach.
Nachdem er die Beratung der Einheit 06 übernommen hatte, lebte Bach neun Monate neben der Zelle, in der der Nazischerge untergebracht war: »Sie hatten das ganze Gefängnis geräumt. Ich war Eichmanns einzige Verbindung zur Außenwelt.« Bach erinnert sich noch genau an sein erstes Treffen mit Eichmann. Er lehnt sich in dem gemütlichen Ohrensessel zurück und erzählt: »Ich las gerade die Autobiografie von Rudolf Höß, dem Kommandanten des Vernichtungslagers Auschwitz«, sagt Bach. »Ich hatte die Stelle erreicht, in der Höß beschreibt, wie sie damals mehr als tausend jüdische Kinder am Tag töteten.« Bach verengt seine Augen und zitiert aus dem Buch, als läse er vor: »Wenn ich die Kinder in die Gaskammer stoßen musste, bekam ich manchmal Kniezittern. Aber ich hab mich immer für meine Schwäche geschämt, nachdem ich mit Obersturmbannführer Adolf Eichmann gesprochen hatte. Denn Eichmann hatte mir erklärt, dass es hauptsächlich die Kinder sind, die man zuerst töten sollte. Denn wo ist die Logik, dass man eine Generation von älteren Menschen umbringt, und eine Generation von möglichen Rächern, die ja auch eine Keimzelle für die Wiedererrichtung dieser Rasse bedeuten könnten, dass man die am Leben lässt.« Zehn Minuten später bat Eichmann um ein erstes Treffen mit Bach, der für alle Belange Eichmanns zuständig war: »Als ich seine Schritte hörte und er mir gegenübersaß, fiel es mir nicht leicht, eine ruhige Miene zu bewahren.«
Nicht nur für Bach, sondern für den ganzen Staat war die Konfrontation mit Eichmann und dem Holocaust ein Trauma, selbst wenn es nicht das erste Mal war, dass die Schoah vor Gericht oder in den Medien behandelt wurde. Schon die Nürnberger Prozesse spielten 1945–1949 in den Medien eine große Rolle. Noch rückten aber die Schrecken des Zweiten Weltkriegs das Verbrechen der Nazis an den Juden in den Hintergrund. Dessen wahre Ausmaße wurden zu diesem Zeitpunkt noch nicht begriffen. Israelische Zeitungen berichteten kühl und distanziert, stützten sich, wie die Ankläger, hauptsächlich auf die Sichtweise der Täter. Jüdische Opfer waren in dieser Berichterstattung nur ein passives Objekt und wurden nicht in den Zeugenstand gerufen.
Diese Betrachtungsweise deckte sich mit der Weltanschauung der zionistischen Staatsgründer. Die wollten nicht bloß einen jüdischen Staat errichten, sondern gleich einen anderen Menschenschlag, einen »neuen Juden«, schaffen. Rabbiner sollten zu Bauern und Kämpfern werden. Die eckigen, glatt rasierten Gesichtszüge auf zionistischen Propagandapostern kontrastierten bewusst das blasse Antlitz bärtiger orthodoxer Juden. Der neue Hebräer sollte nicht nur zu seinen geografischen Wurzeln in Palästina, sondern auch zu den biblischen Wurzeln wehrhafter jüdischer Königreiche zurückkehren. Max Nordau, einer der wichtigsten Führer der zionistischen Bewegung, meinte, man solle aus blassen »Judenleichen« der Ghettos »Muskeljuden« machen, die in die Fußstapfen der wackeren Hebräer treten: »Knüpfen wir wieder an unseren ältesten Überlieferungen an: Werden wir wieder tiefbrüstige, strammgliedrige, kühnblickende Männer«, forderte Nordau im Jahr 1900 in einem Aufsatz in der Jüdischen Turnzeitung.
Die wehrlose Opferrolle der Juden in der Schoah widersprach diesem Traum. Mit den jüdischen Widerstandskämpfern der Ghettos von Wilna oder Warschau konnte man sich identifizieren, den Überlebenden der Vernichtungslager warf man hingegen vor, sie hätten sich »wie Lämmer auf die Schlachtbank« führen lassen. »Seifen« nannten die Zionisten die Holocaust-Überlebenden, in Anlehnung an ein Gerücht, laut dem die Nazis aus toten Juden Seife gemacht hätten. Zu dieser offensichtlichen Geringschätzung gesellte sich die Anschuldigung, die Juden der Diaspora trügen eine Mitschuld an ihrer Vernichtung, weil sie die Möglichkeit, rechtzeitig nach Palästina einzuwandern und das zionistische Projekt zu stärken, abgelehnt hatten. Die Überlebenden wurden von Schuldgefühlen geplagt. Der Autor Mark Dworzecki fasste sie 1946 in seinem Aufsatz »Wie hast du überlebt?« in bewegende Worte: »Es scheint mir, als sei ich mit einem Kainsmal behaftet, das niemals ausradiert werden kann. […] ich meine die Schande, überlebt zu haben, wenn alle anderen tot sind. […] es ist mir unmöglich, den Fragen zu entkommen […] Ich höre die Stimmen der Toten, die mir sagen: ›Wir wurden ermordet […] und du lebst?‹ Gewissen, bitte sag mir, welche Antwort soll ich ihnen geben?«
Eine Antwort auf diese Frage war das »Gesetz zur Bestrafung von Nazis und Nazihelfern«. Indem man die Opfer beschuldigte, gab man sich der Illusion hin, in der Schoah nicht hilflos gewesen zu sein, sondern Alternativen gehabt zu haben. In den fünfziger Jahren war man in Israel in den »Kapo-Verfahren« damit beschäftigt, das »eigene Lager zu säubern«, sagte damals Justizminister Pinchas Rosen. Doch die Mehrheit der Überlebenden wünschte sich nicht Rache, sondern einen Neuanfang, um die Schrecken der Vergangenheit zu vergessen. Die Überlebenden, die bald ein Viertel der israelischen Bevölkerung ausmachten, wollten nicht mehr die letzten Juden Europas sein, sondern zu den ersten Israelis werden: Ihre Rache bestand aus der Gründung neuer Familien und dem Aufbau der Wirtschaft, Armee und Kultur ihrer neuen Heimat. Im Land der Opfer wurde die Schoah totgeschwiegen.
Trotzdem war Eichmann im Land der Opfer bereits eine bekannte Größe, als er aus Argentinien nach Israel gebracht wurde. Bach kannte ihn bereits als Nebenfigur im skandalösen Kasztner-Prozess, einem Prozess, der das Schoah-Tabu erstmals brach. Dr. Rudolf Kasztner hatte in Budapest das jüdische Rettungskomitee geleitet, das dabei geholfen hatte, während des Krieges jüdische Flüchtlinge aus den Nachbarländern aufzunehmen. Doch 1944 wurde Adolf Eichmann nach Ungarn geschickt, um sich hier auf seine Art der »Judenfrage« zu widmen. Die letzte Stunde des ungarischen Judentums hatte geschlagen: In knapp zwei Monaten ließ Eichmann rund eine halbe Million Juden deportieren und ermorden. Unter diesen unmenschlichen Bedingungen versuchte Kasztner zu retten, wen er konnte, und verhandelte mit Eichmann. Es gelang ihm, einen Zug mit tausendsechshundertfünfundachtzig Juden zu retten und fünfzehntausend Juden nach Strasshof in Österreich zu verfrachten. Der Zug wurde als VIP-Zug bekannt – Kasztner hatte wenige Passagiere persönlich ausgesucht.
Nach seiner Einwanderung nach Israel machte Kasztner eine bescheidene politische Karriere im israelischen Staatsapparat. Im Jahr 1952 wurde sie jedoch von einem Pamphlet gefährdet, das Malkiel Gruenwald veröffentlichte. Gruenwald hatte etwa fünfzig seiner Familienmitglieder in der Schoah verloren und machte Kasztner dafür verantwortlich: »Kasztner muss getötet werden! Er ist verantwortlich für den Mord an meinen Brüdern!«, schrieb Gruenwald. Kasztner sah sich gezwungen, Gruenwald zu verklagen. Der Prozess dauerte neunzehn Monate, bis zum Juli 1955. Neben Kasztner saß symbolisch die zionistische Führung auf der Anklagebank, die angeblich nicht genug zur Rettung der Juden getan hatte. Das Urteil des regimekritischen Richters Benjamin Halevi erschütterte Israel. Indem er mit Eichmann verhandelte, habe Kasztner »seine Seele an den Teufel verschachert«. Kasztner legte Berufung ein. Seinen Freispruch, den der Höchste Gerichtshof im Januar 1958 aussprach, erlebte er nicht mehr. Im März 1957 wurde Kasztner vor dem Eingang seines Hauses in Tel Aviv erschossen. Doch Kasztners Freispruch erfüllte eine wichtige Funktion. Die Richter erklärten, dass »nicht jeder Akt der Kooperation als Kollaboration gedeutet werden sollte«. Endlich schüttelte Israel seinen Opferschuldkomplex ab. Von nun an wurde den meisten klar, dass die Nazis allein für den Mord an den Juden verantwortlich gewesen waren.
Kaum jemand trug mehr persönliche Verantwortung für die Schoah als Adolf Eichmann. Kritiker meinten später, man habe den Falschen auf die Anklagebank gesetzt. Hannah Arendt prägte in ihrem Buch über den Prozess den Begriff der »Banalität des Bösen«. Für Bach ist diese Aussage realitätsfremd: »Eichmann interessierte sich zwar anfangs für ›Judensachen‹, jedoch nur weil er glaubte, dass es seiner Karriere dienlich sein könnte. Aber langsam wurde es zu einer wirklichen Besessenheit. Er identifizierte sich absolut mit dem Begehren [die Juden zu ermorden]. Es gab sehr viele Abteilungen in der SS, alle Abteilungsleiter wurden ohne Ausnahme nach wenigen Jahren ausgetauscht. Der Einzige, der den ganzen Krieg hindurch auf seinem Posten blieb, war Eichmann. Seine Vorgesetzten wussten, wie fanatisch Eichmann die Ermordung der Juden verfolgte.« Eichmann sei kein kleiner Technokrat gewesen, sondern der richtige Angeklagte eines historischen Prozesses: »Von allen Nazis, die zu dieser Zeit noch am Leben waren, hätte ich mich immer wieder dafür entschieden, Eichmann anzuklagen. Er war für alle Aspekte und Stadien der Judenvernichtung verantwortlich, in ganz Europa. Manche nannten den Völkermord sogar ›Operation Eichmann‹.«
Eichmann, nicht die jüdischen Kollaborateure, war jetzt das Sinnbild des Bösen. Zudem habe er seine Tat niemals bereut: »Mir lag die Abschrift eines Interviews vor, das Eichmann 1956 einem holländischen Journalisten gegeben hatte«, sagt Bach. »Es war eine Pracht, diese Züge mit den Juden zu sehen, die von Holland nach Auschwitz gebracht wurden«, gab der Verantwortliche für die Deportation Hunderttausender Juden elf Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg zu Protokoll. »Als der Reporter Eichmann fragte, ob er etwas bereue, antwortete er: ›Ja, eine Sache hat mir leidgetan. Dass ich nicht hart genug war, dass ich nicht scharf genug war, dass ich diese verdammten Interventionisten nicht genug bekämpft habe. Jetzt sehen Sie das Resultat: die Gründung des Staates Israel und die Wiedereinrichtung dieser Rasse dort.‹ Wenn er das 1956, elf Jahre nach dem Krieg, gesagt hat, dann kann ich gegenüber seiner Reue fünf Jahre später skeptisch sein«, resümiert Bach. Eichmann war Überzeugungstäter: »Als Eichmann hörte, dass lokale Milizen Juden erschossen hatten, war er außer sich vor Wut. Nicht aus humanitären Gründen. Nein, er beklagte sich, dass er die Übersicht verliere!«
Der ehemalige Henker hatte derweil im Gefängnis die Rolle des gehorsamen Häftlings übernommen. »Wenn er dachte, ich wolle aufstehen, sprang er sofort auf und nahm Haltung an«, erinnert sich Bach. »Nicht aus Angst«, betont der später liberale Richter: »Er dachte, das gehört sich so.« Eichmann schien von seinen Wärtern dieselbe Härte zu erwarten, mit der er den Mord von Millionen Juden in Europa betrieben hatte: »Er bekam immer drei Scheiben Brot. Als er einmal nicht so großen Hunger hatte, bat er um Erlaubnis, nur zwei Scheiben essen zu dürfen.«
In monatelanger Sisyphusarbeit durchsiebten Bach und seine Truppe Tausende Dokumente, um die Anklage vorzubereiten. Tagtäglich mit dem Mord an Hunderttausenden beschäftigt, suchte Bach nach einem Hoffnungsschimmer – Fälle, in denen Eichmann Milde hatte walten lassen: »Ich habe so sehr danach gesucht, aber kein einziges Beispiel gefunden.« Da war der jüdische Physikprofessor in Paris, der Patente für die neue Radartechnologie besaß. »Ein General der Wehrmacht bat darum, Professor Weiß noch nicht zu deportieren, weil sein Wissen wichtig für die Kriegsanstrengungen der Wehrmacht war. Ich dachte, jetzt habe ich es! Die Antwort Eichmanns lautete jedoch: ›Aus prinzipiellen Erwägungen kann ich unmöglich einwilligen.‹ Der General hat danach wütend angerufen: ›Wie wagen Sie es, meine Instruktionen nicht zu befolgen? Ich bin General der Wehrmacht!‹ Worauf Eichmann antwortete: ›Und ich bin Obersturmbannführer der SS, Ihr militärischer Rang interessiert mich nicht … Ich sehe keinen Grund, die Deportation auch nur um einen Tag zu verschieben‹«, zitiert Bach die Prozessakten aus dem Gedächtnis.
Hinter Bach erinnert eine Porträtaufnahme in Schwarz-Weiß an einen der schwersten Augenblicke des Prozesses. »Sie wurde kurz nach der Aussage eines Mannes aufgenommen, der die Gaskammern überlebt hatte«, sagt Bach. Der Zeuge war einer der wenigen, die lebend eine Gaskammer verlassen hatten. »Er war noch ein Kind gewesen. Die Gaskammer wurde abgeschlossen, es war dunkel. Die Kinder haben gesungen, um sich Mut zu machen. Als nichts geschah, fingen die Kinder an zu weinen. Auf einmal öffnete sich die Tür. Ein Zug mit Kartoffeln war angekommen und die SS hatte nicht genug Leute, um ihn zu entladen. Da haben sie zwanzig Kinder neben der Tür herausgeholt, um ihn zu entladen.« Später beschuldigte ein Offizier das Kind, ein Fahrzeug durch seine Nachlässigkeit beschädigt zu haben, und gab die Anweisung, den Jungen erst auszupeitschen, bevor er vergast werden sollte. »Der SS-Mann, der das durchführen musste, hat den Jungen als Laufbursche bei sich behalten. Das hat ihm das Leben gerettet«, sagt Bach. »Es gab viele grausame Sachen im Eichmann-Prozess, aber das war selbst für uns zu hart und wir mussten fünfzehn Minuten Pause einlegen.«
Bachs Vorgesetzter, Generalstaatsanwalt Gideon Hausner, war sich der historischen Bedeutung des Prozesses von Anfang an bewusst: »Dies ist eine Generation ohne Großväter und Großmütter. Sie versteht nicht, was geschehen ist«, schrieb Hausner später. Eichmann sollte nicht bloß überführt werden. Viel wichtiger war es, die Jugend neu zu erziehen. Die Anklage lud hunderteinundzwanzig Zeugen vor, Überlebende aus Lagern und Ghettos, die den Israelis durch die Erzählung ihrer persönlichen Schicksale den Schrecken, aber auch ihren alltäglichen Mut näherbrachten. Gebannt saß ganz Israel täglich vor den Radios und lauschte den Übertragungen aus dem Gerichtssaal.
Die Zeugenaussagen hatten eine tief greifende Wirkung auf den Staat der Juden, in dem die Schrecken der Schoah bislang totgeschwiegen worden waren. »Viele Israelis wollten nichts vom Holocaust wissen, andere schämten sich dafür, Opfer des Holocaust gewesen zu sein«, sagt Bach. Im Land der Opfer war die Schoah tabu. Dem machte der Prozess ein Ende. »Wir waren bemüht, den Menschen zu zeigen, dass es keinen Grund gab, sich für die Schoah zu schämen«, sagt Bach. »Im Gegenteil, man konnte stolz sein. Juden fügten sich, solange sie nicht wussten, wie aussichtslos ihre Lage war. Die Nazis täuschten ihre Opfer mit fast wissenschaftlichen Methoden, und niemand glaubte daran, dass alle getötet werden würden. Doch sobald sie erkannten, dass man sie nur ermorden wollte, erhoben und wehrten sie sich, wie im Ghetto von Warschau.« Der Bewusstseinswandel vollzog sich in Bachs engster Umgebung. Monatelang arbeitete er mit seinem Team von Polizisten zusammen: »Für jedes Land in Europa war ein Offizier zuständig, der mir die relevanten Dokumente zur Auswahl vorlegte.« Polen verweigerte Israel damals die Zusammenarbeit. Trotzdem erreichte Bach eines Tages die Abschrift eines Dokuments, das die Anlieferung von Juden in Auschwitz dokumentierte. Die SS hatte fein säuberlich die Daten festgehalten, an denen den Häftlingen ihre Nummer eintä...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Impressum
  3. Über den Autor
  4. Titel
  5. Inhalt
  6. Ein Vorwort
  7. Die israelischsten Fragen
  8. Wie der Holocaust nach Israel kam
  9. Vom Kaffee zum Krieg in einer Stunde
  10. Der Kibbuz, der wieder die Welt verändern will
  11. Sommer in Israel
  12. Der echte Alexanderplatz steht gar nicht in Berlin
  13. Heiße Miezen
  14. Auferstanden aus Ruinen
  15. Der Mossad für jedermann
  16. Alltag in Jerusalem
  17. Ständig auf dem Hut
  18. Eine Revolution zergeht auf der Zunge
  19. Toskana im Wilden Westen
  20. Kämpfen für Geschlechtertrennung
  21. Erstklassige Zweite-Klasse-Bürger
  22. Falsch gelaufen
  23. Zwischen allen Stühlen
  24. Der Schmelztiegel
  25. Kosher Sex in Tel Aviv