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WEIN GEGEN TUCH: DER HISTORISCHE HINTERGRUND DER THEORIE DER KOMPARATIVEN VORTEILE
Seit der Ökonom David Ricardo im Jahre 1817 erstmals seine Theorie der komparativen Vorteile veröffentlichte, gehört es in der Ökonomie zum »Standardwissen«, dass Freihandel grundsätzlich den Wohlstand vergrößert, während Handelsbarrieren wie Zölle oder Importbeschränkungen ihm abträglich sind. Würden wir nur in einer freien Welt ohne Handelsschranken und Subventionen leben, in der Güter und Dienstleistungen ungehindert von einem Land ins andere gelangen könnten, so wird uns gesagt, dann würde das Prinzip der Ausnutzung komparativer Vorteile dazu führen, dass (fast) alle Menschen weltweit in mehr Wohlstand leben könnten. Was verbirgt sich also hinter der Zauberformel des komparativen Vorteils?
Falls Sie es nicht wissen, dann befinden Sie sich in guter Gesellschaft. Viele Politiker und Wirtschaftsführer, die die Bedeutung von komparativen Vorteilen herausstreichen, wissen es auch nicht und verwechseln komparative mit absoluten Vorteilen. Das fällt jedoch nicht weiter auf, da wir uns inzwischen an solche Floskeln gewöhnt haben. Worum geht es also? Es braucht kein Genie, um einzusehen, dass es für ein Land wie Österreich vorteilhafter ist, Bananen von den Philippinen einzuführen, statt selbst Bananen in Gewächshäusern anzupflanzen. Umgekehrt zahlt es sich für die Philippinen aus, Wintersportdienstleistungen aus Österreich zu importieren (sprich in Österreich Ski zu fahren), statt selbst künstlich Schnee zu erzeugen und in klimatisierten Hallen Ski zu fahren. Die Philippinen sind Österreich in der Bananenproduktion absolut überlegen, während Österreich den Philippinen beim Wintersport einiges voraushat. In einem solchen Fall profitieren beide Länder vom gegenseitigen Handel, da jedes Land das produziert, was es aufgrund seiner geografischen Lage besser kann.
Doch Ricardos Theorie der komparativen Vorteile ist viel raffinierter. Er zeigte nämlich auf, dass zwei Länder sich auch dann auf die Produktion je eines Gutes spezialisieren sollten, wenn das eine Land beide Güter effizienter produzieren kann und somit bei beiden Gütern einen absoluten Vorteil besitzt. Bezug nehmend auf die damals wichtigen Handelsbeziehungen zwischen England und Portugal »bewies« er, dass es für beide Länder vorteilhafter sei, wenn Portugal sich auf den Weinanbau spezialisiert und England sich auf die Herstellung von Tuch konzentriert, obwohl die portugiesische Tuchindustrie der englischen gemäß Ricardos Analyse überlegen war. Dieses Beispiel bildete die Basis der Theorie der komparativen Vorteile, die bis heute dazu dient, den wirtschaftlichen Nutzen der Spezialisierung und des Freihandels sowie den volkswirtschaftlichen Schaden von Schutzzöllen zu demonstrieren. Grund genug, die Hintergründe dieses berühmten Beispiels einmal genauer zu durchleuchten.
Was mit dem Begriff »komparativer Vorteil« gemeint ist, lässt sich am besten verstehen, wenn wir für einen Moment die Länderebene verlassen und stattdessen einen Anwalt betrachten, der eine Schreibkraft anstellt, obwohl er selbst schneller und mit weniger Fehlern Briefe schreiben kann als diese. Trotzdem macht die Anstellung der Schreibkraft Sinn. Wenn der Anwalt seine Briefe nämlich selbst auf dem Computer eintippen würde, könnte er während dieser Zeit nicht an den Fällen arbeiten, mit denen er sein Geld verdient. Der Anwalt verzichtet deshalb darauf, selbst seine Briefe zu schreiben, weil die ihm dadurch entgehenden Anwaltshonorare höher sind als das Gehalt, das er der Schreibkraft bezahlen muss. Die Anwaltshonorare sind in diesem Fall die Opportunitätskosten des Briefeschreibens, das heißt, die Einnahmen, auf die er verzichten muss, wenn er selbst Briefe schreibt. Die Schreibkraft besitzt gegenüber dem Anwalt zwar einen absoluten Nachteil beim Briefeschreiben, aber einen komparativen Vorteil, denn ihre Opportunitätskosten sind geringer als die des Anwalts. Im Unterschied zum Anwalt könnte sie nämlich, wenn sie keine Briefe schriebe, keine Fälle bearbeiten und dafür ein Anwaltshonorar kassieren.
Wenn wir jetzt den Anwalt durch Portugal und die Schreibkraft durch England ersetzen und zusätzlich noch annehmen, dass die Schreibkraft zumindest theoretisch ebenfalls Anwaltstätigkeiten ausüben könnte, dann sind wir wieder beim Beispiel von Ricardo. Obwohl Portugal die effizientere Tuchindustrie besitzt, sollte es gemäß Ricardo auf die Tuchproduktion verzichten, und zwar wiederum wegen der Opportunitätskosten. Ricardo demonstrierte dies anhand des folgenden Zahlenbeispiels: In England braucht es hundert Arbeitsstunden, um eine Einheit Tuch (ein Ballen) herzustellen, und in Portugal neunzig Arbeitsstunden. Gleichzeitig brauchen englische Winzer hundertzwanzig Stunden, um eine Einheit Wein (ein Fass) zu produzieren, während die Portugiesen dafür achtzig Arbeitsstunden benötigen.
| Tuch | Wein | |
England | 100 | 120 | |
Portugal | 90 | 80 | |
Tabelle 1: Input an Arbeitsstunden zur Produktion einer Einheit Tuch und einer Einheit Wein
Das Beispiel wurde von Ricardo so gewählt, dass Portugal bei der Herstellung beider Güter einen absoluten Vorteil und England einen absoluten Nachteil besitzt, denn für die Herstellung beider Güter braucht es in Portugal weniger Arbeitsstunden. England besitzt aber einen komparativen Vorteil bei der Tuchproduktion, da die Produktion eines Ballen Tuches den Verzicht auf weniger Weinproduktion verlangt als in Portugal. Das lässt sich verstehen, wenn wir wiederum die Opportunitätskosten betrachten. Die Frage dabei lautet: Auf wie viele Einheiten Tuchproduktion muss man in jedem Land verzichten, wenn man eine zusätzliche Einheit Wein produziert? Die Rechnung präsentiert sich folgendermaßen:
Opportunitätskosten von Wein in Tucheinheiten:
·England: 120/100 = 1,20 Tucheinheiten
·Portugal: 80/90 = 0,89 Tucheinheiten
In England »kostet« die Produktion einer Einheit Wein 1,2 Einheiten Tuch, während sie in Portugal nur 0,89 Einheiten »kostet«. Umgekehrt können wir auch die Opportunitätskosten von Tuch in Weineinheiten ausdrücken. In diesem Fall kommen wir zu folgendem Resultat:
Opportunitätskosten von Tuch in Weineinheiten:
·England: 100/120 = 0,83 Weineinheiten
·Portugal: 90/80 = 1,125 Weineinheiten
In England »kostet« also eine Einheit Tuch 0,83 Weineinheiten, während eine Einheit Tuch in Portugal 1,125 Weineinheiten »kostet«. Mit anderen Worten: In England ist es mit geringeren Opportunitätskosten verbunden, Tuch zu produzieren, während in Portugal die Weinproduktion geringere Opportunitätskosten aufweist. Demzufolge besitzt England einen komparativen Vorteil bei der Tuchproduktion und Portugal einen komparativen Vorteil bei der Weinproduktion.
| Tuch | Wein | |
England | 1 | 1 | |
Portugal | 1 | 1 | |
Total | 2 | 2 | |
Tabelle 2: Produktionsmöglichkeiten (Menge an Tuch- und Weineinheiten) vor Handel
Wie profitieren nun beide Länder durch den Handel gemäß Ricardo? Schauen wir uns dazu einmal die Produktionsmöglichkeiten vor und nach der Aufnahme des Handels an. Wir gehen davon aus, dass in der ursprünglichen Situation jedes Land je eine Einheit Tuch und eine Einheit Wein produziert. Portugal benötigt dazu insgesamt hundertsiebzig Arbeitsstunden, und in England sind dazu zweihundertzwanzig Arbeitsstunden erforderlich.
Nun nehmen wir an, dass sich beide Länder auf die Produktion des Gutes spezialisieren, bei dem sie einen komparativen Vorteil besitzen. England spezialisiert sich also auf die Produktion von Tuch, und Portugal produziert nur noch Wein. In diesem Fall gelingt es, mit der gleichen Menge an Arbeit in Portugal 2,125 Einheiten Wein zu produzieren, und in England ist jetzt die Produktion von 2,2 Einheiten Tuch möglich.
| Tuch | Wein | |
England | 2,2 | 0 | |
Portugal | 0 | 2,125 | |
Total | 2,2 | 2,125 | |
Tabelle 3: Produktionsmöglichkeiten (Menge an Tuch- und Weineinheiten) nach Spezialisierung und Handel
Die Produktionsmöglichkeiten haben sich also erweitert. Insgesamt können mit der gleichen Menge an Arbeit 0,2 Einheiten mehr Tuch und 0,125 Einheiten mehr Wein produziert werden. Diese Überschüsse lassen sich nun zwischen beiden Ländern aufteilen (wie genau, hängt vom Preis ab), sodass beide davon profitieren. Es gibt mehr Wein und mehr Tuch.
Die Auswahl der beiden Güter Wein und Tuch war nun keineswegs zufällig. Genau um diese beiden Güter ging es rund hundert Jahre früher (1703) in dem zwischen England und Portugal geschlossenen Methuen-Vertrag (Methuen Treaty), so benannt nach dem damaligen englischen Botschafter in Portugal (siehe dazu Francis, 1960; Magdoff, 1978). Diesem gelang es, mit der portugiesischen Regierung einen Vertrag auszuhandeln, bei dem sich die Portugiesen dazu verpflichteten, die zum Schutz ihrer eigenen Tuchindustrie seit dem Jahr 1684 geltenden Importbeschränkungen für englisches Tuch aufzuheben. Im Gegenzug verpflichtete sich England dazu, portugiesischen Wein bei der Einfuhr mit einem Vorzugszoll zu behandeln, der um ein Drittel geringer war als der Zoll auf die Weine aus Frankreich, was die bis heute anhaltende Popularität des Portweins in England erklärt. Vonseiten der Portugiesen geschah die Unterzeichnung dieses Vertrags allerdings nicht ganz freiwillig. Sie mussten auf ihn eingehen, weil sie auf die militärische Unterstützung der Engländer gegen die Spanier angewiesen waren.
Gemäß der Theorie der komparativen Vorteile hätte sich durch diesen Vertrag die Situation in beiden Ländern verbessern sollen. Das geschah aber nur in England. In Portugal führte der Methuen-Vertrag innerhalb kurzer Zeit zur vollständigen Vernichtung der Tuchindustrie, da Portugal sofort mit englischem Tuch überschwemmt wurde. Der Export von portugiesischem Wein nach Englan...