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Was verändert unser Zeiterleben?
B 1
»Gelebte Zeit« bei Depression und in Todesnähe
David H. V. Vogel und Kai Vogeley
B 1.1 Einleitung
Das psychiatrische Störungsbild der Depression setzt sich aus einer Vielzahl unterschiedlicher Symptome zusammen. Nach den diagnostischen Kriterien des ICD-10 gelten als sogenannte Kernsymptome reduzierter Antrieb, Interessens- und Freudverlust sowie gedrückte Stimmungslage, die über mehr als vier Wochen andauern müssen (World Health Organization 1992). Weiterhin werden verschiedene Nebensymptome wie beispielsweise Konzentrations- und Schlafstörungen erfasst. Diese Diagnosekriterien lassen mehrere mögliche Symptomkonstellationen zu. Es wird daher davon ausgegangen, dass es sich bei der Depression eher um einen heterogenen Komplex verschiedener Ausprägungen und Arten depressiver Störungen als um eine scharf definierbare Erkrankung handelt (Drysdale et al. 2017; van Loo 2014). Trotz dieser klinischen Heterogenität wird aber auch vorgetragen, dass es sich bei den meisten der zu beobachtenden Störungsbilder um klinisch verwandte Ausprägungen derselben Grunderkrankung handelt. Diese Vermutung einer gemeinsamen Grundstörung lässt sich auch neurowissenschaftlich beispielsweise durch den Nachweis einer gemeinsamen neuroanatomischen Kernpathologie von verschiedenen depressiven Syndromen (Drysdale et al. 2017) plausibel machen. Vor diesem Hintergrund stellt sich also die Frage, ob trotz der variablen Symptomatik ein psychopathologischer Phänomenbereich identifiziert werden kann, der allen depressiven Störungen zugrunde liegt. Im Ertrag würde ein derartiger psychopathologischer Kernbereich die Diagnosestellung und die Differenzialdiagnose von Depression gegenüber anderen psychischen Erkrankungen und Zustandsbildern erheblich bereichern können. Eine besondere Herausforderung ist die genaue diagnostisch und therapeutisch relevante Abgrenzung zwischen medizinisch behandlungsbedürftigen schweren Depressionen einerseits und nicht pathologischen Trauerreaktionen andererseits (Stiefel et al. 2001).
Depressive Symptome und Depressionen sind bei Sterbenden nicht selten (Lloyd-Williams et al. 2003; Stiefel et al. 2001) und die unzureichende Identifizierung und Behandlung klinisch relevanter Depressionen stellen anhaltende Schwierigkeiten in der Behandlung schwer Erkrankter und Sterbender dar (Jaiswal et al. 2014; Lloyd-Williams et al. 2003; Noorani und Montagnini 2007; Stiefel et al. 2001). Gerade weil die Häufigkeit depressiver Erkrankungen bei Patienten in der Palliativmedizin nicht zwangsläufig häufiger zu sein scheint als in der nicht palliativen Bevölkerung (Mitchell et al. 2011), ist die Differenzierung zwischen zu erwartenden Trauerreaktionen in Todesnähe und schweren Depressionen entscheidend für eine adäquate Unterstützung und Versorgung. Bisherige Untersuchungen zu Depressionen bei terminal erkrankten Menschen betonen die Schwierigkeiten einer solchen diagnostischen Differenzierung (Jaiswal et al. 2014; Mitchell et al. 2011).
B 1.2 Die »gelebte Zeit«
Meist beachten wir weder die Zeit noch ihr Vergehen. Dennoch spielt Zeit auch dann, wenn sie unbeobachtet und implizit bleibt, eine zentrale Rolle in unserem Erleben und Verhalten (Fuchs 2005; Kupke 2009; Vogel et al. 2018a). Wir gehen gegenwärtigen Aktivitäten nach und führen diese aus, um je nach Tätigkeit unsere nahe oder ferne Zukunft zu beeinflussen (Vogel et al. 2018a). Hierzu nutzen wir Gelerntes aus unserer Vergangenheit. Unsere Gegenwart kann hierbei unterschiedliche zeitliche Bezüge umfassen und ist als ausgedehnte Zeitspanne eingebettet in unsere individuelle Biographie. Zusammengefasst könnte man auch sagen, dass wir unsere Zeit aus der Vergangenheit heraus in der Gegenwart in die Zukunft hineinleben (Kupke 2009; Vogel et al. 2018a). Entscheidend ist hierbei der klare Zukunftsbezug unserer Lebenszeit. Zwar mag die zeitliche Entfernung der jeweils fokussierten Zukunft unterschiedlich sein, aber immer gestalten wir in der Gegenwart mit Hilfe der Vergangenheit die Zukunft. Unsere Zeit ist also nicht ein statisches und starres Phänomen, sondern ein dynamischer und kontinuierlicher Prozess. Da dieser zukunftsgerichtete Prozess das Leben in einer fundamentalen und universellen Weise gestaltet, ist er auch als »Werden« (Fuchs 2013; Minkowski 1971; Straus 1960; Vogel et al. 2018a, b; von Gebsattel 1954) oder »Streben« (Minkowski 1923, S. 220; Minkowski 1971) bezeichnet worden. Dieser aktive Subjektbezug zum Erleben der Zeit wird in der Psychopathologie durch den Begriff der »gelebten Zeit« zum Ausdruck gebracht (Bloc et al. 2016; Broome 2005; Fuchs 2001, 2013, 2014; Gallagher 2012; Kupke 2005; Stanghellini et al. 2016; Wyllie 2005).
Üblicherweise bleiben die Zeit und ihr Vorübergehen solange unbemerkt, wie wir ungestört unseren Zielen nachgehen können. Sobald sich aber das Gleichgewicht der drei Zeitdimensionen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschiebt, erleben wir zunehmend auch das Vergehen der Zeit. Dies wird zum Beispiel deutlich im subjektiven Erleben von Zeitdruck oder von Langeweile. Im Erleben von Zeitdruck erscheint uns der verfügbare Zeitraum oft nicht groß genug, um alle gewünschten Tätigkeiten darin unterzubringen, die Gegenwart scheint nicht auszureichen und zu schnell zu vergehen. Wenn wir uns dagegen langweilen, befinden wir uns in einer Zeitphase, die nicht mehr ausgefüllt und dann oft sinnlos oder leer erscheint. Sie gestaltet nicht mehr eigene Ziele, so dass wir sie meist zu Gunsten einer anderen (befriedigenderen) Aktivität verlassen möchten (Elpidorou 2018). Im gelangweilten Zustand kommt es uns oft so vor, als würde die Zeit langsamer vergehen. Wir bemerken also in der Regel erst während dieser Irritationen das Vergehen von Zeit – oder eben ihr Nicht-Vergehen. Dieses Erleben kann sich auch in Gefühlen des »Nicht-Vorankommens« äußern. Im Hinblick auf die gelebte Zeit bedeuten derartige Veränderungen, dass, wann immer wir unsere eigene Zeit nicht in einem Mindestmaß in erfüllender, sinnvoller oder kontrollierbarer Weise leben können, uns diese Veränderungen durch bewusstes Erleben der Zeit deutlich werden. Bewusstes Zeiterleben könnte uns über die beginnende Un-Vereinbarkeit der aktuellen persönlichen Gegenwart mit der individuellen Vergangenheit und Zukunft informieren (Vogel et al. 2018a). Der Zustand, in dem die äußeren Anforderungen und die eigenen Fähigkeiten optimal ausbalanciert sind, so dass wir in eine Tätigkeit glücklich »eintauchen« können, ist auch als Flow-Erleben bezeichnet worden (Csikszentmihályi 1990).
Das Erleben von Zeit steht also auch in Zusammenhang mit positiven wie auch negativen Emotionen. So hat Freude eine »im Augenblick des Gewinns einsetzende, auf die Zukunft bezogene Bereicherung zum Gegenstand« (Straus 1960, S.138–139).
»Trauer […] hat die im Augenblick des Verlierens beginnende, sich in die Zukunft erstreckende innere Verarmung zum Gegenstand« (Straus 1960, S. 139)
Unsere Stimmungen, Affekte und Emotionen erhalten erst durch die gelebte Zeit ihre individuelle Ausprägung und Bedeutung.
B 1.3 Die Depression als Störung der gelebten Zeit
Frühe psychopathologische Erörterungen (Minkowski 1971; Straus 1947, 1960; von Gebsattel 1954) sowie neuere phänomenologische Untersuchungen (Fuchs 2001, 2005, 2013, 2014; Gallagher 2012; Kupke 2005, 2009; Wyllie 2005) und empirische Studien (Stanghellini et al. 2016, 2017; Vogel et al. 2018b) nehmen an, dass die grundlegende Störung bei depressiven Erkrankungen das Zeiterleben betrifft.
Depressionen sind danach gekennzeichnet durch den Verlust der jedem Menschen eigenen sogenannten »biologischen Potenz« (Straus 1960, S. 130). Mit diesem Begriff ist die (neuro-)biologische Grundlage menschlichen »Strebens« (Minkowski 1923, 1971) oder »Werdens« (Fuchs 2013; Minkowski 1971; Straus 1960; Vogel et al. 2018a, b; von Gebsattel 1954) gemeint, die sich im Erleben durch Vitalität, Lebensfreude und positive Zukunftsgewandtheit zeigt. In einer Depression lässt diese biologische Potenz nach (Straus 1960). In der Folge entsteht eine sogenannte »vitale Hemmung«, die als das eigentliche »Kernsymptom« der endogenen Depression wahrgenommen wird (Straus 1960, S. 132). Diese Hemmung bedeutet, dass der depressiv Erkrankte in seinem persönlichen Werden beeinträchtigt ist und nicht länger ausreichend nach seiner Zukunft streben kann, die Zukunft erscheint vielmehr blockiert, verschlossen und unerreichbar (Fuchs 2001; Lewis 1932; Stanghellini et al. 2017; Straus 1960; Vogel et al. 2018b; von Gebsattel 1954; Wyllie 2005). Durch die Blockade der Zukunft verliert der Betroffene die Fähigkeit, seine Gegenwart sinnvoll zu beeinflussen. Die Gegenwart wird zu einem bedeutungslos ausgedehnten, ewig andauernden, sich wiederholenden Zustand, der manchmal sogar im Stillstand von Zeit enden kann (Lewis 1932; Straus 1960; Vogel et al. 2018b).
Auch die Vergangenheit bleibt durch diese Veränderung nicht unbeeinflusst. Mit dem Bedeutungsverlust der Zukunft kann die Vergangenheit nicht länger als mögliche lebensgeschichtliche Ressource erlebt werden. Die nutzlose Vergangenheit äußert sich zunächst im depressiven Schuld- und Schamerleben (Straus 1960). Da die grundsätzliche dimensionale Struktur der Zeit (vgl. Kupke 2009; Vogel et al. 2018a) aber unbeeinträchtigt (Vogel et al. 2018b) und die Vergangenheit integraler Bestandteil des depressiv gehemmten Werdens bleibt, wird mit Anhalten und Voranschreiten der Störung der gegenwärtige depressive Zustand zunehmend als Ergebnis der eigenen gelebten Vergangenheit erlebt.
Durch die tiefgreifende und meist schleichend eintretende Veränderung des Zeiterlebens muss diese nicht zwangsläufig direkt im Erleben bewusst werden. Jedoch berichten nicht wenige Patienten von einer Verlangsamung (Fuchs 2013, 2014; Lewis 1932; Stanghellini et al. 2017; Straus 1960; Vogel et al. 2018b; Wyllie 2005), gelegentlich auch von einer Beschleunigung (Vogel et al. 2018b) der Zeit. Die bei Depressionen vordergründig erlebten und klinisch erfrag- und beobachtbaren Symptome sind vor dem Hintergrund der gelebten Zeit aber ebenfalls Ausdruck dieser Werdensstörung. Mit der vitalen Hemmung und der Blockade der Zukunft verlieren auch Stimmung, Affekt und Emotion ihre Bedeutung. Affekte werden flach, weniger spürbar und bedeutungslos. Die affektiven Symptome und die niedergedrückte bis gefühlslose Stimmung von Menschen mit Depressionen können so über die Störung des Zeiterlebens verstanden werden.
Diese Schilderungen zeigen, dass die auf den ersten Blick vielfältigen Symptome und das klinisch heterogene depressive Syndrom über das Konzept der gelebten Zeit und des Werdens nachvollzogen und auch in ihrer individuellen Ausprägung verstanden werden können. Die Störung der gelebten Zeit als Blockade der Zukunft und Hemmung der Vitalität und des persönlichen Werdens ist damit aus psychopathologischer Perspektive ein guter Kandidat, die mögliche Grundstörung des inneren Erlebens bei Depressionen zu erklären.
B 1.4 Die gelebte Zeit und der Tod
Vor dem Hintergrund der gelebten Zeit erhält der Tod eine eigene Bedeutung als das natürliche und zwangsläufige Ende des menschlichen Werdens (Minkowski 1971; von Gebsattel 1954). Der eigene Tod ist eine »absolute Gewissheit« (Minkowski 1971, S.141); wir stehen »auch als gesunde Menschen […] in einer ständigen Relation zum Tod« (von Gebsattel 1954, S. 13). Für das Konzept der gelebten Zeit bedeutet dies, dass unser Werden in der Ausrichtung auf die Zukunft in letzter Konsequenz auf den Tod zuläuft (Minkowski 1971; von Gebsattel 1954). Die Psychopathologie des Zeiterlebens führt eine Differenzierung von zwei Bezügen des Werdens zum Tod ein, die auch für die Palliativmedizin eine hohe Relevanz hat, nämlich die Unterscheidung zwischen dem lebensimmanenten Tod und dem lebenstranszendenten Tod (von Gebsattel 1954).
Der Begriff des lebensimmanenten Todes bezieht sich auf das natürliche, unaufhaltsame Zulaufen des Werdens auf den Tod als ein Ereignis, das dem Leben angehört oder ihm immanent ist. Da wir im Werden unsere Pläne und Ziele realisieren, bewegen wir uns auf unsere Zukunft zu und lassen unsere Vergangenheit hinter uns zurück, jedoch nie, ohne dass diese Vergangenheit für unser weiteres Werden zugänglich und nutzbar bliebe (Straus 1960; von Gebsattel 1954). Vergleichbar kann so von einem »lebensgeschichtlichen Ende« einer gegenwärtigen Tätigkeit gesprochen werden, die »erledigt« wird (Straus 1960, S. 133). Wir rücken hierdurch zwar unbewusst auf unseren Tod zu, indem wir momentane Gegenwarten zugunsten unseres Werdens hinter uns lassen (von Gebsattel 1954, S. 13), und der Tod kann vor diesem Hintergrund als zwangsläufiges (immanentes) Resultat und Ende unseres Werdens verstanden werden (von Gebsattel 1954, S. 14). Aber ist das eigentliche Ziel unseres Werdens und Strebens nicht der Tod, sondern unsere Zukunft, auch wenn diese den Tod beinhaltet (Minkowski 1971, S. 145; von Gebsattel 1954). Das heißt, dass, obwohl der Tod lebensimmanent ein Teil unserer Zukunft ist und wir diesem im Werden näherkommen müssen, die gelebte Zeit nicht in den Tod führt, sondern in die Zukunft.
Dagegen bezeichnet der lebenstranszendente Tod den plötzlichen Tod, der in das Leben gewissermaßen einbricht und das Leben »von außen zum Abschluss bringt« (von Gebsattel 1954, S. 14). Er beschreibt ein »sachliches Ende«, das unser Leben »beendet«, zugleich lässt er die Vergangenheit nicht länger zugänglich erscheinen (Straus 1960, S. 133). Der bevorstehende, von außen hereinbrechende Tod, der nicht mehr lebensimmanent als Teil des eigenen Lebens und Werdens erfasst werden kann, sondern lebenstranszendent von außen einbricht, kann nicht mehr in der Gegenwart gestaltet werden, und die Vergangenheit kann für den Gestaltungsprozess des eigenen Werdens nicht länger nutzbar gemacht werden. Parallel bedeutet die Vorstellung vom absoluten Ende des Werdens auch das Ende der eigenen Zukunft. Auf das Werden bezogen muss eine solche Todesvorstellung als hem...