Einführung in die systemische Sexualtherapie
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Einführung in die systemische Sexualtherapie

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Einführung in die systemische Sexualtherapie

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Über dieses Buch

Um mit den veränderten Beziehungs- und Familienmodellen der Menschen Schritt halten zu können, braucht auch die Sexualtherapie zeitgemäße Konzepte. So legt z. B. die Dynamik, mit der das LGBTQ-Spektrum vom Rand in die Mitte der Gesellschaft rückt, einen Perspektivenwechsel nah. Wo nicht mehr ausschließlich in männliche und weibliche Sexualität getrennt wird, wo Vielfalt als Bereicherung erlebt wird, profitieren auch heterosexuelle Paare von einer Beratung.Der defizitären Sicht, was in der Sexualität nicht gut "funktioniert", stellt Karina Kehlet Lins ein ressourcenorientiertes und selbstbestimmtes Narrativ gegenüber, das die Partner jeder für sich bzw. gemeinsam entwickeln.Die Einführung gibt eine Übersicht über den therapeutischen Umgang mit den häufigsten sexuellen Problemen. Zugleich vermittelt sie, welches Denken hinter einer systemischen Intervention in der Sexualtherapie steht. Beispielinterventionen, etwa zu sexueller Lustlosigkeit, illustrieren den Transfer in die eigene Praxis.

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Information

Jahr
2020
ISBN
9783849782399

1Einleitung

Wenn man fragt, was Paare von Freunden unterscheidet, denken die meisten an Sex. Auch wenn man streng genommen vieles mit einem Partner macht, was man nicht unbedingt mit Freunden machen möchte, und man mit jemandem Sex haben kann, den man sich nicht als Lebenspartner wünscht, bleibt es nichtsdestotrotz so, dass Sex eine sehr wichtige Rolle für die meisten Paare spielt und das Thema deswegen eine besondere Bedeutung für unsere Beziehungen hat.
In der gegenwärtigen Kultur, die von wachsender Individualisierung und Traditionsbrüchen geprägt ist, wird die Paarbeziehung zunehmend als Mittelpunkt von Hoffnungen und Bestrebungen betrachtet. Zentral ist dabei die Transformation der Bedeutung von Intimität, die nach einem neuen Gleichgewicht zwischen dem Wunsch nach individueller Freiheit und der Möglichkeit der Bindung sucht. Es besteht ein großes Interesse daran, individuelle Zufriedenheit und gegenseitiges Engagement in Einklang zu bringen (Weeks, Heaphy a. Donovan 2001).
Während sich in der Gegenwart viele Veränderungen in Bezug auf Sex und Liebe vollziehen, stagnierte die sexualtherapeutische Entwicklung seit Mitte der 1980er-Jahre hingegen: Keine nennenswerten Neuigkeiten wurden gemeldet und damit ging eine Remedikalisierung der Behandlung von sexuellen Störungen einher (Clement 2004). Heutzutage ist es vor allem die pharmakologische Industrie, die Interesse an der Sexualforschung hat: mit dem Ergebnis, dass jetzt hauptsächlich untersucht wird, was bei sexuellen Herausforderungen von Menschen biologisch und physiologisch nicht stimmt. Das bedeutet, dass die vorherrschende Sicht der Wissenschaft geprägt ist von einem linearen Denken, bei dem eine bestimmte Ätiologie durch spezifische physiologische Prozesse zu einer Symptomatik führt, im Sinne von Stimulus und Respons. Diese Denkweise ist zu reduktionistisch, um gängige sexuelle Herausforderungen zu verstehen. Beispielsweise gibt es im klinischen Alltag öfters Männer, die unter Erektionsschwierigkeiten leiden und Viagra verschrieben bekommen. Es ist nicht ungewöhnlich, dass diese Männer es wieder absetzen und stattdessen mit Beschwerden über ein niedriges Lustempfinden erneut auftauchen (z. B. Hall 2004). Die Bedeutung eines Symptoms scheint wichtig zu sein, wird aber übersehen, wenn man nicht das ganze Bild betrachtet.
Die Systemtheorie bietet einen konstruktiveren Rahmen, in dem es eine Verschiebung von dem individuellen psychopathologischen Denken zu einem Ansatz gibt, der auf die Verhältnisse zwischen den Individuen fokussiert. Systemisch gesehen schaut man auf das große Ganze, das Gesamtsystem ist mehr als die Summe seiner Elemente. Der Akzent in der systemischen Sichtweise liegt nicht mehr auf einem einzelnen Teil, sondern verschiebt sich auf den Umgang der Teile miteinander. Die Beziehung zwischen Klienten wird sozusagen der eigentliche Klient. Interessant wäre es zu wissen, wie der Partner des gerade erwähnten Mannes mit ihm umgeht und ob es eventuell Beziehungskonflikte gibt, die das Symptom, die ausbleibende Lust, verständlicher machen. Es ist sinnvoll, sexuelle Symptome im größeren Kontext zu betrachten, und die systemische Sexualtherapie bietet einen guten Rahmen dafür.
Die Forschung konzentriert sich jedoch bisher auf die Frage, wie oft Paare durchschnittlich Sex haben – über alles andere weiß man nur wenig (von Sydow u. Seiferth 2015). Und Diskussionen darüber, was genau Sex ausmacht, illustrieren sehr gut, dass jeder seine eigenen Ideen, Gefühle und Normen hat. Keine zwei Menschen denken gleich darüber, weshalb es ein verzwicktes Thema sein kann. Inwieweit man die gegenseitigen Erwartungen erfüllen kann, hängt sehr viel von Kommunikation ab. Für einen Therapeuten sollte es klar sein, wer entscheidet und was richtig und wichtig ist: nämlich der Klient. Im Sinne von Anderson und Goolishian (1992) ist eine Haltung des »Nichtwissens« aufseiten des Therapeuten hilfreich, damit der Klient seine eigene Wahrheit finden kann. Es gibt schließlich nicht die »eine« Wahrheit. Dementsprechend muss der Therapeut neutral bleiben und nicht eine standardisierte Sichtweise verfolgen. Es gibt jedoch einen wichtigen Unterschied zwischen einer nichtwissenden Haltung der Neugierde und einem Therapeuten, der einfach nicht über ausreichendes Wissen für diese Arbeit verfügt. Es ist bedauerlich, wenn z. B. LGBTQ-Klienten ihre Therapeuten erst über ihren »anderen« Lebensstil aufklären müssen, weil eine Fülle an Forschungsliteratur zeigt, dass gerade diese Klienten mit der Behandlung in den psychologischen und psychiatrischen Diensten unzufrieden sind, in denen sie immer noch auf Vorurteile, Diskriminierung und offene Homo- und Transphobie stoßen (Butler 2009). Es liegt also in der Verantwortung des Therapeuten, sich Hintergrundwissen anzueignen. Man muss dabei kein Experte für LGBTQ-Angelegenheiten werden, denn auch homosexuelle Klienten kommen heute selten mit spezifischen Fragen in Bezug auf ihre sexuelle Orientierung in die Therapie, sondern haben die gleichen Fragen und Anliegen, mit denen heterosexuelle Klienten konfrontiert sind. Beziehungsprobleme sind im ganzen sexuellen Spektrum ähnlich (Kleinplatz 2013).
Es ist die Aufgabe des Therapeuten, die sich wiederholenden Muster, die Klienten in ungewollten sexuellen Dynamiken gefangen halten, zu unterbrechen und im Sinne der narrativen Systemtherapie die Klienten einzuladen, neue Geschichten zu erzählen, indem ihnen neue Fragen gestellt werden (Ogden 2012). Ein geringes sexuelles Verlangen kann ein gutes Urteilsvermögen widerspiegeln: Gesunde Menschen wollen keinen Sex, wenn es sich nicht lohnt, ihn zu wollen, oder wenn sie unter Druck stehen, ihn wollen zu müssen.
Allerdings ist Sex ein komplexes Phänomen. Es wird von biologischen, kulturellen, psychologischen und soziologischen Faktoren beeinflusst, für manche zählen auch noch religiöse Überzeugungen dazu. Der sexuelle Lebensverlauf kann sich wie eine spannende Entdeckungsreise anfühlen, kann aber auch eine Folge unerwarteter Enttäuschungen und Erlebnisse sein. Wie der sexuelle Entwicklungsprozess sich gestaltet, hängt u. a. davon ab, wie mit Sex zu Hause, in der Schule, im Austausch mit Freunden und in den Medien umgegangen wird – unser Umfeld prägt und beeinflusst uns sehr. In der Sexualforschung spricht man deswegen öfters von einem biopsychosozialen Modell.
Hinzukommt, dass niemals jemand die gleiche Sexualität hat wie ein anderer; keine zwei Menschen verfügen über die gleiche sexuelle Lebensbiografie, empfinden zur gleichen Zeit Lust oder werden durch genau die sexuellen Aktivitäten, die den Partner am meisten antörnen, erregt. Diese Verschiedenartigkeit kann man als bedrohlich ansehen und versuchen zu vermeiden, was bei vielen Paaren eine vorhersagbare – und vielleicht langweilige – Sexualität erzeugt. Wer sich nicht damit zufriedengeben möchte, findet gute Möglichkeiten, durch die systemische Sexualtherapie den Blick zu weiten.

1.1Die heteronormative Erzählung

Die Gründer der Sexualwissenschaft haben ein Modell der Sexualität konstruiert, dem wir nur schwer entkommen. Sie haben ein Modell angeboten, das insofern normativ war, als es heterosexuell, zeugungsfordernd und vor allem männlich orientiert war. Die weibliche Sexualität wurde stets als zweitrangig und responsiv gegenüber der männlichen Sexualität gesehen. Die Annahme war, dass es zwei deutlich voneinander abgegrenzte Kategorien gibt, nämlich Männer und Frauen, eine Dichotomie von Interessen, und diese »Wahrheit« wird in der heterosexuellen Struktur von Gesellschaft aufrechterhalten, wo alles andere als Abweichung von der Norm verstanden wird (Weeks 2017).
Obwohl Sex ein ständig präsentes öffentliches Thema ist, gibt es bei vielen Menschen weiterhin massive Wissenslücken (von Sydow u. Seiferth 2015). Viele Menschen messen Eigenschaften immer noch einem bestimmten Geschlecht zu. So wird beispielsweise Fürsorglichkeit als ein »weibliches« Verhalten bezeichnet. Wenn es als Persönlichkeitsmerkmal von Geburt an vorhanden ist, wird es durch den aktuellen Zeitgeist bei Jungen ignoriert oder ruft sogar negative Assoziationen vorher, während es bei Mädchen bestätigt und belohnt wird. Wenn dann das Sexualverhalten später außerhalb der Geschlechterrollenstereotypen verläuft, stellen Menschen oft ihre eigene Identität und Sexualität infrage. Theorien, Überzeugungen und Mythen über die Unterschiede zwischen Frauen und Männern ergeben fast eine Karikatur von »männlicher« und »weiblicher« Sexualität, in der sich Männer allein für Sex interessieren und Frauen nur durch liebevolle Intimität sexuell erregt werden können. Als ob Männer nicht auch Zärtlichkeit bräuchten und Frauen keinen Sex haben könnten, ohne dass er beziehungsorientiert ist. Trotzdem wird der Mann oft als der sexuell aktive Part dargestellt und die Frau als sexuell passiv.
»Maskulin« und »feminin« sind im Grunde relative Begriffe, weil sie miteinander in Beziehung stehen, sie ergeben nur Sinn im Vergleich zum anderen. Es wird dann unvermeidbar, dass auch normative Definitionen von Sexualität durch diese Beziehung strukturiert werden und eine Privilegierung von Heterosexualität nach sich ziehen. Es kommt dadurch zu einer Art institutionalisierter Heterosexualität. Bei Menschen, die den durch diese Begriffe geprägten scheinbaren Rahmen von Männlichkeit und Weiblichkeit verletzen oder gar sprengen, indem sie zum Beispiel einen mehr androgynen oder nonbinären Eindruck vermitteln bzw. sich transgeschlechtlich fühlen, geht es um die ultimative Grenzüberschreitung, die auf viele so herausfordernd wirkt (Weeks 2017). Es geht gegen alles, was wir gelernt haben. Aber auch die große Mehrheit der anderen leidet unter dieser heterosexuellen Norm, die z. B. beinhaltet, wie ein »echter« Mann zu sein hat. Wir sind irgendwie alle Abweichungen von dem perfekten Ideal, der uns vorgeführt wird, versuchen uns aber so gut wie möglich anzupassen.

1.1.1Es gibt nur ein Geschlecht

Gerade die weibliche Sexualität war dabei schon immer ein Problem und für viele Sexualwissenschaftler im Westen ein Rätsel. Von der Antike bis ins 18. Jahrhundert gab es außerdem nur ein Geschlecht, nämlich das männliche, und Frauen wurden als umgekehrte Version der Männer gesehen (Laqueur 1990). Historisch betrachtet ist also das Verständnis von zwei Geschlechtern relativ neu. Seit dem 18. Jahrhundert gilt vorrangig die Sichtweise, dass Frauen – und ihre Sexualität – grundlegend anders seinen als Männer, aber ihre Sexualität im Prinzip die männliche ergänze. Das heißt reaktiv vs. spontan, responsiv vs. aktiv, hervorgerufen durch einen »Fortpflanzungsinstinkt« oder durch die Kompetenz des Werbers (Weeks 2017).
Diese Idee hat sich in vielen Bereichen unserer Gesellschaft durchgesetzt und lässt sich nicht einfach löschen. Auch in mancher Forschung werden biologische Argumente benutzt. Deren evolutionäre Perspektive kennt viele Anhänger und ist gleichzeitig zutiefst konservativ in den Auswirkungen. Obwohl diese Perspektive durchaus nützlich sein kann, ist ihr Wert begrenzt, wenn man damit menschliche Sexualität erklären will. Deren Einzigartigkeit liegt ja gerade darin, dass sie sich weit von der Fortpflanzung entkoppelt hat und man auch in Zeiten, in denen die Sexualität nicht zu Fortpflanzung führen kann, sexuell interessiert und erregt sein kann (von Sydow u. Seiferth 2015).

1.1.2Die evolutionäre Perspektive

Wenn man der biologischen und evolutionären Perspektive folgt, dass Männer einen Trieb besitzen, um für reproduktive Zwecke so viel Samen wie möglich zu verbreiten, und Frauen ein Interesse daran haben, ihre Energie für Schwangerschaften zu bewahren, und deswegen von Natur aus monogam angelegt sind, sind feministische Wünsche nach Gleichberechtigung utopisch und eine klare Rollenverteilung der beiden Geschlechter ergibt Sinn (Weeks 2017). So einleuchtend die evolutionäre Perspektive erscheinen kann, genauso schwierig ist es, ihr Gegenteil zu beweisen.
Aber auch die evolutionäre Theorie ist eben eine solche und nicht beweisbar – sie ist allerdings in höchstem Maße suggestiv. Es stimmt, dass Männer im Durchschnitt sexuell aktiver sind, und vielleicht liegt es an den Genen. Aber es könnte genauso gut etwas mit unserer Kultur zu tun haben. Durchschnittszahlen sind gleichzeitig wahr und dennoch nicht sehr hilfreich. In der realen Welt, in der wir leben, ist alles etwas komplexer (Weeks 2017).
Während einzelne Forscher Erregbarkeit weiterhin dichotomisch verstehen – männliche Erregung als spontan, die weibliche als responsiv –, vertritt die jüngere Forschung die Ansicht, dass Erregbarkeit nicht geschlechtsspezifisch sei. Stattdessen könne Erregbarkeit besser erklärt werden durch die Erregung fördernde oder hemmende Faktoren, wobei die einzige Differenz die Stärke des Stimulus sei (Meana 2010). Aber viele Menschen fühlen sich von dem Thema und den möglichen Folgerungen überwältigt und bevorzugen weiterhin einfache Antworten auf schwierige Fragen.

1.1.3Gesellschaftliche Einflüsse auf das Sexualverhalten

Wenn bei Partnern eine Diskrepanz in Bezug auf das Begehren vorliegt, passiert es vor allem bei heterosexuellen Paaren häufig, dass die Frau Sex nicht unbedingt als etwas sieht, das sie für sich tut. Es hat sehr viel mit der oben genannten »Erzählung« zu tun, dass Männer die sexuell Aktiven seien und Frauen die Passiven. Tatsächlich bewirkt solch eine Vorstellung, dass viele Frauen an Sex als etwas denken, das sie für jemand anderen tun; als Gefallen, um den Beziehungsfrieden nicht zu stören oder um das Ego des Partners zu schützen. Frauen ordnen nicht selten ihre Bedürfnisse denen des Partners unter, und ihre eigene Lust scheint ihnen eine ziemlich komplizierte Angelegenheit zu sein (Stirn u. Pika 2016). Das hat u. a. damit zu tun, auf welche Art viele Mädchen immer noch erzogen werden und welche Werte und Botschaften sie von Haus aus mitbekommen. Zusätzlich verstärkt werden diese durch das dominante Narrativ in den Medien. Jugendliche werden schon vor und während der Pubertät heterosexuellen »Drehbüchern« und Skripten ausgesetzt, in denen schwule, lesbische oder bisexuelle Personen höchstens im Hintergrund auftreten, wodurch die Heterosexualität als Norm umso klarer hervortritt. So kommt es heutzutage zu einer ungewöhnlich frühen expliziten und offensiven heterosexuellen Sozialisation (Schmidt 2014).
Selbstverständlich fördert dies die gefährliche Erzählung, dass für Männer Sex das Wichtigste wäre, für Frauen jedoch die Beziehung. Frauen werden nicht erzogen zu denken, dass Sex für sie gut sei, sondern dass es etwas sei, worin sie gut sein müssen. Ein süßes Mädchen ist eines, das für andere da ist, und entwickelt sich nicht zu einer Frau, die Sex liebt! Und wer kann schon die Leidenschaft am Leben halten, wenn es dein Ziel sein soll, anderen zu gefallen (Ogden 2008)? Wenn man mit der Botschaft groß geworden ist, dass man als Frau eigene Wünsche und Bedürfnisse zur Seite stellen sollte, kann es sehr schwierig werden, mit der eigenen Sexualität in Kontakt zu bleiben. Außerdem haben viele Mädchen schon im jungen Alter sexuelle Beziehungen, um den anderen einen Gefallen zu tun, während sie selber dafür noch nicht bereit sind und nicht wissen, welche Bedingungen für sie wichtig sind, um Sex genießen zu können (van Lunsen e. Laan 2017).
Frauen können außerdem schnell das Gefühl bekommen, dass es sich hierbei nur um kleine Opfer handelt, die man um des lieben Friedens willen bringt. Aber wenn diese aufopferungsvolle Einstellung sich auf die Sexualität bezieht, ist dies ein sicherer Weg, um auf die Dauer sexuell uninteressiert zu werden und am Ende gar kein Begehren mehr zu spüren. Wenn jemand sich selber ein paar Mal so in die zweite Reihe gestellt hat, indem er oder sie nur das macht, was der Partner möchte, kann ein Mangel an sexuellem Vergnügen zu einem Teufelskreis werden (Hall 2004).
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Abb. 1: Teufelskreis
Dazu kommt noch die Tatsache, dass sehr viele Frauen frühe Erfahrungen mit übergriffigem Verhalten haben, das vielleicht keine direkte Kinderschändung oder Vergewaltigung, aber trotzdem grenzüberschreitend war und dazu beigetragen hat, dass sie glauben, dass Männer von Frauen vor allem Sex wollen. Und zu viele Mädchen und Frauen haben Sex mit dem Ziel, ein Verhältnis zu beginnen, zu bewahren oder wiederzubeleben. Dann ist Sex kein intimer Akt mehr, sondern wird instrumentalisiert, als Mittel zum Zweck (Hall 2004). Manche Frauen können es kaum aushalten zu wissen, dass ihr Mann sich schwer damit tut, sexuell abgewiesen zu werden, und meinen dann, sie müssten seinetwegen bald Sex haben. Das Problem bei solchen Gedankengängen (und noch mehr bei deren Umsetzung) ist, dass es die Frau noch weiter von ihrer eigenen Lust entfernt und einem erstickenden Pflichtgefühl für Sex näherbringt.

1.1.4Frauen kommen zu kurz

Die meisten Menschen tun nicht das, wonach sie sexuell verlangen, sondern das, von dem man ihnen beigebracht hat, dass sie es tun sollten (Perel 2016). Ein Mangel an Lust bedeutet z. B. nicht unbedingt einen Mangel an Sexualität: Ein großer Teil der heterosexuellen Frauen hat mehrmals im Monat Sex, ob sie daran interessiert sind oder nicht. Viele Frauen fühlen sich unter Druck gesetzt, Geschlechtsverkehr in ihren intimen Beziehungen zu haben, und der Druck wird durch die Betonung des Sexuellen in unserer Gesellschaft unterstützt (Hall 2004). Hinzu kommt, dass bis heute noch viele Frauen sich damit schwertun, dem Partner Anleitungen für ihre Befriedigung zu geben ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Vorwort
  6. 1 Einleitung
  7. 2 Besonderheiten der systemischen Sexualtherapie
  8. 3 Die erotische Kompetenz
  9. 4 Fremdbestimmt, partnerbestimmt, selbstbestimmt
  10. 5 Lust in der Beziehung
  11. 6 Die sexuelle Interaktionsfähigkeit
  12. 7 Therapeutisches Handwerk
  13. 8 Das erotische Profil
  14. 9 Schlusswort
  15. Literatur
  16. Über die Autorin