Bildungsungleichheiten zwischen Schule und Familien
JĂŒrgen Budde
1 EinfĂŒhrung
Erziehungswissenschaftliche Studien verweisen wiederholend auf die Tradierung von Bildungsungleichheit entlang sozialer Differenzkategorien wie Geschlecht, Milieu oder Migrationshintergrund (vgl. Melzer 1997; Deutsches PISA-Konsortium 2003), wobei in diesem Zusammenhang dem Zusammenwirken von Schule und Familie groĂe Bedeutung zukommt. Schule und Familie werden zumeist als getrennte Institutionen mit unterschiedlichen Logiken und Funktionen verstanden. WĂ€hrend Familien durch emotionale FĂŒrsorge und binnenorientierter Zusammengehörigkeit charakterisiert werden (vgl. Tyrell 1983), orientiert sich Schule an der Qualifikation, Allokation und Selektion der SchĂŒler/innen durch Leistung (vgl. Fend 2006). In der Praxis lassen sich jedoch zahlreiche VerschrĂ€nkungen von Schule und Familie beobachten. Entgegen einer festgelegten Trennung der Institutionen Schule und Familie scheint es plausibel, Ăhnlichkeiten und Ăberschneidungen der Praktiken beider Institutionen anzunehmen und nicht von zwei getrennten Systemen auszugehen. Da weder die Schule noch die Familie die alleinige Reproduktionsinstanz von Bildungsungleichheit ist (vgl. Willis 1979), interessiert sich der Beitrag fĂŒr jene Praktiken, in denen Bildungsungleichheiten prozessiert werden und fokussiert dafĂŒr auf die Schnittmenge von Familie und Schule. Dazu werden zuerst Ăberlegungen zur institutionellen Schnittmenge angestellt und diese dann mit Blick auf Bildungsungleichheiten theoretisiert. Die anschlieĂende praxistheoretische Fundierung methodologisiert dann den Blick auf die Institutionen. Anhand exemplarischer ethnographischer Untersuchungen werden die theoretischen Ăberlegungen empirisch untermauert und insbesondere auf die Relationierung von Erziehungs- und Bildungspraktiken zwischen Familien sowie zwischen Schule und Familie fokussiert.
2 Die Schnittmenge von Familie und Schule
Familie und Schule gelten zu Recht als zwei bedeutsame Institutionen, an denen Kinder und Jugendliche in institutionalisierte Erziehungs- und Bildungspraktiken eingebunden sind. Strukturfunktionalistisch lassen sich Schule und Familie als die zwei zentralen Funktionssysteme verstehen, denen die Aufgabe der gesellschaftlichen Integration der nachwachsenden Generation durch Erziehung und Bildung zukommt, wobei die Annahme vertreten wird, dass sie sich wie Gegenwelten zueinander verhielten (vgl. Parsons 2012; auch Wernet 2003). Tyrell und Vanderstraeten (2007) identifizieren fĂŒnf strukturelle Trennungsmerkmale von Schule und Familie: So unterscheiden sich diese rĂ€umlich, zeitlich, systemreferenziell, personell sowie in der Eigendynamik der Kinder voneinander. Diese Bestimmungen weisen beiden Institutionen dabei spezifische, komplementĂ€re Funktionen zu: Schule als öffentlicher Ort formalisierter Bildungsprozesse, Familie als privater Ort von Erziehung und FĂŒrsorge. Solche differenzstabilisierenden Vorstellungen von Familie oder der Schule verdecken allerdings den Blick auf das âInnenlebenâ wie auch auf die unscharfen Grenzen von Institutionen. Denn legte man wie die Strukturtheorie zugrunde, dass Schule die Institution der öffentlichen Bildung sei und Familie der Ort der FĂŒrsorge und Reproduktion, dann wird weder die praktische Herstellung sichtbar noch die Schnittmenge der Institutionen. Ginge man in dieser Weise vorab kategorisierend vor, so riskierte man, lediglich scheinbar bekannte Zuordnungen von Praktiken der Erziehung und Bildung vermeintlich zur Familie oder Schule zu bedienen. Auch die aktuelle komplementĂ€re Doppelbewegung der âFamilialisierung der Schuleâ sowie der âScolarisierung auĂerschulischer Lebensweltenâ weist auf die VerschrĂ€nkung von Erziehungs- und Bildungspraktiken hin. Damit einher geht eine âTransformation der Schuleâ (Idel et al. 2013) wie auch eine Transformation der Familie (Honig 2010), sodass die Trennung nicht scharf zu ziehen ist, sondern sich die Institutionen in stĂ€ndiger Transformation befinden und unscharfe Grenzen haben. Mit neoinstitutionalistischen Theorien (vgl. Meyer und Rowan 1977) oder AnsĂ€tzen wie der âinstitutional ethnographyâ (Smith 2006) erscheint es hingegen sinnvoll, eine solche Bestimmung der Institution entlang ihrer Praxis (und nicht ihrer Funktion) anhand von âruling relationsâ (Smith 2006: 32) vorzunehmen.
An diese Ăberlegungen anschlieĂend ist davon auszugehen, dass auch die in Praktiken hervorgebrachten sozialen Ordnungen nicht als isolierte Feldlogiken von klar voneinander abgrenzbaren Institutionen angenommen werden können, sondern dass alle Institutionen Schnittmengen bilden. Nadai und Koch sprechen in diesem Zusammenhang von âZwischenrĂ€umenâ (Nadai und Koch 2011: 234; auch Heinzel 2003). Diese ZwischenrĂ€ume lassen sich (auch in einem rĂ€umlichen Sinne) als Schnittmengen fassen, die sich unter Bezug auf implizite wie explizite Normvorstellungen und Verhaltenserwartungen beider Institutionen in Erziehungs- und Bildungspraktiken konstituieren. Durch praktische AnlĂ€sse vermitteln sich Erziehungs- und Bildungsvorstellungen der Schule an die Familien und anders herum Bildungs- und Erziehungserwartungen der Familien an die Schule und transformieren sich dabei zu je eigenen sozialen Ordnungen der Schnittmenge. Dieses VerhĂ€ltnis ist nicht linear oder komplementĂ€r, vielmehr existiert ein enges Geflecht zwischen beiden Institutionen, welches auch als Koproduktion verstanden werden kann.
Die zahlreichen VerschrĂ€nkungen von Schule und Familie (vgl. Busse und Helsper 2008) werden gegenwĂ€rtig beispielsweise unter der normativ aufgeladenen Rede von einer âErziehungspartnerschaftâ beider Institutionen verhandelt. Dabei mĂŒsste schon der Begriff der Partnerschaft darauf aufmerksam machen, dass weder die formalen Funktionen noch die tatsĂ€chliche praktische Trennung eindeutig geregelt sind. So wie Schule âimmer auchâ erzieht, so bilden Familien âimmer auchâ ihre Kinder. Bennewitz und Wegner (2015) beispielsweise weisen in einer explorativen ethnografischen Studie zu LernentwicklungsgesprĂ€chen mit Lehrpersonen, Eltern und Kindern darauf hin, dass die Verantwortung fĂŒr das Scheitern jeweils der anderen Institution zugesprochen wird. Dabei sind die Schwierigkeiten schon in der Konzeption der GesprĂ€che (als âgleichberechtigter Dialogâ) angelegt und können nicht auf mangelnde GesprĂ€chskompetenzen der Lehrperson oder der Eltern zurĂŒckgefĂŒhrt werden. Heinzel (2003: 107) wiederum zeigt, dass einige Eltern Vorbehalte gegenĂŒber der Thematisierung familialer Bildungs- und Erziehungspraktiken in institutionellen âZwischenrĂ€umenâ wie etwa dem Morgenkreis haben. Das VerhĂ€ltnis von Schule und Familie gerĂ€t so als âFrage der Relationierungâ (Wernet 2003: 76f.) und der Koproduktion der Schnittmenge beider Institutionen zueinander in den Blick.
3 Bildungsungleichheiten zwischen Familie und Schule
BekanntermaĂen weist Bourdieu zur KlĂ€rung der Frage nach der Produktion von Bildungsungleichheit darauf hin, dass kulturelles Kapital durch die Eltern an Kinder weitergegeben wird und sich so der familiale Bildungshabitus weitervererbt (vgl. Bourdieu und Passeron 1971). Schon Bernstein (1990) zeigt auf, wie die Schule durch ihren privilegierten Diskurs jene milieubedingten Ungleichheiten reproduziert, die sie eigentlich aufzuheben versucht. Maaz und andere lokalisieren Bildungsungleichheiten in familiar verbĂŒrgten âdifferenziellen Lern- und Entwicklungsmilieusâ (Maaz et al. 2010), die den Kindern und Jugendlichen je nach sozialer Position der Familie unterschiedliche Bildungsressourcen bereitstellen können und unterschiedliche Bildungsentscheidungen auf der Grundlage von Kosten-Nutzen-KalkĂŒlen treffen. Aus einer ungleichhheitsinteressierten Perspektive sind somit die ZusammenhĂ€nge zwischen Familien und Schule von hohem Interesse. Allerdings fĂŒhrt eine statische GegenĂŒberstellung beider Institutionen dazu, erstens die Differenzen ĂŒberzubetonen und zweitens ihre jeweiligen Funktionen und deren Unterschiedlichkeit bereits ebenso vorab kategorial zu bestimmen.
In den letzten Jahren sind zahlreiche Studien durchgefĂŒhrt worden, die auf Seiten der Schule die Reproduktion von Bildungsungleichheit entlang sozialer Differenzkategorien (wie Geschlecht, Milieu oder Migrationshintergrund) in den Blick nehmen und die ĂŒber relativ starre Reproduktionstheorien hinausweisen (vgl. BeitrĂ€ge in BrĂ€u und Schlickum 2015; Koller et al. 2014; Budde 2013b). Die Reproduktion von Bildungsungleichheit entlang von Migrationshintergrund (vgl. z.B. Gomolla und Radtke 2007) oder Geschlecht (vgl. z.B. Budde et al. 2008; auch die BeitrĂ€ge in KrĂŒger 2011) ist breit nachgewiesen. Weiter orientieren sich schulische Leistungsordnungen insbesondere an bĂŒrgerlichen Vorstellungen und sind deswegen SchĂŒler/innen aus unterprivilegierten Milieus oftmals weniger zugĂ€nglich (vgl. z.B. Gellert 2013). Ebenfalls sind stereotype und ungleichheitsverschĂ€rfende Orientierungen bei Lehrpersonen (vgl. z.B. Sturm 2015) sowie die Produktion von Differenzen im Unterricht dokumentiert (vgl. z.B. Budde 2013a). HeterogenitĂ€tsorientierte Transformationen der Schule in Richtung Offenen Unterrichts (vgl. z.B. Breidenstein und Rademacher 2016) oder etwa Inklusion (vgl. z.B. HĂ€cker und Walm 2015) scheinen (trotz der damit verknĂŒpften Hoffnungen auf Abbau von Ungleichheit) daran wenig Ă€ndern zu können. Die Rede ĂŒber den Wandel vom âkatholischen ArbeitermĂ€dchen vom Landeâ zum âJungen mit (tĂŒrkischem) Migrationshintergrund aus der GroĂstadtâ belegt zusĂ€tzlich, dass soziale Differenzkategorien miteinander verschrĂ€nkt sind (vgl. GeiĂler 2005), wie Studien zur intersektionalen VerschrĂ€nkung unterschiedlicher Differenzkategorien zeigen (vgl. Riegel 2016), die beispielsweise Verwobenheiten von Geschlecht und Migrationshintergrund (vgl. Weber 2009) oder Behinderung und EthnizitĂ€t (vgl. Powell und Wagner 2014) bzw. Leistung (vgl. Dederich 2015) herausarbeiten. Soziale Differenzkategorien lassen sich als machtförmige soziale Konstruktionsprozesse verstehen, in denen sich (je nach Kontext unterschiedliche) Hierarchisierungen ausdrĂŒcken, die zu Bildungsungleichheit kulminieren (vgl. Budde 2012b). In manchen Studien wiederholt sich jedoch das Problem der deduktiven Setzung von Differenzkategorien, wie es oben bereits fĂŒr die stabile Zuschreibung je spezifischer Funktionen zu Bildungsinstitutionen problematisiert wurde (vgl. Budde 2012a). Denn legt man soziale Differenzkategorien vorab kategorisierend zugrunde, dann gerĂ€t aus dem Blick, dass diese immer ihrer Prozessierung in sozialen Praktiken bedĂŒrfen und insofern âsoziale Konstruktionenâ sind.
Auch auf Seiten der Familien liegen einige Studien vor. Fuchs beispielsweise zeigt, dass âFamilienerziehung von Strukturen der sozialen Ungleichheit durchzogenâ (Fuchs 2012: 325) ist. Entsprechend ihres âFamilienstilsâ â so MĂŒller â halten Familien âin AbhĂ€ngigkeit von den sozialstrukturellen, kulturellen und biographischen Interdependenzen [âŠ] unterschiedliche Bildungspotenziale bereitâ (MĂŒller 2013: 404). In diesem Sinne werden im aktuellen Diskurs insbesondere unterprivilegierte Familien als âBildungsrisikoâ betrachtet, da sie nicht ausreichende BildungsunterstĂŒtzung zu mobilisieren vermögen. An dieser Stelle setzt eine zentrale Argumentation pro Ganztagsschule an, weil diese die Zeit, die benachteiligte Kinder in ihren (als problematisch identifizierten) Familien verbringen, reduziert und dieser Tatsache ungleichheitsminimierende Effekte zugeschrieben werden (vgl. Scholz und Reh 2009). Als Problemgruppe tauchen Eltern aber auch in Debatten um ĂŒberbehĂŒtete Kindheiten im Kontext âverantworteter Elternschaftâ (Schneider et al. 2014) auf. Bekannt ist das sogenannte âhelicopter-parentingâ (Levine 2006). Hier geraten jene Eltern in den Fokus, die ihre Kinder in besonders intensiver Weise begleiten und sich auf diese Weise mit ihren familialen Erziehungs- und Bildungspraktiken weit in schulische Belange einmischen und dadurch die Ordnungsbildung in der Schnittmenge maĂgeblich prĂ€gen. WĂ€hrend der Diskurs um âProblemelternâ vor allem unterprivilegierte Milieus in den Blick nimmt, werden âHelikopterelternâ insbesondere in privilegierten Milieus identifiziert (Betz et al. 2017).
Zum Abbau von Bildungsungleichheit wird oftmals eine âgelingende Kooperationâ von Schulen und Familien âauf Augenhöheâ eingefordert (vgl. Coleman 1998; Böllert 2008; FĂŒrstenau und Hawighorst 2008; Frank und Sliwka 2016; Melzer 1997; kritisch: Bischoff und Betz 2015). Voraussetzung dafĂŒr sei eine reflexive Anerkennungshaltung und eine gelingende Kommunikation (vgl. FĂŒrstenau und Hawighorst 2008). Im Gegensatz zu diesen affirmativen Appellen weisen rekonstruktive Studien allerdings auf Grenzen hin. Bereits die Studie von Willis (1979) zeigt das Zusammentreffen familialer und schulischer Bildungspraktiken, die in (Selbst)Exklusionsprozesse von Arbeiterjugendlichen mĂŒnden, und belegt so die Koproduktion von Bildungsungleichheit entlang der Kategorie Milieu. Betz und Kayser (Betz und Kayser 2015) zeigen in einer explorativen Interviewstudie, dass Vorstellungen von einem âguten VerhĂ€ltnisâ milieuspezifisch unterschiedlich konturiert sind. WĂ€hrend Eltern aus privilegierten Milieus emotionale QualitĂ€ten im KooperationsverhĂ€ltnis betonen, legen Eltern aus unterprivilegierten Milieus Wert auf die FunktionalitĂ€t von Schule. Daraus leiten die Autorinnen milieuspezifische Ungleichheitseffekte ab. Auch Buchna und andere (Buchna et al. 2015) verweisen auf milieuspezifische Differenzen, nach denen in Schulen mit privilegierter SchĂŒlerschaft die Eltern als engagiert gelten und partnerschaftliche Erziehungsvorstellungen dominierten, wĂ€hrend sich Schulen mit unterprivilegierter SchĂŒler/innenschaft als Kompensationsangebot fĂŒr familiale Erziehungsdefizite verstĂŒnden und...