Charité 91
eBook - ePub

Charité 91

Schritte in eine neue Zeit

  1. 240 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
eBook - ePub

Charité 91

Schritte in eine neue Zeit

Angaben zum Buch
Buchvorschau
Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

Anfang 1991, die Nachbeben der Wende haben Deutschland noch voll im Griff, trifft der Professor für Neurologie am Klinikum Charlottenburg, Hans Wolfgang Kölmel, die Entscheidung, sich für eine Stelle als Neurologe in den neuen Bundesländern zu bewerben. Er erhält das Angebot, als kommissarischer Direktor der Klinik für Neurologie an die Charité zu wechseln, an das einzigartige Krankenhaus, dessen Weltruf einst von Medizingrößen wie Rudolf Virchow, Emil Adolf von Behring, Paul Ehrlich, Robert Koch und Ferdi­nand Sauerbruch begründet worden war und das in den vierzig Jahren der DDR, nur wenige Meter von der Berliner Mauer, seine Arbeit unter schwierigen Bedingungen fortgesetzt hatte. Ihr Weltruhm schützt die Charité nicht davor, wie viele Betriebe der DDR in den ersten Jahren nach der Wende einen schwierigen Prozess des Umbruchs zu 8 durchlaufen. Ihre arbeitstechnischen Strukturen sind erschüttert, die Menschen zutiefst verunsichert. Der Autor beschreibt die Spannung und die Angst, die in Sitzungen geherrscht hat, die Entfernung von informellen Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit, die Bespitzelung Einzelner, die zur Verzweiflung führt, bis hin zum Suizid. Kölmel schildert aber auch die teils dramatischen, teils komisch anmutenden Versuche, die Klinik aus dem Zustand zunehmender Erstarrung zu führen. Exemplarisch lässt Kölmel seine ersten sechs Monate an der Charité Revue passieren, lässt den Leser ihn auf seinen ersten Schritten in ein Neuland begleiten. Die Beschreibungen von Personen, Situationen und Räumen sind dabei häufig gestochen scharf, mit Lust am Detail, nicht ohne eine Portion Humor.

Häufig gestellte Fragen

Gehe einfach zum Kontobereich in den Einstellungen und klicke auf „Abo kündigen“ – ganz einfach. Nachdem du gekündigt hast, bleibt deine Mitgliedschaft für den verbleibenden Abozeitraum, den du bereits bezahlt hast, aktiv. Mehr Informationen hier.
Derzeit stehen all unsere auf Mobilgeräte reagierenden ePub-Bücher zum Download über die App zur Verfügung. Die meisten unserer PDFs stehen ebenfalls zum Download bereit; wir arbeiten daran, auch die übrigen PDFs zum Download anzubieten, bei denen dies aktuell noch nicht möglich ist. Weitere Informationen hier.
Mit beiden Aboplänen erhältst du vollen Zugang zur Bibliothek und allen Funktionen von Perlego. Die einzigen Unterschiede bestehen im Preis und dem Abozeitraum: Mit dem Jahresabo sparst du auf 12 Monate gerechnet im Vergleich zum Monatsabo rund 30 %.
Wir sind ein Online-Abodienst für Lehrbücher, bei dem du für weniger als den Preis eines einzelnen Buches pro Monat Zugang zu einer ganzen Online-Bibliothek erhältst. Mit über 1 Million Büchern zu über 1.000 verschiedenen Themen haben wir bestimmt alles, was du brauchst! Weitere Informationen hier.
Achte auf das Symbol zum Vorlesen in deinem nächsten Buch, um zu sehen, ob du es dir auch anhören kannst. Bei diesem Tool wird dir Text laut vorgelesen, wobei der Text beim Vorlesen auch grafisch hervorgehoben wird. Du kannst das Vorlesen jederzeit anhalten, beschleunigen und verlangsamen. Weitere Informationen hier.
Ja, du hast Zugang zu Charité 91 von Hans Wolfgang Kölmel im PDF- und/oder ePub-Format sowie zu anderen beliebten Büchern aus Sozialwissenschaften & Soziologie. Aus unserem Katalog stehen dir über 1 Million Bücher zur Verfügung.

Information

Jahr
2019
ISBN
9783955102081

Auf den Stationen

Vorsichtig tastete ich mich an Gewohnheiten und Eigenheiten meiner ärztlichen Mitarbeiter heran. Nur nicht den Eindruck eines Herren aus dem Westen erwecken. Etwa eines Herren, der alles besser weiß. Später konnte dieses Verhalten allerdings auch als unnahbar und stolz interpretiert werden.
Für die ersten Tage in der Klinik hatte ich den leitenden Oberarzt gebeten, mich doch bei den Visiten auf den Krankenstationen zu begleiten. Er, ein mäßig schlanker, hoch gewachsener Mann mit weichen, leicht pastösen Gesichtszügen, war etwa so alt wie ich. Vielleicht war er auch etwas älter. Bei den Gesprächen mit mir schaute er oft auf die Uhr. Wenn die Visiten beendet waren, verschwand er umgehend. Für Nachbesprechungen fand sich kaum Zeit. Vielleicht zog er sich in sein Zimmer zurück.
Erst im Laufe der Tage gab man mir Hinweise, dass ihm bis zu meinem Erscheinen in Ermangelung geeigneter Bewerber die Leitung der gesamten Neurologie übertragen worden war. Möglicherweise hatte man sie ihm im Hinblick auf den anhaltenden Exodus leitender Ärzte sogar endgültig in Aussicht gestellt. Er hatte sich also durch meine Anwesenheit unversehens wieder in seine ursprüngliche Funktion, in die eines Oberarztes, einzuordnen, musste sich meine Einschätzungen und Wünsche anhören. Den Eindruck, ich gäbe Anordnungen, versuchte ich so weit wie möglich zu vermeiden.
Aber wer tritt schon gerne, nachdem man sich in vorderster Linie abgemüht und bewährt hat, wieder in das zweite Glied zurück? Und außerdem, was hätte ich ihm schon sagen können, was sollte ich ihm an Fachwissen voraushaben? Hatte die unterschiedliche Zugänglichkeit zu Lehrbüchern und wissenschaftlichen Zeitschriften Auswirkungen auf die Ausbildung gehabt? Das Gespräch mit den Patienten und die neurologische Untersuchung am Krankenbett konnten sich im Westen oder Osten nicht so unterschiedlich entwickelt haben.
Unterschiedliche Auffassungen, gerade wie man dem Patienten begegnet, gab es dann schon. Das blieb mir nicht verborgen. Während ich mich im Laufe der Visiten gerne mal an den Rand des Bettes setzte, um mir ausführlicher die Leidens- und auch etwas von der Lebensgeschichte des Patienten berichten zu lassen, pflegten die Oberärzte einen deutlichen, auch räumlichen Abstand. Man besprach nur das absolut Notwendige. Viel zu schnell verschwanden sie wieder in ihren eigenen vier Wänden. Tatsächlich erhoffte ich mir, ohne dies auszusprechen, mehr erkennbare Empathie.
Zu meiner Überraschung teilte mir der Oberarzt nach der vierten Woche mit, er werde demnächst die Klinik verlassen. Er habe die leitende Position in einer Rehabilitationsklinik im Norden Berlins angeboten bekommen. Auf der einen Seite musste ich Verständnis für seine Entscheidung aufbringen, gleichzeitig empfand ich sie als Angriff. War ich es, der ihn schon nach so kurzer Zeit vertrieben hatte? War ihm seine wieder zurückgesetzte Position leid geworden? Hatte ich seine Arbeit nicht ausreichend gewürdigt? Oder wollte er etwa einer Entlassung zuvorkommen? Seine auffällige Vernetzung im gesamten Klinikum war mir nicht entgangen. Nach meinen jüngsten Erfahrungen nicht in jedem Fall ein gutes Zeichen.
Aber auch auf Zureden war er nicht zu halten, seine Entscheidung stand fest. Im Nachhinein musste ich seine Flexibilität würdigen. Ging sie doch vielen Menschen ab, weil sie sich in der DDR und so auch an der Charité, gewiss in Ermangelung von Alternativen, eingerichtet hatten. Die meisten hofften, diese Situation hielte auch nach der Wende und bis zum Erreichen des Ruhestandes an. Warum auch nicht?
Der Weggang dieses wichtigen und in der Klinik beliebten Arztes wurde von den Kollegen, den Schwestern und Pflegern bedauert. Ich konnte ohne Weiteres davon ausgehen, dass dies mir angelastet, mir übelgenommen würde. Tatsächlich war der Verlust eines derart erfahrenen Arztes in jedem Fall schwer zu verkraften. Ein Ersatz zudem nicht in Aussicht. Bewerbungen um solch einen Posten lagen weder aus dem Osten noch aus dem Westen vor. Noch schien es absolut unattraktiv, sich an der Charité um eine Stelle, selbst um die eines Oberarztes, zu bewerben. Die herrschende Unordnung, die ungelöste Frage nach der Zukunft des Klinikums, die drohenden Kontrollen mussten sich herumgesprochen haben. Jeder ärztliche Mitarbeiter musste nach Anordnung der Klinikverwaltung ein Evaluierungsverfahren durchlaufen. Verlangt waren Angaben nach der etwaigen Zugehörigkeit zur SED oder gar zum Ministerium für Staatssicherheit. Außerdem wurde nach der Qualität der bisher geleisteten wissenschaftlichen Arbeit gefragt. Die allgemeine Verunsicherung beherrschte jedes Gespräch.
Blieben mir noch die beiden anderen Oberärzte, der eine frisch und zupackend, der andere zurückhaltend, auch was Entscheidungen anbelangt, dafür mit breitem neurologischen Wissen ausgerüstet. Die anderen leitenden Ärzte in den sogenannten Funktionsabteilungen der Klinik waren kaum oder nicht in die Krankenversorgung eingebunden. Da mir ihr Status, ob sie nun dem gesamten Zentrum oder speziell der Neurologie zugeordnet waren, unklar blieb, wollte ich mich vorerst nicht einmischen. Ich konnte auch kein Interesse dieser Ärzte erkennen, sich nach meinem Erscheinen häufiger auf den neurologischen Stationen sehen zu lassen. Vielleicht aus Scheu vor neuen Aufgaben oder auch vor mir.
Was die beiden Oberärzte der Neurologie anbelangt, musste das vorerst für die klinische Versorgung ausreichen. Vielleicht hatten sich die beiden in den zurückliegenden Monaten etwas zu selten auf den Stationen sehen lassen. Das musste sich jetzt ändern.
Wie die Ärzte tatsächlich zu mir standen, wie sie meine Funktion interpretierten, war nur schwer zu ergründen. In jedem Fall war für sie seit meinem Erscheinen deutlich mehr zu tun. Statt sich überwiegend in ihre Zimmer zurückzuziehen, mussten sie täglich und mehrfach auf den Stationen ausführlich nach dem Rechten sehen. Was da heißt: Diagnosen stellen, Diagnosen korrigieren, zusätzliche Untersuchungen anordnen oder für unnötig erklären, sich die Neuaufnahmen des Tages vorstellen lassen, junge und noch weniger erfahrene Ärzte anleiten und ausbilden, Fortbildungen organisieren, Vorlesungen und Kurse für die Studenten vorbereiten.
Gelegentlich nahm ich mir eine halbe Stunde und besuchte einen der Oberärzte in dessen Arbeitszimmer, um mir von den vielen Geschichten der Klinik erzählen zu lassen. Bei der Gelegenheit musste ich mir auch Hinweise anhören, wo ich an der einen oder anderen Stelle umsichtiger hätte sein sollen. Von einem der beiden war zu erfahren, dass man im Grunde zwar nicht unbedingt mit meinem, aber doch mit jemandes Erscheinen gerechnet hatte, ja nach dem zurückliegenden lähmenden Stillstand der letzten beiden Jahre dankbar bemerkte, dass sich jetzt endlich etwas bewegen würde. Meine jüngste Bemerkung etwa, die Toiletten der Klinik seien in einem bejammernswerten Zustand, sie seien auch dringend sorgfältiger zu reinigen, hätte die Mitarbeiter zunächst aufgebracht, ja fast wütend gemacht. Dann habe man aber feststellen müssen, so als ob jetzt erst die Augen geöffnet worden seien, dass zutraf, was ich zu bemängeln gewagt hatte.
Man berichtete mir von den noch wenige Monate zuvor abgelaufenen stundenlangen Sitzungen der Klinikleitung. Dort hätte man vieles beschlossen, von dem man genau wusste, dass es kaum umgesetzt werden konnte. Auf jeden Fall habe man solche Sitzungen nach abschließendem gegenseitigen Schulterklopfen in der Überzeugung verlassen, etwas Wichtiges sach- und fachgerecht entschieden zu haben.
»Sagen Sie, dieser Geruch, der durch alle Gänge und Zimmer zieht, das ist doch sicher so etwas wie ein Reinigungsmittel, oder?«, fragte ich bei Gelegenheit einen der Oberärzte.
»Ja, richtig, das ist oder das war unser Putzmittel, ›Wofasept‹, ein sehr gutes, gut wirksam, sehr bewährt. Wird noch heute, soviel ich weiß, in der Chemiesiedlung Wolfen hergestellt. Daher auch der Name ›Wofasept‹. Es gibt aber, wie ich vermute, ein Problem damit. Und das ist es wohl, was jetzt allen aus dem Westen, kaum dass sie hier sind, auffällt. Man hat es selten in der vorgeschriebenen Verdünnung verwendet. Ja, ich bin sicher, man hat im Laufe der Jahre die Konzentration immer weiter erhöht. Wahrscheinlich in der Vorstellung, auf diese Weise einen noch größeren Reinigungseffekt zu erzeugen. Kann auch sein, dass man sich dachte, je stärker die Konzentration, desto schneller bin ich mit der Reinigung fertig. So wie ich das jetzt sehe, hat es sich in alle Ritzen verkrochen und ist von dort nicht mehr so schnell zu vertreiben. Alle aus dem Westen sprechen uns auf diesen Geruch an. Dann müssen wir uns wohl daran gewöhnt haben, ich rieche es jedenfalls nicht mehr oder kaum noch.«
»Ich bekomme es nicht aus der Nase. Ist dieser scharfe Geruch nicht auf die Dauer schädlich? Wird das Putzmittel hier noch verwendet?«, fragte ich.
»Schädlich? Kann sein. Ich weiß nicht, ob es noch verwendet wird. Wahrscheinlich nicht, denn der Geruch lässt in den letzten Monaten deutlich nach«, war seine Antwort.
Nach einigen Monaten wagte ich vor ihm zu behaupten, dass inzwischen doch keine Unterschiede mehr zwischen den Menschen in Ost und West zu erkennen seien. »Meinen Sie!«, entgegnete der Arzt.
»Ja und wo sehen Sie noch Unterschiede?«
»Ihre Schuhe!«
Die dunklen Patientenzimmer, ihre Wände zeigten einen lackähnlichen Anstrich, waren mit Spanholzmöbeln ausgestattet. Man sagte mir vornehmlich Lieferungen aus dem VEB Möbelkombinat Zeulenroda. Die schiefen Türen der Spinde quietschten, das Schließen verlangte Erfahrung. Die war vorhanden, da die Patienten oft drei Wochen und länger in ihren Zimmern lagen. Die einfachen Stühle vor jedem Bett hatten als Sitzfläche entweder ein Brett aus Sperrholz oder Bezüge aus dunklem Lederimitat oder braun-ocker gestreiftem, plüschigem Stoff. Jene Stühle mit den eckigen, dünnen Stahlbeinen, bedurften besonderer Aufmerksamkeit. Manche ihrer Beine waren leicht verbogen, meist nach innen, sodass man beim Sitzen etwas balancieren musste, wenn man nicht in Schieflage, gar noch mit Fallneigung, geraten wollte. Für eine neurologische Station eine nicht zu unterschätzende Gefahrenquelle. Die Patienten kannten sich aber auch hier aus.
Die kleinen grauen Waschbecken, falls solche zur Ausstattung der Zimmer gehörten, waren in der Regel angeschlagen, ihre Siphons verrostet. Was die so legendäre Hilfsbereitschaft der Menschen in der DDR anbelangt, konnte ich manch erstaunliche Erfahrung machen. Eines Tages, nur als Beispiel, hatten wir einen Patienten, Herrn F., aufgenommen. Dem liebenswerten, noch relativ jungen Mann, war sein extremer Zigarettenkonsum zum Verhängnis geworden. Er hatte einen Schlaganfall erlitten. Linker Arm und linkes Bein waren gelähmt. Wie sich herausstellen sollte, arbeitete er als Betriebshandwerker an der Charité. Schon einen Tag nach seiner Aufnahme in unsere Klinik erschienen einige seiner Kollegen, bauten das alte, runtergekommene Waschbecken in dem Zimmer, in dem er lang, ab und montierten ruck-zuck ein neues Becken mit modernem Wasserhahn, nach den Markenzeichen offensichtlich Westware. Das nannte man Kameradschaft. Woher nur diese Anordnung, woher die Mittel kamen? So konnte es eben auch gehen. Der Amtsweg hätte Monate gedauert.
Der Zustand der allgemeinen Aufenthaltsräume für die Patienten, schwer zu beschreiben. Abgenutzte, karge Möblierung. Da zu diesen Zeiten in den meisten Krankenhäusern, so auch in der Charité, noch geraucht werden durfte, sahen die Wände entsprechend aus. Es tat mir alles, ich weiß nicht, irgendwie weh. Ich wusste nicht, wo ich anfangen, was ich als Erstes ändern sollte. Was sinnvoll war, geändert zu werden. Und welche Änderungen mir überhaupt möglich waren. Das Essen, mit dem die Patienten vorliebnehmen mussten, war ähnlich ausgelaugt wie im Westen. Da war, wenn überhaupt, so schnell nichts zu machen.
In den Patientenzimmern standen zwei bis vier Betten. Bei den Betten handelte es sich um Modelle, die vor Jahren, vor vielen Jahren angeschafft worden sein mussten. Wahrscheinlich hatten die meisten Exemplare schon den Krieg vor fünfzig Jahren erlebt. Vielleicht auch Herrn Professor Sauerbruch während des Krieges im Keller der Charité gedient, wie man das auf alten Fotografien sehen und in Filmen erleben kann. Manche Betten standen stabil an ihrem Platz. Das heißt, sie ließen sich in Ermangelung von Rollen an den Beinen, etwa wenn sich Not ankündigte, nur durch gemeinschaftliches Tragen in einen anderen Raum bewegen. Die Hilfe von Patienten war da willkommen.
Der Lack ihrer Stahlrohre war möglicherweise einmal weiß gewesen, jetzt hatte er eine hellgraue, leicht ins Gelbliche gehende Farbe angenommen, als ob sie seit geraumer Zeit nicht mehr gereinigt worden wären oder vielleicht von einer Hepatitis angesteckt worden seien. An vielen Stellen war der Lack abgestoßen, der rostrote Stahl schaute ungeniert hervor. Auch hatten die meisten Betten eine bestimmte, nicht veränderbare Höhe. Für die Pflege und die ärztliche Untersuchung waren sie zu niedrig, was dem Rücken der Schwestern und Pfleger und auch der Untersuchenden, wenn sie die Kraft der Muskulatur, die Sensibilität oder die Reflexe des Patienten prüfen wollten, nicht immer zuträglich war. Wegen der allgemeinen Anspannung, vielleicht auch wegen der Betten hatte ich mehrmals und für Tage unter Rückenschmerzen zu leiden. Das behielt ich aber bei mir.
Die Betten waren also zu niedrig. Auf der anderen Seite waren sie aber auch zu hoch, wenn ein Patient, der etwa Lähmungen aufwies oder aus irgendeinem Grund unruhig wurde oder war, drohte, aus dem Bett zu fallen. Die Fallhöhe war dann zu hoch, ja konnte gefährlich werden und zu Verletzungen führen. Ein Risiko, das man keinesfalls in Kauf nehmen wollte und durfte. Aus lauter Vorsicht Gitter – und etwa die gepolsterten – vor die Betten zu klemmen, das kam freilich auch nicht gut an.
Bei einer der Untersuchungen am Krankenbett prüfte ich die Augenbewegungen des Patienten. Dabei hält man mit der einen Hand den Kopf des Patienten fixiert, und mit dem Zeigefinger der freien Hand führt man Bewegungen durch, denen der Patient mit seinen Augen folgen soll. Aufmerksam die Bewegung der Augen beobachtend, stieß ich mit der bewegten Hand versehentlich an die Stange über dem Bett, die man gelegentlich auch als Galgen bezeichnet. Dabei lösten sich einige scharfkantige Lacksplitter. Wie es sein soll, fielen sie direkt in die weit geöffneten Augen des Patienten. Laut schrie er vor Schmerzen. Die Untersuchung musste abgebrochen, die Augen mussten ausgespült werden. Der Augenarzt wurde hinzugezogen, diagnostizierte leichte Verletzungen der Hornhaut. Für einige Tage musste eine Heilcreme aufgetragen werden. Ich fühlte mich zwar unschuldig, dennoch haftete an dem Vorfall der Vorwurf mangelnder Geschicklichkeit. Tölpel. Keine Frage, mir war das unangenehm, peinlich. Nach diesem Zwischenfall hatte ich aber die Nase voll. Ich sagte mir nur eines: Die Betten müssen weg und zwar so schnell wie möglich.
Also eilte ich noch am Nachmittag desselben Tages wieder mal z...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Inhalt
  4. Prolog
  5. Erster Besuch
  6. Weg zum Schloss
  7. Direktoren und Leiter
  8. Die Zelle
  9. Neues Arbeitszimmer
  10. Die Sekretärin
  11. Erste Vorlesung
  12. Vorstellung bei Kollegen
  13. Telefon
  14. Neuropathologie
  15. Krisen
  16. Zweite Vorlesung
  17. Das Labor
  18. Auf den Stationen
  19. Epilog