Unvollkommenheit
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Unvollkommenheit

Roman

  1. 300 Seiten
  2. German
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Unvollkommenheit

Roman

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Über dieses Buch

"Drei Charaktere, zwei Gesellschaftssysteme, die Liebe als Irrgarten: ein betörender Roman über die Suche nach dem Absoluten in einer Zeit ohne Utopie."Michael Wildenhain Im Oktober 1988 trifft Marc Weber in Jena ein, wo er sein Studium der Mathematik beginnen will. Unverhofft gerät er in oppositionelle Kreise und begegnet Paul, der ebenfalls Mathematik studierte, aufgrund seiner widerständigen politischen Haltung exmatrikuliert wurde und verbotene Konzerte gibt. Die Freundschaft mit Paul bringt den bislang eher angepassten Marc in existentielle Konflikte. Aber er lernt durch Paul auch Hanka kennen, seine erste große Liebe. Dann kommt der politische Umbruch, er treibt die drei in verschiedene Richtungen: Hanka geht auf Weltreise, Paul nimmt in Hamburg sein Studium wieder auf, Marc bleibt in Jena. Als er Paul einige Zeit darauf in Hamburg besucht, scheint es, als habe sich der ehemalige Oppositionelle ? nun anerkannter Mathematiker und mit einer ebenso erfolgreichen Frau zusammenlebend ? in einem bürgerlichen Leben eingerichtet. Zufällig entdeckt Marc jedoch, dass Paul weiterhin komponiert, und es wird ihm klar, dass der Freund voller Zweifel an seinem etablierten Leben ist. Marc fragt sich, wie viel von Pauls rebellischem Geist noch übrig ist und fordert ihn her­aus, indem er Paul und seine Freundin einlädt, im Sommer mit ihm und Hanka nach Rumänien zu kommen, in ein Land im Übergang, in dem sich noch vorhandene Spuren der Diktatur mit neuen kapitalistischen Ansätzen mischen. Ihre gemeinsame Reise verläuft dann ganz anders als geplant, sie führt zu großen Spannungen und treibt am Ende einen Keil zwischen Marc, Paul und Hanka. Jahre später erhält Marc, inzwischen arrivierter Banker und Risikomanager, einen Anruf von Paul, der nun wieder allein und in prekären Verhältnissen lebt. Seine Arbeit als Mathematiker hat er aufgegeben. Währenddessen schreitet die Finanzkrise unaufhörlich voran und die beiden begegnen sich unter vollkommen veränderten Vorzeichen. Nur Hanka spielt in beider Leben immer noch eine Rolle.

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Information

Jahr
2019
ISBN
9783955102067
1988–1991

1

Es war die Stunde, in der das Licht kurz vor Anbruch der Dämmerung mild scheint, die Sonne allmählich sinkt und die Schatten sich weich und dennoch klar über Felder und Wiesen, Straßen, Plätze und Wege legen. Marcs Herz schlug schneller, als die Stadt auftauchte: nach einer langen Flur in Gelb, Braun und Grün, abgelöst von zum Greifen nahen Waldhängen auf beiden Seiten, zunächst linker Hand ein flacher Hügel, dann erste Häuser unweit der Bahngleise, ungepflegte kleine Gebäude mit grauschwarzen Fassaden, ehe die Landschaft sich öffnete und die städtische Bebauung im Kessel dichter wurde, ohne dabei das Baumgrün gänzlich zu schlucken. Imposant drängten sich nicht nur alte efeu- und weinbewachsene, sondern auch moderne weiße Villen an die Hänge, im Zentrum überragte ein strammer Turm alle anderen Häuser; mehr konnte er vorerst nicht erkennen.
Der Zug quietschte beim Einfahren, Marc warf seinen dicht gepackten Rucksack über die Schulter und stieg aus. Ihm schien, als wäre das Gleis voller angehender Studenten, die zum Teil ihre Koffer und Taschen von den Eltern tragen ließen.
Vor dem Bahnhof hielt er einen Moment inne. Eine Landschaft, die man erwandern musste, die den Blick einengte, doch auch Konzentration erzwang, darin eingebettet die Genauigkeit fordernde optische Industrie. In der Ebene aufgewachsen, in einer spröden Gegend von endlosen Feldern, kleinen Seen und trockenen, harzigen Kiefernwäldern verblüfften ihn die Sanftheit, die Vielfalt der Formen und die Begrenzung.
Er folgte einer befahrenen Straße, lief leichtfüßig hinab ins Zentrum, an einigen Geschäften und der Post vorüber und stieß vor dem Zeisswerk auf mehrere Haltestellen. Der erste Busfahrer gab ihm freundlich Auskunft, und während Marc den ihm vom Prorektorat für Studienangelegenheiten beschriebenen Abfahrtspunkt suchte, bemerkte er den Strom von Menschen, der am Pförtnerhäuschen vorüber das Zeisswerk eilig verließ und sich an den Haltestellen verteilte. Nach Feierabend füllte sich das Zentrum, die Männer trugen Aktentaschen, die Frauen breitere Handtaschen, und in ihren Gesichtern spiegelte sich Erschöpfung, aber auch Vorfreude auf das Abendessen, den Fernsehabend und das Bier, auf die Familie. Marc sah, dass viele Arbeiter sich noch einmal gekämmt und beim Wechseln der Kleider um Sorgfalt bemüht hatten; vermutlich würden sie am nächsten Morgen müder als jetzt aussehen.
Sein Bus holperte aus der Stadt hinaus auf eine Autostraße, die zwischen Hügeln, niedrigen Kalkfelsen, einem weiten Park mit hohen herbstlichen Bäumen und laubübersäten Erdwegen verlief, auf denen vereinzelt Freizeitsportler trabten. Sie kamen an einem Stadion und Kleingärten mit Hütten und riesigen Sonnenblumen vorüber, bis der Bus schließlich abbog und durch lange Hochhaussiedlungen fuhr. In der Dämmerung brannten schon einige Lichter. Immer wieder tauchten zwischen den Hochhäusern flache Gebäude auf, von derselben Form, aber wie auf die Seite gekippt; die Machart kannte er aus seiner eigenen Stadt, schnörkellose, geometrisch simple Konstruktionen, in die mühelos dicht an dicht Wohnungen eingebaut werden konnten, platzsparend, pragmatisch und preiswert für die Bewohner. Ohne geistige Herausforderung für den Architekten, dachte er. Hinter den hellen Klötzen erhoben sich noch einmal Hügel, schwarze Schemen vor grauem Himmel.
Im Wohnheim händigte der Pförtner ihm seinen Schlüssel aus; er suchte in der dritten Etage seine Zimmernummer und bemerkte beim Eintreten erleichtert, dass es nur zwei Betten gab. Sein Mitbewohner war nicht da, und so fuhr er, nachdem er rasch seine Sachen ausgepackt hatte, noch einmal ins Zentrum zurück.
In den Abendstunden lief er ziellos umher, von der allmählich rauer werdenden Oktoberluft wachgehalten. Am Kino hingen Plakate, vor denen er länger verharrte. Ein Film war sowohl in Farbe als auch in Schwarz-Weiß gedreht worden, und als Marc die Gesichter der abgebildeten Menschen betrachtete, stellte er fest, dass ihre Züge in Schwarz-Weiß ernster und schärfer, ferner und tragischer als in Farbe wirkten. Obwohl der Film, der Und morgen war Krieg hieß, laut Ankündigungstext 1940 spielte, erschien er ihm aktuell, weil er von einer Klasse in einer sowjetischen Provinzstadt, von Schülern handelte, die nichts weiter als Parolen und Losungen kennen, bis ein neuer Direktor kommt.
Er wusste noch genau, dass der Tag vor dem ersten Mai ein Sonnabend gewesen war, weil sie nur vier Stunden Unterricht hatten. Als er am Morgen in die Klasse kam, verschwitzt vom Radfahren, die Haare zerzaust, stand sein Freund Stefan breitbeinig auf einer Bank und rief, die Hände zum Trichter geformt: Für Schönheit und Charisma, seid breit!, ehe er seine Hand über den Kopf hob und die Hacken aneinanderschlug, so dass der Tisch wackelte. Marc musste grinsen; seit Langem schon nervten ihn die stumpfsinnigen Appelle, doch mehr als währenddessen leise zu lachen oder mit seinem Nebenmann Personenraten zu spielen, hatte er nie gewagt. Und morgen würden sie wie jedes Jahr an der hinter der Kaufhalle aufgestellten Tribüne vorüberlaufen, Transparente tragen und den alten Männern von der SED-Kreisleitung zuwinken – wie albern!
Eine Traube Mädchen umringte den Tisch und schaute Stefan kichernd zu, und Clarissa sagte, indem sie mit dem Finger gegen ihre Stirn tippte: Morgen ist Sonntag, ich gehe da nicht hin. Stefan riss den Kopf hoch, stieß seine Faust in die Luft, tanzte auf dem Tisch und johlte: Ich bin schon 14! Ich hab schon Jugendweihe! und, mit der Schuhspitze auf Marc deutend: Ich hab schon Schuhgröße 41!, wobei er jedes Wort in die Länge zog und die Zahl am Ende mit besonders hoher Stimme aussprach. Marc blickte auf die Uhr: noch fünf Minuten bis zum Unterrichtsbeginn. Während Stefan vom Tisch sprang, ihn mit der Faust gegen den Oberarm stieß – Morgen, Kumpel! – und sich ein Stück Kreide griff, tappte er zu seinem Platz und warf seine Tasche auf den Boden. In der letzten Reihe beugten sich Armin und Falk – die Zwillinge – über die Schulbank, die Köpfe dicht beieinander und ohne das Geschehen im Klassenraum zu registrieren. Erst als Falk aufschrie und sich triumphierend umblickte, sah Marc die Wespe auf der hellgrauen Sprelacartfläche, sah, wie sie versuchte, sich zu drehen oder loszufliegen, sah zwei ausgerupfte Beine auf der Tischplatte, daneben einen durchsichtigen Flügel. Den zweiten Flügel hielt Armin mit einer spitzen Pinzette in die Luft, fixierte ihn im durchs Fenster scheinenden Morgenlicht und sagte schließlich: Wäre besser gewesen, es so mit den Juden zu machen. Nicht einfach vergasen.
Marc fiel ein, dass die Zwillinge am letzten Maifeiertag ein Spruchband Nie wieder Faschismus getragen hatten, stumm und ohne eine Miene zu verziehen.
Als er sich umwandte, drückte Herr Kressler, der junge Deutschlehrer, Stefan gerade einen Schwamm in die Hand, woraufhin Stefan langsam und schwunglos Nie wieder Omas Sahnetorte! von der Tafel wischte und dabei auf den beharrlich schweigenden Lehrer einredete: Schon mal was von Perestroika gehört? Dauert nicht mehr lange, dann haben wir die auch, wissen Sie?
Herr Kressler klopfte mit den Handknöcheln ein paar Mal auf den Lehrertisch, und da keiner reagierte, klatschte er in die Hände, bis alle, auch Marc und Stefan, gemächlich zu ihren Plätzen gingen. Mit weißer Kreide schrieb Herr Kressler an die noch nasse Tafel:
Interpretieren Sie: »Was ist der Mensch, / wenn seiner Zeit Gewinn, sein höchstes Gut / nur Schlaf und Essen ist? Ein Vieh nichts weiter. / Gewiss, der uns mit solcher Denkkraft schuf, / vorauszuschaun und rückwärts, gab uns nicht / die Fähigkeit und göttliche Vernunft, / um ungebraucht in uns zu schimmeln.«
Seite 93, Sie wissen, in welchem Buch diese Passage steht, ich gebe Ihnen die ganze Stunde, und bitte schreiben Sie leserlich, sagte Herr Kressler nüchtern.
Stefan saß in derselben Bankreihe wie Marc, am Fenster, und blickte ihn offen und direkt an, als wollte er sagen: Genau das ist es, dazu kann ich was schreiben, aber das wird euch nicht gefallen … Wie kann der Kressler bloß so naiv sein? Marc beobachtete, wie die Buchstaben und die von Stefans flüchtigem Tafelwischen herrührenden Kreideschlieren immer deutlicher hervortraten, und ohne dass er das Zitat bewusst auswendig lernte, prägte es sich ihm ein. Dann öffnete er seinen Füller und schrieb ohne Pause bis zum Stundenende.
Es wurde ein guter Aufsatz, aber er erinnerte sich nicht, welche Note Stefan bekommen hatte.
Sein Blick löste sich von den Filmplakaten, den Gesichtern, die ihm nun, verglichen mit den noch nahen und lebendigen seiner Klassenkameraden, starr und ein wenig altmodisch vorkamen. Vor der Brücke bog er auf den Uferweg ab, der von flussaufwärts scheinbar kleiner werdenden Straßenleuchten gesäumt war. An den Böschungen Bäume, deren Laub sich bereits um die verdreckten Pfähle herum sammelte oder auf halbem Weg auf den Laternenköpfen liegengeblieben war; mächtige Baumkronen warfen Schatten auf das Wasser. Er dachte an seine Eltern, die er in einer kleinen Stadt ohne Brücken nahe der polnischen Grenze zurückgelassen hatte. An manchen Abenden hatte er sie durch die einen Spalt breit geöffnete Wohnzimmertür miteinander reden hören: Was in der Zeitung steht, kann doch keiner mehr lesen. Ich weiß nicht, ob ich hier alt werden will. – Rübergehen ist auch keine Lösung!
Zur Schule war er im Sommer über harzduftende Kiefernwaldwege gefahren, allein und wie der Wind, und seine Gedanken, die kühnen und die einfachen, hatte er meist verschwiegen. Stattdessen hatte er seinen Staatsbürgerkundehefter sorgfältig geführt und Urkunden entgegengenommen, auf denen stand: Für gutes Lernen in der sozialistischen Schule.
Auch auf der anderen Uferseite reihten sich mattweiße Laternen aneinander, dahinter lag der große, nun vollkommen dunkle Park, an dem er vor einigen Stunden im Bus vorübergefahren war. Er überlegte, ob er noch immer hier sein würde, wenn sein Alter der Quersumme der aktuellen Jahreszahl entsprach, und dachte an die Form der darin doppelt vorkommenden Ziffer Acht, an das Symbol für Unendlichkeit. Seit jeher mochte er solche Gedankenspiele, sie boten ihm Zuflucht und eine gewisse Geborgenheit, wenn er die Witze seiner Klassenkameraden nicht mehr hören wollte; seit jeher zählte, schätzte und rechnete er und wurde ungeduldig und reizbar, wenn eine Rechnung nicht aufging.
Ein starker Wind blies ihm ins Gesicht, als er eine Holzbrücke erreichte, die über eine Abzweigung des Flusses führte. Marc roch das Wasser, hörte die Strömung, in der Ferne Autos und Diskomusik.
Beim Umwenden wurde er vom Licht einer Laterne geblendet. Er spürte die Kraft seiner Beine, die ihn hinauf zu den Hügelkuppen tragen würden.

2

Obwohl Professor Winke mit leiser Stimme sprach, blieb es ruhig im Hörsaal. Hinter dem Pult sah Marc seinen schlanken Oberkörper, den er beim Sprechen leicht nach vorn beugte, und sein bartloses, ebenfalls schmales Gesicht.
Aufblickend sagte er: Die kommenden Jahre werden für Sie kein Zuckerschlecken, dessen können Sie gewiss sein, doch Sie werden sich mit den erhabensten Problemen der Mathematik vertraut machen dürfen.
Marc spürte ein Kribbeln von den Zehen aufwärts bis zur Kopfhaut kriechen, kratzte mit dem Fingernagel über seinen Bleistift und schaute sich kurz um. Im Hörsaal saßen etwa vierzig Studenten, erwartungsgemäß fast nur junge Männer.
Seine erste Vorlesung. Er war kurz nach sieben Uhr mit dem Bus wieder ins Zentrum gefahren, dann hellwach und raschen Schrittes zum Lehrgebäude gelaufen und hatte verwundert den Klotz betrachtet, der ihn an das Wohnheim erinnerte. Im Hörsaal aber hatte ihn schließlich die Atmosphäre in ihren Bann gezogen, stufenartig angeordnete Bankreihen mit ausklappbaren Holzsitzen, Polyluxe und Formeln auf Rolltafeln, an den Wänden Lehrsätze auf beschichtetem Papier, ein Klima wissenschaftlichen Eifer...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Widmung
  5. INHALT
  6. 1988–1991
  7. 1995
  8. 2007–2008