Als ich vor zwanzig Jahren das erste Mal nach Indien kam, erlebte ich einen Kulturschock. Diese Überfülle von Farben, Aromen, dem Puls eines Lebens, das in einem Moment von der Tragödie zur Freude umschlägt, die Fremdheit in vielen Dingen und die Faszination für eine völlig disparate Logik. Mehr Puls und noch mehr Pulsieren, ein Leben, das mit dem Tod tanzt und ihm niemals von der Seite weicht, das alles hat für immer eine Spur in mir hinterlassen. Indien, seine Kultur und das alltägliche Leben, in dem alles wirkt wie sein eigenes Gegenteil. Die völlige Offenheit, die Unvorhersehbarkeit, die unerhörte Opulenz des Seins haben mich eingenommen, füllten meine Träume und Gedanken.
Die vedische Tradition besagt, dass hinter einem vergänglichen Namen und einem Scheinbild ein unsterblicher Atem steht. Ich erinnere mich an eine tote Frau auf der Straße, an ein weinendes Kind über ihr. Ich erinnere mich an religiöse Feierlichkeiten.
Ich erinnere mich an die morgendliche Yogaroutine unserer Gastgeber um vier Uhr morgens vorm laufenden Fernseher.
Ich erinnere mich an das Mitsingen bei den Masala-Filmen in den Kinos und an die knackenden Menschenknochen, die vom Feuer am Ufer des Ganges in Varanasi verschlungen wurden. Allen Erfahrungen zum Trotz bleibt das tägliche Leben in Indien unberechenbar.
Das einzig Gewisse ist, dass ich mich mit Fülle konfrontieren werde, dass der Weg überraschend verlaufen wird und dass ich am besten einen Führer haben sollte, eine Art Vergil, falls möglich jemanden, der sich dieser Rolle nicht bewusst wäre, und wir gerade deshalb ungestört durch Wohlstand und Armut, Vergangenheit und Zukunft navigieren könnten. Ich habe selbst Mitleid mit mir, während ich dies schreibe. Diese Worte, diese Gedanken, die wir Westler mit unserem Hang zu klaren Gegensätzen sehen, sie würden von keinem Inder geschrieben werden, weder von einem Mann noch von einer Frau.
Ich wiederhole: Pulsieren, das Pulsieren einer Ganzheit des Lebens.
Kein Strom.
Ein heftiger Sturm mitten in der Nacht.
Der Lüfter hört auf, die Unendlichkeit seiner Umdrehungen zu zählen, und sofort schlagen die Mücken wieder zu – wie winzige Dämonen.
Ich verliere die letzten Abwehrmöglichkeiten gegen die Albträume.
Inmitten eines Traums, in dem eine Schlacht zwischen Außerirdischen in blauen Raumanzügen vorkam, höre ich das Kristallzwitschern eines morgendlichen Vogels, das sich frei durch das Metallgitter des Fensters bewegt.
Tropfen. Regentropfen, die auf die Metalloberfläche prasseln.
Der Morgen wacht plötzlich auf, als würde jemand das Licht einschalten.
Es leuchtet draußen.
Ich trete aus dem kastenförmigen Hotel mitten in eine üppige Architektur aus Tönen.
Auf der Straße pumpt eine Frau im Sari Wasser, hinter ihr ein surrender Motor, der sich an das morgendliche Kreischen der Krähen hängt.
Und irgendwo ein Lied, von irgendwo kommend, ganz unbestimmt, von hinten, vorne. Irgendwo.
Kein Strom im Zimmer, aber draußen ist alles, was meine Sinne erreicht, pure Elektrizität.
Das Lied hallt immer klarer durch die Luft.
Der Klang des Liedes hat die Form eines Märtyrers, der auf den Postern immer drastisch dargestellt wird.
Blut spritzt, die Nägel durchbohren die Handflächen.
Das ist mir nicht fremd, aber hier scheint das furchtbar künstlich zu sein, aus einer anderen Kultur übernommen.
Die Morgenmesse in der Kirche, zwei Tage vor Karfreitag.
Der Kreuzweg, was für ein ungewöhnlicher Start in den Tag.
Mir fällt ein, was für ein überraschender Beginn das für Indien ist, während ich den Betenden zusehe, die ihre Schuhe ausziehen, um barfuß vor dem Allmächtigen zu stehen, als wären sie in einem Hindutempel oder in einer Moschee.
Denn alles ist Religion.
Hier ist alles Religion.
Einschließlich des Kommunismus in Kochi und Kerala.
Auch der Sari der Frau, die in die Kirche geht.
Auch das Motorrad des Jungen, der gekommen ist, um an diesem Tag zu beten.
Alles ist Religion und wir alle sind Teil des Rituals.
Was immer ich auch mache, ich bin Teil des Kultes.
Was immer ich auch denke, es muss von einem schelmischen Gott herrühren, der mir Irrtümer und Täuschungen einflüstert, Gutes tut und weniger Gutes.
Etwas in dieser Richtung.
Denn überall ist Elektrizität.
In dem Hymnus an ihn, der unter dem Gewicht des Kreuzes zusammenbrach, in der Malayalam-Sprache.
In den kreischenden Krähen auf den Kronen der Morgenpalmen.
Im Helm eines Jungen, der sich als Nächstes nähert.
In der Mücke, die auf meiner Handfläche landet, ihren Stachel in die Poren sticht, die dann mi...