Der scharlachrote Buchstabe
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Der scharlachrote Buchstabe

  1. 300 Seiten
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Der scharlachrote Buchstabe

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

Die junge Hester zieht ohne ihren Mann alleine nach England. Dort will sie sich ein neues Leben aufbauen und trifft auf den ortsansässigen und hilfsbereiten Pfarrer, der ihr hilft, nachdem sie mit ihrem Wagen stecken geblieben ist. Allerdings bleibt es nicht nur bei dem einen Aufeinandertreffen, denn die beiden verabreden sich erneut. Daraus entsteht eine leidenschaftliche Beziehung zwischen dem Pfarrer und Hester.

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Information

Verlag
mehrbuch
Jahr
2020
ISBN
9783969172766

1. DIE GEFÄNGNISTÜR

 
Vor einem hölzernen Gebäude, dessen Tür mit schweren Eichenbalken versehen und mit Eisenspitzen beschlagen war, drängte sich eine Menge Volkes. Bärtige Männer in dunkler Kleidung und mit grauen, spitzen Hüten, aber auch Frauen, barhäuptig oder mit schlichten Hauben, standen in dichten Gruppen beisammen. Aus ihren Zügen sprach gespannte Erwartung.
In jeder neuen Kolonie, mochte sie ursprünglich auch nichts als die Verwirklichung menschlicher Tugend und menschlichen Glücks zum Ziele gehabt haben, waren die Begründer nur allzu bald genötigt, einen Teil des unberührten Bodens zum Friedhof, einen anderen zum Platz für ein Gefängnis zu bestimmen. Auch die Vorväter von Boston haben – so dürfen wir wohl annehmen – diesen Erfordernissen menschlicher Schwäche und Hinfälligkeit Rechnung getragen und sehr bald ihr erstes Gefängnis sowie ihren ersten Friedhof errichtet, denn bereits etliche fünfzehn oder zwanzig Jahre nach der Begründung der Stadt war das hölzerne Gefängnis von solchen Spuren der Verwitterung und des Alters gezeichnet, daß sie dem finsteren, düsteren Bau ein noch dunkleres Aussehen verliehen. Der Rost auf dem schweren Eisenwerk der Eichentür schien älter zu sein als alles andere in der neuen Welt, ja der ganze Bau schien – wie alles, was zum Verbrechen gehört – wohl überhaupt nie jung gewesen zu sein.
Vor diesem häßlichen Gebäude erstreckte sich bis zur Fahrbahn der Straße ein Rasenplatz. Er war überwuchert von Kletten, Gänsefuß und anderen unscheinbaren Pflanzen, denen dieser Boden wohl besonders zusagte, der so früh schon das dunkle Gewächs menschlicher Zivilisation, das Gefängnis, getragen hatte. An einer Seite der Tür jedoch, unmittelbar an ihrer Schwelle wurzelnd, stand ein wilder Rosenstrauch, der jetzt im Juni über und über mit köstlichen Blüten bedeckt war. Fast schien es, als wolle er ihren Duft und ihre zarte Schönheit dem Gefangenen, der hier eintrat, oder dem Verurteilten, der aus dieser Tür heraus seiner Strafe entgegenging, als Zeichen darbringen, daß die Natur wenigstens ihm Freundlichkeit und Erbarmen entgegenbringe.
Durch einen seltsamen Zufall blieb die Erinnerung an diesen Rosenstrauch in der Überlieferung lebendig. Vielleicht, weil er der letzte Überrest der alten Wildnis war, nachdem die riesigen Fichten und Eichen, die ihn einst überschatteten, längst gefallen waren; vielleicht auch, wie manche glaubhaft machen wollen, weil er unter den Fußtritten der frommen Anna Hutchinson hervorsproßte, als sie durch diese Tür das Gefängnis betrat.
Uns aber, die wir diesem Strauch gerade an der Schwelle unserer Erzählung begegnen, möge er ein freundliches Symbol sein, das bei allem düsteren Ernst doch ein versöhnliches Licht auf den Verlauf und das Ende dieser Geschichte wirft, die so voll ist von menschlicher Schwachheit und menschlichem Leid.

2. AUF DEM MARKTPLATZE

An einem Sommermorgen vor mehr als 200 Jahren war also der Rasenplatz vor dem Gefängnis in Boston von einer großen, neugierigen Menschenmenge belebt. Die bärtigen Gesichter der guten Leute trugen dabei einen solchen Ausdruck grimmiger Strenge, daß man zu jeder anderen Zeitepoche oder bei jeder anderen Bevölkerung hätte annehmen müssen, es handle sich bei dem mit so großer Spannung erwarteten Ereignis zumindest um die Hinrichtung eines Verbrechers oder um die öffentliche Sühne eines anderen schändlichen Vergehens. In jener Frühzeit des Puritanismus jedoch war eine solche Vermutung keineswegs immer zutreffend. Vielleicht sollte nur ein fauler Diener oder ein ungehorsames Kind, das seine Eltern der Obrigkeit überliefert hatten, am Schandpfahl gezüchtigt werden – vielleicht auch galt es, einen Quäker, Antimonianer oder anderen sektiererischen Irrgläubigen aus der Stadt zu peitschen, oder einen faulen, umherstreifenden Indianer, der unter dem Einflusse des Feuerwassers des weißen Mannes auf den Straßen herumgelärmt hatte, in seine Wälder zurückzutreiben. Es konnte auch sein, daß eine Hexe, wie die alte Hibbins, die zänkische Witwe des Stadtrichters, auf dem Galgen sterben sollte – in jedem Falle lag dieselbe unbarmherzige Strenge auf den Gesichtern der Zuschauer, wie es sich einem Volke geziemte, bei dem Religion und Gesetz fast identisch waren und dessen Bewußtsein von beiden so durchdrungen war, daß es dem mildesten wie schwersten Akt öffentlicher Bestrafung in gleicher Weise mit scheuer Ehrfurcht und Entsetzen beiwohnte. Dürftig fürwahr und kalt war die Teilnahme, die aus solchem Zuschauerkreise dem Übeltäter entgegengebracht wurde, doch konnten anderseits damals auch Strafen, die in unseren Tagen eine Flut von Spott und Lächerlichkeit zur Folge haben würden, mit ebenso strenger Würde über einen Sünder verhängt werden wie die Todesstrafe selbst.
Es war bemerkenswert, daß an jenem Sommermorgen, an dem unsere Erzählung beginnt, die Frauen, die sich in der Zuschauermenge befanden, mit ganz besonderem Interesse dem bevorstehenden Strafgericht entgegen zu fiebern schienen. Die Zeit war noch nicht so verfeinert, daß ein Gefühl von Unschicklichkeit etwa die Trägerinnen von Unterrock und Mieder zurückgehalten hätte, sich unter die gaffende Menge zu mischen und ihre gewichtige Persönlichkeit selbst bis an die Stufen des Blutgerüstes vorzudrängen. Geistig sowohl wie auch körperlich waren jene Frauen und Mädchen von altenglischer Geburt und Erziehung aus gröberem Stoff als ihre schönen Nachkommen von heute. Denn durch die ganze Kette der Geschlechter hindurch hatte jede Mutter ihrem Kinde stets eine zartere Schönheit, ein vergänglicheres Blühen, geringere Körperkräfte – und wohl auch einen weniger kraftvollen und gediegenen Charakter vererbt, als sie selbst besaß. Die Frauen, die hier das Gefängnistor umstanden, waren kaum ein halbes Jahrhundert von jener Periode der Geschichte entfernt, in welcher Königin Elisabeth ihr Geschlecht so kraftvoll vor der ganzen Welt repräsentiert hatte. Die roten, vollen Wangen, die breiten Schultern und üppigen Gestalten, die nun die Morgensonne beschien, stammten noch aus der fernen Heimatinsel her und waren in der Luft Neuenglands kaum bleicher und magerer geworden. Auch die Redeweise dieser Matronen – denn die meisten von ihnen schienen solche zu sein – war von einer Kühnheit und Derbheit sowohl im Inhalt wie im Tone, daß sie uns heute wohl in gewaltiges Erstaunen setzen würde.
„Hört einmal“, sagte eine etwa fünfzigjährige Frau, „ich will euch etwas sagen. Es wäre wahrhaftig zu wünschen, daß wir Frauen von reifem Alter und gutem Ansehen die Bestrafung solcher Übeltäterinnen wie diese Hester Prynne in die Hände bekämen. Wenn wir fünf, die wir hier gerade beisammen stehen, über dieses nichtsnutzige Weibsbild zu richten gehabt hätten, wäre sie wohl mit so einem Urteil davongekommen, wie es die Richter gefällt haben? Verlaßt euch darauf –!“
„Die Leute sagen“, hob eine andere an, „der ehrwürdige Pastor Dimmesdale nimmt es sich gar sehr zu Herzen, daß gerade in seiner Gemeinde ein solches Ärgernis vorfallen mußte.“
„Die Richter sind ja gottesfürchtige Herren, aber viel zu gnädig!“ meinte ein drittes dieser Frauenzimmer. „Sie sollten dieser Hester Prynne mindestens mit glühendem Eisen ein Brandmal auf die Stirne gedrückt haben, da wäre sie wohl zurückgeschreckt, haha –! Aber was schert sich so ein Weibsbild, was man ihr ans Mieder heftet? Mit einer Brosche kann sie es ja verdecken oder einem ähnlichen heidnischen Aufputz und ebenso frech einherstolzieren wie ehedem!“
„Mag sie auch das Zeichen verbergen, wie sie will, seine stechende Pein wird sie doch immer in ihrem Herzen fühlen“, wandte in sanfterem Tone eine junge Frau ein, die ein Kind an der Hand hielt.
„Was wird da viel von Zeichen und Brandmalen geschwätzt, ob auf ihrem Mieder oder ihrer Stirne?“ schrie ein anderes Weib, das häßlichste und erbarmungsloseste zugleich. „Sie hat Schmach und Schande über uns alle gebracht und dafür gebührt ihr der Tod! Steht es nicht so in der Bibel wie in unserem Gesetz? Mögen die Richter, die es nicht anzuwenden wagten, es sich selbst zuschreiben, wenn ihre eigenen Weiber und Töchter auf Abwege geraten!“
„Gnade uns Gott!“ rief ein Mann aus der Menge, der diese Worte mitangehört hatte. „Kommt denn alle Weibertugend nur aus der Furcht vor dem Galgen? Ihr sprecht wahrhaftig ein hartes Wort! Doch still! – Eben dreht sich der Schlüssel in der Gefängnistür und hier kommt sie nun selbst, Hester Prynne!“
Die Tür des Kerkers wurde von innen aufgestoßen und wie ein schwarzer Schatten, der plötzlich ans Tageslicht taucht, erschien die grimmige, düstere Gestalt des Stadtbüttels, ein Schwert an der Seite und seinen Stab in der Hand. Dieser Mann verkörperte schon in seinem Aussehen fürwahr die ganze grausame Strenge des puritanischen Gesetzes, dessen Ausübung und Durchführung ihm oblag. Während er seinen Stab mit der Linken vorstreckte, legte er seine Rechte schwer auf die Schulter einer jungen Frau und schob sie vorwärts, bis sie ihn an der Schwelle der Tür durch eine Geste so voll natürlicher Hoheit und Würde zurückwies, daß er sie unwillkürlich freigab und sie aus eigenem Willen heraus ins Freie trat. Auf ihren Armen trug sie ein Kind, ein Mädchen von kaum drei Monaten, das blinzelnd sein Köpfchen von dem allzu grellen Licht des Tages abwandte, hatte es doch bisher in seinem Dasein nur das graue Dämmern irgend einer düsteren Zelle des Gefängnisses gekannt.
Als die junge Frau – die Mutter dieses Kindes – nun so der versammelten Menge gegenüberstand, drückte sie unwillkürlich ihr Kind ganz fest an die Brust, doch nicht so sehr aus einem Gefühl mütterlicher Zärtlichkeit heraus, sondern um dadurch ein gewisses Zeichen zu verbergen, das an ihrem Kleide angebracht war. Einen Augenblick später jedoch zog eine brennende Röte über ihr Antlitz.
War es nicht vergeblich, das eine Zeichen ihrer Schande mit dem anderen verbergen zu wollen? Ein wehes, doch stolzes Lächeln huschte über ihre Züge, sie nahm das Kind auf den Arm zurück und sah sich mit entschlossenem Blicke, frei von jeder peinvollen Verlegenheit, in dem Kreise ihrer Nachbarn und Mitbürger um, die sie gaffend umstanden.
Mitten auf ihrer Brust, aus feinem, scharlachrotem Tuche geschnitten und mit kunstvoller Stickerei aus Goldfäden umschlungen, sah man den Buchstaben A[1]. Er war mit solcher Kunstfertigkeit ausgeführt und so prächtig verziert, daß er ein Schmuck und Aufputz ihres Gewandes zu sein schien, das gleichfalls, trotz des düsteren Geschmackes der Zeit, überaus kostbar war und inmitten der allgemein üblichen strengen Schlichtheit prächtig auffiel.
Die Gestalt der jungen Frau war groß und schlank und von ausgeprägter Vornehmheit. In ihrem dunklen, üppigen Haar spiegelte sich das Licht der Sonne, ihr Antlitz, das die Schönheit ebenmäßiger Züge trug, wurde von einer klaren Stirne und tiefen, ausdrucksvollen Augen beherrscht. In ihrer Haltung zeigte sie jene Stattlichkeit und Würde, die in damaliger Zeit die Frau der höheren Stände kennzeichnete. Und niemals war Hester Prynne vornehmer erschienen – im alten und eigentlichen Sinne dieses Wortes – als nun, da sie aus dem Gefängnis heraustrat! Diejenigen, die sie schon früher gekannt und nun erwartet hatten, sie niedergedrückt und elend vor sich zu sehen, bemerkten mit Erstaunen und Verwunderung, wie ihre Schönheit strahlender denn je aufleuchtete und das Unglück und die Schmach, von der sie umhüllt war, fast in einen Schein der Verklärung verwandelte. Dennoch mochte es sein, daß ihr Anblick für einen empfindsamen Beobachter etwas unsagbar Schmerzliches an sich hatte. Ihre Kleidung, die sie sich für diese Gelegenheit im Gefängnis selbst angefertigt und nach eigenem Geschmack zusammengestellt hatte, war in ihrer wilden, malerischen Eigentümlichkeit nur ein Ausdruck der verzweifelten Unbekümmertheit, die ihre Seele erfüllte. Doch der Gegenstand, der nun aller Augen auf sich zog und Hester Prynne förmlich verwandelte, so daß die Männer und Frauen, mit denen sie sonst in vertrauten Verhältnissen gelebt hatte, sie anstarrten, als sähen sie sie zum ersten Male – war der scharlachrote Buchstabe, dessen prächtige Stickerei ihre Brust zierte. Er hob sie wie durch einen Zauber aus allen gewohnten, menschlichen Verhältnissen heraus und schloß sie in eine Welt ein, in der sie völlig allein stand.
„Sie versteht es, mit der Nadel umzugehen, das läßt sich nicht leugnen“, bemerkte eine der Zuschauerinnen bissig. „Aber wagte es je eine Frau, dies auf solche Art zu zeigen wie das schamlose Weibsbild? Was? – Lacht sie damit nicht unseren würdigen Richtern ins Gesicht und brüstet sich mit dem, was ihr als Strafe auferlegt worden ist?“
„Man sollte ihr das prächtige Kleid vom Leibe reißen“, murmelte ein anderes der alten Weiber mit giftiger Stimme. „Und was den roten Buchstaben betrifft, so will ich ihr einen Lumpen von altem Flanell besorgen, der besser paßt als dieses verzierte Ding!“
„Oh, still, Nachbarin, seid still!“ flüsterte daneben eine junge Frau. „Laßt sie das nicht hören! Kein Nadelstich an diesem gestickten Buchstaben, der ihr nicht mitten durchs Herz gegangen wäre!“
Nun hob der grimme Büttel seinen Stab.
„Macht Platz, ihr Leute, im Namen des Königs!“ schrie er. „Öffnet eine Gasse und ich verspreche euch, daß Frau Prynne dorthin geführt werden soll, wo ihr alle, Männer, Frauen und Kinder, ihren feinen Aufputz nach Herzenslust bewundern könnt, von jetzt ab bis eine Stunde nach Mittag! Denn jedes Unrecht kommt in unserem rechtschaffenen Lande ans Licht! Nur vorwärts, Frau Hester, und zeigt Euer scharlachrotes Zeichen all diesen Leuten auf dem Marktplatz!“
Durch die Menge der Zuschauer öffnete sich eine Gasse. Unter dem Vortritt des Büttels und begleitet von der nachdrängenden Menge finster blickender Männer und feindseliger Weiber schritt Hester Prynne hindurch zu dem Orte, der für ihre Strafe bestimmt war. Eine Schar neugieriger Schulbuben, die nicht viel mehr verstanden, worum es sich handelte, als daß sie dadurch einen halben Feiertag hatten, lief vor dem Zuge her und wandte beständig die Köpfe, um bald Hesters Gesicht, bald das blinzelnde Kindchen in ihren Armen oder den scharlachroten Buchstaben an ihrer Brust anzustarren.
Es war zu jener Zeit nicht weit vom Gefängnis bis zum Marktplatz, für die Gefangene jedoch schien sich der Weg endlos hinzuziehen. Trotz des verschlossenen, stolzen Gesichtsausdruckes litt sie unter jedem Schritt der sie umdrängenden Menge unsägliche Qualen, als würde ihr Herz selbst durch die Straßen gezerrt und von tausend Füßen getreten. Unsere menschliche Natur jedoch schützt den Leidenden auf eine wunderbare und barmherzige Weise, denn er wird sich der Größe seiner Qual meist nicht durch die augenblicklichen Schmerzen bewußt, sondern erst später durch die Spuren, welche davon zurückbleiben. Mit fast übermenschlicher Gelassenheit schritt daher auch Hester Prynne durch diesen Teil ihrer Prüfung und erreichte endlich den Marktplatz, auf dessen westlichem Teil im Schutze der ältesten Kirche Bostons sich breit und fest eine Art Schaugerüst erhob, als wäre es dort für alle Ewigkeit errichtet.
Dieses Gerüst gehörte zu jener Strafvorrichtung, die wir heute nur noch aus der Geschichte und Überlieferung kennen, die jedoch in früherer Zeit als ebenso wirksames Mittel zur Förderung bürgerlicher Tugenden galt wie die Guillotine während der Französischen Revolution. Es war der Pranger mit seiner erhöhten Plattform und dem aufragenden Gerüst, welches den menschlichen Kopf genau umfaßte und festhielt, um ihn so dem Blick der Menge preiszugeben.
Diese ganze Vorrichtung aus Holz und Eisen war in der Tat eine Verkörperung des größten Schimpfes, den man der menschlichen Natur anzutun vermag. Denn welches Vergehen auch immer gesühnt werden sollte, der Verurteilte konnte nicht grausamer getroffen werden, als indem man ihm verwehrte, sein Gesicht vor Scham zu verbergen. Darin lag das Wesentliche dieser Strafe. In Hester Prynnes Fall jedoch forderte das Urteil bloß, daß sie drei Stunden lang auf der Plattform jener Schandbühne zu stehen habe, ohne daß dabei Hals und Kopf von der teuflischen Vorrichtung eingezwängt und festgehalten werden sollten. Da sie genau wußte, was sie zu tun hatte, stieg sie die hölzernen Stufen empor und stand nun etwa in Schulterhöhe über der Straße vor allem Volke da.
Wäre unter der Menge der Zuschauer ein Katholik gewesen, so hätte ihn diese schöne Frauengestalt in ihrer seltsam-malerischen Bekleidung und mit dem Kinde an ihrer Brust vielleicht an ein Bildnis der Gottesmutter erinnert, deren Darstellung schon so viele berühmte Meister ihre Kunst geweiht haben. Doch während dort die Idee der Mutterschaft so herrliche Verklärung findet, lag hier das Dunkel frevelhafter Sünde über diesem heiligsten Bezirke menschlichen Erlebens und die Schönheit dieser Frau sowie das Kind in ihren Armen verstärkten nur den düsteren Schatten, der erbarmungslos über ihr schwebte.
Die Situation war, wie jede Schaustellung menschlicher Schuld und Schande, von einem düsteren Ernste getragen, der sich auch auf den Gesichtern der Zuschauer deutlich widerspiegelte. Denn die Zeugen von Hester Prynnes Schmach hatten das ursprüngliche Empfinden und natürliche Zurückschaudern vor Unrecht und Schuld noch nicht verloren. Sie würden mit demselben Ernst in den Gesichtern auch den Tod der Verurteilten hingenommen haben, hätte das Urteil so gelautet, doch waren sie anderseits noch nicht von jener Herzlosigkeit einer späteren Zeit, welcher eine solche Schaustellung sicherlich nur zum Spotte gedient hätte. Auch wenn wirklich eine Neigung bestanden hätte, die Situation ins Lächerliche zu kehren, so wäre diese sofort unterdrückt worden durch die ernste Gegenwart keiner geringeren Persönlichkeiten als der des Gouverneurs und der gesamten Geistlichkeit der Stadt. Diese alle saßen oder standen auf einem balkonähnlichen Vorbau der Kirche, der sich unmittelbar über dem Pranger befand. Wenn solche Persönlichkeiten dem Schauspiele beiwohnten, ohne der Würde ihres Ranges oder Amtes etwas zu vergeben, so durfte man annehmen, daß die Vollstreckung dieses Urteils eine ernste und nachdrückliche Bedeutung habe. Und so herrschte denn in der Menge eine strenge, düstere Stimmung und tausende unbarmherziger Blicke richteten sich auf die unglückliche Sünderin und das Zeichen der Schande an ihrer Brust.
Sie hielt sich aufrecht, so gut es eine Frau in dieser Lage vermochte, doch die Last wurde ihr schier unerträglich. Von Natur aus empfindsam und leidenschaftlich, hatte sie sich innerlich gewappnet, um den giftigen Stacheln des Spottes und der öffentlichen Beschimpfungen zu begegnen. Doch in dem düsteren Ernst der Menge lag eine so furchtbare Anklage, daß sie sich förmlich danach sehnte, all diese unbeweglichen Gesichter in einem Lächeln der Verachtung aufleuchten zu sehen. Wären sie alle, Männer, Weiber und Kinder, in ein schallendes Hohngelächter ausgebrochen – Hester Prynne hätte ihnen mit einem bitteren, verächtlichen Lächeln antworten können. Doch unter der unerträglichen Last, die sie nun zu ertragen hatte, meinte sie in manchen Augenblicken, mit aller Kraft ihrer Lungen aufschreien und sich von ihrem Gerüst hinabstürzen zu müssen, wollte sie nicht wahnsinnig werden.
Doch es gab auch Augenblicke, in denen das ganze Schauspiel, dessen Mittelpunkt sie war, vor ihren Augen zu verschwinden schien oder wenigstens so verblaßte, daß sie nur noch wesenlose Schatten vor sich sah. Ihr Geist und besonders ihre Erinnerung waren unnatürlich tätig und brachten immer wieder andere Szenen in ihr Bewußtsein als diesen holprigen Marktplatz der kleinen Stadt am Rande der Wildnis, andere Gesichter als diejenigen, die sie unter den Rändern ihrer spitzen Hüte hervor so unverwandt anstarrten. Erinnerungen an ihre Kindheit und Schulzeit, an ihre Spiele, an kindlichen Streit und kleine häusliche Erlebnisse ihrer Mädchenjahre drangen auf sie ein und vermischten sich mit ernsteren Erlebnissen ihres späteren Lebens, ein Bild so lebendig wie das andere, als ob sie alle von gleicher Bedeutung wären oder alle zusammen nur Spiel. Es war eine Instinkthandlung ihres Geistes, sich durch das Versenken in diese Traumgebilde von der grausamen Last und Härte der Wirklichkeit zu befreien.
Sei dem wie immer, die Plattform des Prangers war für Hester Prynne wie ein Aussichtsturm, von dem aus sie den ganzen Weg überblicken konnte, den sie seit ihrer glücklichen Kindheit zurückgelegt hatte. Sie blickte zurück in ihren Geburtsort drüben im alten England und auf ihr Vaterhaus, ein von Armut gezeichnetes, verfallenes Gebäude aus grauem Stein, doch mit einem halb verwitterten Wappenschild über der Eingangspforte, das von altem Adel zeugte. Sie sah das Gesicht ihres Vaters mit seiner kahlen Stirne und dem ehrwürdigen, weißen Bart, der über die altmodische elisabethanische Halskrause herabwallte, sie sah auch das Antlitz der Mutter mit dem Ausdruck sorgsamer, ängstlicher Liebe, den es immer in ihrer Erinnerung trug und der sich schon oftmals, auch nach der Mutter Tod, der Tochter als sanfte Mahnung in den Weg gestellt hatte. Sie erblickte ihr eigenes Gesicht, wie es in mädchenhafter Schönheit aus dem trüben Spiegelglase leuchtete, in dem sie sich damals zu betrachten pflegte, und dann gewahrte sie ein anderes Antlitz, die Züge eines Man...

Inhaltsverzeichnis

  1. 1. DIE GEFÄNGNISTÜR
  2. 2. AUF DEM MARKTPLATZE
  3. 3. DAS ERKENNEN
  4. 4. DIE UNTERREDUNG
  5. 5. DIE FREIHEIT
  6. 6. DAS KIND
  7. 7. IM HAUSE DES GOUVERNEURS
  8. 8. DER PREDIGER UND DAS KIND
  9. 9. DER ARZT
  10. 10. DER ARZT UND SEIN PATIENT
  11. 11. QUAL EINES HERZENS
  12. 12. NÄCHTLICHE ERSCHEINUNG
  13. 13. HESTERS VERWANDLUNG
  14. 14. HESTER UND DER ARZT
  15. 15. HESTER UND PERLE
  16. 16. GANG DURCH DEN WALD
  17. 17. DER PRIESTER UND DIE FRAU
  18. 18. SONNENSCHEIN
  19. 19. DAS KIND AM BACHE
  20. 20. AUFRUHR DES GEWISSENS
  21. 21. FESTTAG IN NEUENGLAND
  22. 22. DER FESTZUG
  23. 23. DAS GEHEIMNIS DES SCHARLACHROTEN BUCHSTABENS
  24. 24. AUSKLANG
  25. 1