Die neue Arktis
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Die neue Arktis

Der Kampf um den hohen Norden

  1. 180 Seiten
  2. German
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Die neue Arktis

Der Kampf um den hohen Norden

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Über dieses Buch

Wem gehört der Nordpol? Der Run auf die neue Arktis.Die Arktis, einst das ferne Land ewigen Eises, steht im Zentrum aller Debatten über den Klimawandel. Doch was Ökologen beunruhigt, ist für andere der Startschuss zu einer ungehemmten Ausbeutung der letzten unberührten Naturräume. Denn das Schmelzen von Gletschern und Packeis verkürzt die Schifffahrtsrouten und macht Bodenschätze im Wert der gesamten US-Wirtschaft zugänglich. Russland gewinnt bereits 85 % seines Erdgases aus der Arktis; ein chinesisches Unternehmen plant in Grönland die weltgrößte Mine für Uran und seltene Erden. Und längst ist auch die Militarisierung der Arktis in vollem Gange. Schon jetzt ist die Gefahr nuklearer Zwischenfälle höher als zur Zeit desKalten Krieges. Industrieller Fischfang, aber auch ein ungebremster Naturtourismus bedrohen die Lebensgrundlagen der Inuit.

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Rhapsodie der Rentiere

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Noch heute spricht man hier von dem Tag, als die „Große fliegende Robbe“ kam. Am 13. Mai 1926 hatten die ungefähr hundert Iñupiat, die damals in den paar Häusern des Dörfchens Teller an der Beringstraße wohnten, ein Tier erblickt, das der Fantasiewelt entsprungen zu sein schien. Ganz plötzlich taucht es aus dem Sturm auf, der gerade über das Packeis fegt. Ein riesiges, hüpfendes Tier, das langsam tiefer sinkt. Die Kinder krallen sich an den Parkas ihrer Väter fest und zeigen schreiend auf das Monstrum: „Atàtta tigugung … Chuammi pitinriviung?“ Schnell, warum schießt du nicht? Doch als Kapitän Umberto Nobile schließlich die Taue seines Luftschiffs „Norge“ herunterlässt, zögern die Männer und Frauen von Teller nicht und nutzen ihr Körpergewicht, um die „Große Robbe“ aus dem unbekannten, endlosen Norden zu verankern.
Die ganze Welt wartet gespannt auf Nachricht, man verfolgt das Unterfangen fast so aufgeregt wie die erste Mondlandung. Nome, das eigentliche Ziel der Polarexpedition, liegt 70 Meilen weiter südlich, an der Westküste von Alaska. In den letzten Wochen waren sieben italienische Techniker übers Meer dorthin gefahren, hatten einen Hangar gebaut und einen Ankermast errichtet. Der Bürgermeister Thomas Gaffney bereitete schon die Willkommensfeier vor und wollte in seiner Rede, so das Archiv der ältesten Alaska- Zeitung The Nome Nugget, Italien und Benito Mussolini dafür danken, „der Menschheit, ebenso wie Christopher Kolumbus, einen neuen Weg aufgezeigt zu haben“. Doch an Bord des Luftschiffs bereiten sich die Männer auf das Schlimmste vor. Auf den Tod so kurz vor dem Ziel und nachdem sie gerade als Erste den Nordpol überflogen und ein neues Meer entdeckt haben: Erst seit wenigen Stunden weiß die Welt mit Gewissheit, dass die einzige noch unbekannte Region der Erde keine Landmasse oder, wie noch 1926 vermutet, ein hohes Gebirge ist, sondern ein gefrorenes Meer.
Es herrscht Schneesturm, das Luftschiff treibt ab, wird von Eis beschwert, riesige Eisstücke setzen der Hülle zu; man kommt vom Kurs ab, die Sicht ist gleich null. Die Katastrophe scheint unausweichlich. Spitzbergen liegt seit mittlerweile hundertneunundsechzig Stunden hinter den Männern, Nobile, der Kapitän, hat seit zweiundfünfzig Stunden kein Auge zugetan; der egozentrische, mythenumwobene norwegische Polarforscher Roald Amundsen, der die Expedition leitet, kauert in einer Gondelecke, in ein Eisbärenfell gewickelt, an den Füßen die verrückten, heugefüllten Überzieher.
„Er hat dem Italiener misstraut“, sagte mir Amundsens Enkel Petter Johannesen, der für ein im Erdölsektor tätiges norwegisches Unternehmen arbeitet, ebenfalls Polarforscher ist und sich Italien sehr verbunden fühlt. „Er hielt Nobile für unorganisiert, für einen unzuverlässigen Südländer. Als sie in Rom aufbrachen und mit dem Auto zum Flughafen Ciampino fuhren, fiel ihm auf, wie unsicher Nobile die Kurven nahm, und er fragte sich, wie der ihn wohl übers Eis bringen sollte. Doch besonders auf der letzten, dramatischen Strecke entpuppte sich Nobile als heldenhafter Ausnahmepilot.“
Damals wetteiferte Italien mit Norwegen um die Vorherrschaft bei den Expeditionen – wie später mit den Engländern beim Fußball, mit den Franzosen beim Wein oder den Deutschen beim Motorsport. So hatte etwa der Herzog der Abruzzen, Luigi Amadeo von Savoyen, im Jahr 1900 die italienische Fahne auf dem bislang nördlichsten jemals erreichten Breitengrad der Erde aufgestellt. Die „Norge“ legt auf ihrem Weg von Rom nach Spitzbergen, von wo aus sie dann den Nordpol überfliegen soll, folgerichtig einen „diplomatischen“ Zwischenstopp in Oslo, dem damaligen Christiania, ein, wo selbst König Haakon VII. den Palast verlässt, um gemeinsam mit dem Volk das Luftschiff zu begrüßen. Man feiert unter dem Ankermast einen der überwältigenden Momente in der spannungsgeladenden Beziehung zwischen Norwegen und Italien; von dem jahrhundertelangen Streit, ob nun die Wikinger oder die Genuesen Amerika entdeckt haben, ganz zu schweigen. Heute verstehen sich Italien und Norwegen vor allem bei Technologie und Energie prächtig. Als die Amerikaner 1969 das erste Nordsee-Öl entdeckten und so der norwegischen Erdölmacht, dem „Emirat des Nordens“, den Weg bereiteten, war der italienische Mineralölkonzern ENI schon längst vor Ort. Und vor allem in der Arktis ist die ENI seit Jahrzehnten bevorzugter Partner der staatlichen norwegischen Mineralölgesellschaft Statoil. Die ENI erkundete die größten Ölfelder und erhielt unter Umweltgesichtspunkten heikle Konzessionen, wie etwa für „Goliat“ in der Barentssee, an der neuesten Förderfront. Die nördlichste Ölplattform der Welt, ein 62.000 Tonnen schwerer Koloss, eine Art schwimmendes Raumschiff, fördert über mindestens zwanzig Jahre an zweiundneunzig Bohrlöchern 100.000 Barrel Öl und acht Millionen Kubikmeter Gas pro Tag. Über ein 110 Kilometer langes 75-Megawatt-Stromkabel ist die Plattform mit der Küste verbunden. Niemals zuvor hielten sich in diesen Breitengraden Menschen so lange auf dem Meer auf. Unter extremen Bedingungen wohlgemerkt: bei monatelanger Dunkelheit und eiskalten, bis 20 Meter hohen Wellen. Wenn dort oben etwas schiefgehen sollte, wird uns die Deepwater-Horizon-Katastrophe von 2010 im Golf von Mexiko im Vergleich wie ein lästiger Zwischenfall vorkommen. Angesichts der hohen norwegischen Sicherheits- und Umweltschutzanforderungen sicherten die Italiener allerdings optimale Garantien für das gut fünf Milliarden Euro schwere Projekt zu. „Goliat ist die perfekte Kombination aus Effizienz und Sicherheit und symbolisiert zugleich die historisch gewachsene Verbundenheit der beiden Länder“, sagte mir Finanzminister Siv Jensen 2015.
Das italienisch-norwegische „Norge“-Joint-Venture wird von einem Regime unterzeichnet, das auf der Suche nach internationaler Aufmerksamkeit ist. Es sind die Jahre der Rhetorik, „italienischer Kühnheit“, aber auch die Jahre zahlreicher Erfindungen und Entdeckungen. Das neuartige Luftschiff ist zweifellos ein Vorzeigeobjekt, das man sogar an eine Großmacht verkaufen kann. Nachdem Amundsen den Südpol erobert und als Erster die legendäre Nordwestpassage durchfahren hat, will er nun auch als Erster den Nordpol überfliegen. Und dazu muss er sich notgedrungen an den Leiter der italienischen Staatswerft Stabilimento di Costruzioni Aeronautiche (SCA) wenden, einen ebenso schweigsamen, wie ehrgeizigen Süditaliener: Obwohl Nobile nicht einmal eine Luftschifferlizenz besitzt, erreicht er bei Mussolini, dass er „sein“ Luftschiff selber fahren darf. Genauso wie Mussolini hat Nobile begriffen, dass es hier Lorbeeren zu verdienen gibt. Das Geld für die Expedition kommt nicht nur von der norwegischen Regierung, sondern auch von dem amerikanischen Abenteurer Lincoln Ellsworth, der sonst Gold und Eisbären in Alaska nachjagt. Aber auch Italien schafft es mit an Bord. „Der sture, arrogante Amundsen musste das akzeptieren“, so sein Enkel, „doch vom ersten Moment an herrschte zwischen ihm und Nobile Misstrauen.“ Ein Konfliktpunkt ist schon die Auswahl der Mannschaft: Nobile setzt durch, dass er eine Hälfte selbst auswählen und auch sein Hündchen und Maskottchen Titina mit an Bord darf, sozusagen die Vorläuferin der „Astronautin“ Laika. Weil man unterwegs Benzin und Wasserstoff tanken und außerdem weltweit das Medieninteresse wecken muss, legt man auf dem Flug Zwischenstopps ein. Auf dem Weg nach Leningrad herrscht zum ersten Mal Nebel, und obwohl das Funkpeilgerät Finnland meldet, ist man nach dem Sonnenstand einen halben Grad weiter südlich in Estland. Nobile überprüft die Strömungsrichtung eines Flusses, versucht, die Kirchturmarchitektur zu erkennen. „Als einige Bauern zu uns hochschauen, habe ich die Idee, sie einfach zu fragen“, notiert er in seinem Logbuch. Er wirft eine dreisprachige Nachricht, in einer Fleischdose, nach unten. „Wo sind wir? Finnland? Wenn ja, hebt die Arme!“ Aber es funktioniert nicht. Nobile entscheidet, so tief zu gehen, dass er ein Bahnhofsschild lesen kann: Valga, ein Ort an der Grenze zwischen Estland und Lettland. Als sie schließlich in Leningrad ankommen, bereitet ihnen die sowjetische Wissenschaftsakademie einen denkwürdigen Empfang. Nobile darf im Kaiserpalast, im Bett von Alexander Kerenski schlafen. Nicht zufällig geht er, nachdem seine zweite Expedition mit der „Italia“ 1928 gescheitert ist und Italien ihn verschmäht, mit Titina ins freiwillige sowjetische Exil.
Von Spitzbergen aus soll dann „der letzte Sprung“ nach Nome in Alaska erfolgen, wie Cesco Tomaselli aus Ny Aalesund für den Corriere della Sera titelt. Man nimmt 7000 Liter Benzin, 370 Liter Öl und 379 Kilo Lebensmittel an Bord, genug, um bei einem Sturz aufs Packeis einen Monat zu überleben. Neben Nobile, Amundsen, dem Sponsor Ellsworth und dem norwegischen Journalisten Fredrik Ramm sind noch dreizehn Männer an Bord, sechs Italiener, sechs Norweger und ein Schwede. Amundsen, der Scherzbold, hält die Welt gern in Atem und unterbricht, wie öfter im entscheidenden Moment, stundenlang die Funkverbindung. Am 12. Mai, gegen sechs Uhr früh, fängt schließlich Seattle ein Signal auf und erfährt, dass man den Nordpol erreicht hat. Man habe die norwegische, italienische und amerikanische Fahne abgeworfen. Punktgenau für die Schlagzeilen in den europäischen Morgenzeitungen.
Nobile steuert das Luftschiff ohne Pause fünfzig Stunden lang im Sichtflug über das vereiste Meer, immer besorgt, gegen ein Gebirge zu prallen. Er kämpft mit Nebelbänken, Schneegestöber und Eisbrocken, die von den Propellern wie Projektile gegen das empfindliche Luftschiff geschleudert werden. Offiziell spricht man Englisch an Bord, aber der überhebliche Nobile erteilt sämtliche Befehle auf Italienisch. Auch den Iñupiat, die überraschend aus dem Schneesturm auftauchen, als das Luftschiff endlich auf die Häuschen zugleitet: „Nur weil ich so deutlich gestikuliert habe, taten sie, was ich sagte“, erinnert sich Nobile in seinen Memoiren. Er konnte verhindern, dass die „Norge“ zerschellte. Sogar Amundsen gab später zähneknirschend zu, dass der süditalienische Kapitän ohne Flugschein ihnen mit seinem Manöver das Leben gerettet hatte. „Die Gondel drohte, bei der Landung zerdrückt zu werden. Doch Nobile schaffte es, sie seitlich zum Liegen zu bringen. Ab da gingen die beiden allerdings für immer getrennte Wege“, erinnert sich Amundsens Enkel Petter. „Amundsen wollte nicht in einem Atemzug mit geschwätzigen Italienern genannt werden, die am Ende der Welt Kaffee aus Porzellantässchen schlürften, romantische Arien schmetterten und sich den Eskimo nach 13.000 Kilometern und siebzig Stunden Polarüberflug in tadelloser, tressenbesetzter Uniform präsentierten – sich dann aber gern Pelze von ihnen liehen. Er selbst war mit nur fünf Kilo Gepäck an Bord gegangen, einschließlich Pfeife.“
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Auf den Tag neunzig Jahre später sitze ich mit dem Bildjournalisten Nanni Fontana in einer Cessna Caravan der Bering Air und nähere mich Teller. Es ist ein strahlender Morgen, das Packeis hat von der Sonne rosa Streifen. Die Eisfläche erstreckt sich bis zu der breiten, offenen Fahrrinne in der Beringstraße, hinter der das Packeis der nur 80 Kilometer entfernten russischen Küste beginnt. Am Horizont im Norden erkennt man die verhangenen Silhouetten der Diomedes-Inseln, die kleine Diomedes-Insel ist amerikanisch, die große russisch. Weil zwischen beiden nur zwei Kilometer Wasser, aber einundzwanzig Stunden Zeitverschiebung liegen, heißt die kleine Insel auch Heute- und die große Morgen-Insel. Mit ihrer Form erinnern sie an triste U-Boote. „Schon seit zehn Jahren gibt es hier zu dieser Jahreszeit keine Schneestürme mehr, und das Eis bricht jetzt zwei Monate früher auf als noch vor fünf Jahren“, erklärt der Pilot. „Das ist allerdings gut für die da“, sagt er dann und zeigt auf einen riesigen Schüttgutfrachter in der Ferne, vermutlich aus China, der durch die Beringstraße in Richtung Nordostpassage fährt. Weil der arktische Seeweg nur halb so lang ist wie die traditionelle Route durch den Suezkanal, könnte er den globalen Handel einmal revolutionieren. Zu Zeiten der „Norge“ befanden sich hier die Herakles-Säulen des hohen Nordens, Symbol unberührter, mythischer Landschaften. Heute verläuft zwischen den weit ins Meer hineinragenden kontinentalen Vorposten, die Nordpazifik und Nordpolarmeer trennen und sich beinah wie die Zeigefinger in Michelangelos Erschaffung Adams berühren, die Mittelfeldlinie eines Spiels, das von zwei Supermächten ausgetragen wird: Die beiden Landzipfel bilden das Eingangstor zu einem gigantischen Klondike und künden zugleich von einem neuen, immer blaueren, immer wärmeren Meer, das zunehmend zum Spielball globaler Interessen wird.
Die Cesna legt nur einen kurzen Zwischenstopp ein, um Lebensmittel an ein Geschäft und ein paar Postpakete auszuliefern. Gerade genügend Zeit, um einige der Häuschen zu besichtigen, die noch mit der Hülle der „Norge“ gedämmt wurden. An der Lutherischen Missionsstation ist außerdem ein Seidenhemd ausgestellt, das Hochwürdem Von Zesch seiner Iñupiat-Frau schneidern ließ, mit der gestickten Inschrift: „Aus den Resten des Luftschiffs „Norge“ gefertigt, das den Nordpol überflog und am 13. Mai 1926 in Teller landete.“ Doch in Nome finden sich auch noch andere Erinnerungsfetzen, die zeigen, dass man den Tag nicht vor dem Abend loben soll. Sie erzählen von Neid, Rivalität, Betrug und Tod. Im hohen Norden herrscht nicht der Geist von Weihnachten.
Die Männer der „Norge“ verlassen das einsame Teller per Schiff und fahren nach Nome. Dort leben sie wie die Helden aus Jack Londons Büchern, die damals jugendliche Abenteuerträume in aller Welt befeuerten: Schnee, Schlittenhunde, Whiskey, darwinistischer Überlebenskampf, Gold, Bordelle. Die Stadt ist gerade einmal fünfundzwanzig Jahre jung, und obwohl der Goldrausch langsam endet, drängen sich auf der Front Street an der Beringsee noch immer zwanzigtausend Männer, fünfzig Prostituierte, fünfundsiebzig Saloons und zwei Kirchen. Die Jesuiten der Pfarrei St. Joseph laden die – katholischen – italienischen Flieger zu Bankett und Tanz ins Golden Gate Hotel, das direkt nach dem Erdbeben von San Francisco 1906 erbaut worden war. Nome schickte, im Verhältnis zur Einwohnerzahl, damals die meisten Solidaritäts-Schecks aller amerikanischen Städte, so reich war es.
Der Nugget berichtet über elegante Luftschiffer, die „unablässig vor allem mit einheimischen Mädchen tanzen“. Nobile hält eine Rede in Paradeuniform: Er berichtet von der Odyssee des „italienischen“ Luftschiffs, dankt Teller für seine große Gastfreundschaft gegenüber Männern „vom fernen Mittelmeer“ und bringt das einzige Iñupiat-Wort an, das er gelernt hat, palaka – Es bedeutet sehr kalt und bezeichnet eine wirklich extreme Kälte. Und er liest die Telegramme vor, die vom Vatikan und von Mussolini eingehen. Auf der Front Street spannen die Jesuiten ein Banner in den Farben der italienischen Flagge und mit der Aufschrift „From Rome to Nome“ auf. Amundsen verschanzt sich indessen im Hotelzimmer, er hasst Paraden und Feierlichkeiten, vor allem, wenn der von ihm mittlerweile verabscheute Nobile zugegen ist. Dieser Mann, den er für einen schlichten „Piloten“ hält, soll jetzt auch noch, so hat man ihm berichtet, auf Geheiß Mussolinis in einem Triumphzug durch die „italienischen Kolonien“ der USA reisen. Seattle, San Francisco, Los Angeles, Chicago, Cleveland, Rochester, Philadelphia, Pittsburgh, Boston, New York … Empfänge, Interviews, Gespräche, Gedenkbriefmarken, rote Teppiche. Auf dem Höhepunkt der weltweiten Begeisterung wird Nobile vom Duce zum General der italienischen Luftwaffe ernannt. In Washington lädt der republikanische Präsident Calvin Coolidge zum Empfang, ein distanzierter, strenger Mann. Der italienische Botschafter empfiehlt daher, Titina besser in der Obhut des Mannes zu lassen, der im Garten vor dem Weißen Haus Wache schiebt. Doch der Präsident, der schon so viel vom Abenteurer-Hund am Nordpol gehört hat, bittet auch den Hund herein. Und der pinkelt umgehend auf den afghanischen Teppich des Green Rooms. Peinliches Schweigen, Nobile steht auf, Schamesröte im Gesicht, er will den Hund nach draußen bringen, doch Coolidge hält ihn zurück: „General, lassen Sie das arme Hündchen doch hier.“ Die amerikanischen Tageszeitungen berichten darüber am nächsten Morgen auf der Titelseite.
Zwei Jahre später, 1928, stehen ganz andere Schlagzeilen über Nobile in der internationalen Presse. Er ist mit dem Luftschiff „Italia“ auf dem Rückflug vom Nordpol abgestürzt und lässt sich vor allem als Erster zusammen mit Titina von einem dänischen Rettungsflugzeug ausfliegen, obwohl noch mehrere Expeditionsmitglieder im Packeis vermisst werden und andere in schlechtem Gesundheitszustand im berühmten rot gestrichenen Zelt ausharren. Später wird Nobile sich damit rechtfertigen, dass nur er die folgende Rettungsaktion habe leiten können. Auch Amundsen, an den Rand gedrängt, depressiv und beinah völlig verarmt, macht bei dieser Gelegenheit noch einmal von sich reden: Als noch keiner weiß, wie man Nobile und den anderen Expeditionsteilnehmern des havarierten Luftschiffs helfen könnte, macht er sich mit einem französischen Wasserflugzeug vom Typ Latham 47 auf und bleibt für immer in der Barentssee verschollen. Diesmal endet die Funkstille nicht. „Ich denke, er wollte Nobile mit dieser noblen Geste eine Ohrfeige versetzen und zeigen, wer der wahrhaft anständige Forscher ist“, sagt der Dokumentarfilmer und Amundsen-Biograf Folco Quilici. „Wie Schettino vom im Mittelmeer havarierten Kreuzfahrtschiff ‚Costa Concordia‘ hat Nobile seine Kameraden ja auch fluchtartig verlassen, er hatte wohl wirklich nicht das Zeug zum Kapitän.“
Eines Nachmittags stehen wir auf der Front Street North genau dort, wo seit 1973 jedes Jahr das Iditarod-Rennen endet: ein sportliches Ritual ganz im Geist des amerikanischen hohen Nordens und der amerikanischen Pioniere, bei dem fünfundsiebzig Hundeschlitten von Anchorage 1000 Meilen durch die Berge bis nach Nome fahren. Allerdings leidet das Event seit einigen Jahren unter dem Klimawandel und muss sich über weite Strecken mit Kunstschnee behelfen. Neben dem Zieleinlauf, einem trostlosen Erdstreifen, entdecken wir, in etwa drei Meter Abstand voneinander, zwei kleine ungepflegte, verwitterte Bronzedenkmäler. Sie scheinen nichts miteinander zu tun haben zu wollen. Das eine wurde von den Norwegern im Gedenken „an den ersten Nordpolüberflug“ errichtet, ausdrücklich erwähnt sind der Expeditionsleiter Amundsen und „seine Männer, unter ihnen der Amerikaner Lincoln Ellsworth“. Von Umberto Nobile kein Wort. Das andere zeigt das Luftschiff und den Erdball mit drei Nordpol-Fahnen als erlesenes Relief. Es wurde von der italienischen Luftwaffe „zu Ehren der glorreichen Unternehmung“ der „Norge“ und ihrer Mannschaft gestiftet. Namentlich genannt sind Roald Amundsen, Lincoln Ellsworth und als Letzter der Pilot der „Großen fliegenden Robbe“, Umberto Nobile.
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Neunzig Jahre später treffen die Schiffe, die im Sommer durch die Beringstraße fahren, auf ein völlig neues, wie aus dem Nichts entstandenes Meer. Ein Atlantis ganz aus Wasser. Das Meer ist beinah bis zum Nordpol eisfrei. Die Nordwestpassage durch den kanadisch-arktischen Archipel, die Atlantik und Pazifik verbindet, stellte Polarforscher jahrhundertelang auf eine harte Prüfung und ließ sie häufig an Eisschollen scheitern. Heute ist sie vor allem ein Prüfstein für die unmittelbaren Auswirkungen des menschengemachten Klimawandels. Die einstige Sehnsuchtsroute, die Amundsen 1906 auf einer dreijährigen Reise als Erster befuhr, ähnelt heute allerdings eher einer Regattastrecke, auf der jeder der Schnellste sein will. Im Juli 2017 erklärte sich der finnische Eisbrecher „Nordica“ zum Sieger, nachdem er für die 6000 Seemeilen von Vancouver bis ins grönländische Nuuk nur vierundzwanzig Tage gebraucht hatte. Bis dahin hatte die kanadische Louis S. St.-Laurent mit fünfundzwanzig Tagen den Rekord gehalten, allerdings auf einer 2000 Meilen kürzeren Ost-West-Strecke und mit der Strömung. Die Fahrt der „Nordica“ war quasi eine Demo-Vorführung, ein Spot der finnischen Reederei Arctia Shipping: Der weltgrößte Erbauer von Eisbrechern warb damit um internationale Investitionen in die neue Arktis. Die Reederei ist unter anderem Mitglied im Unternehmerverband Arctic Economic Council, der sich die Entwicklung der Region auf die Fahnen geschrieben hat. Mit dieser Durchfahrt gebe es nun „einen Wendepunkt in der Geschichte der Arktis, und niemand wird sich dieser Herausforderung mehr entziehen können“, sagte mir Arctia Geschäftsführer Tero Vauraste. „Ab jetzt setzen alle auf die Farbe Blau.“ Die Farbe Weiß und das, wofür sie steht, signalisiert im arktischen Roulette Verlust. Auch Wissenschaftler fuhren übrigens an Bord der „Nordica“ mit. Sie notierten, was sie sahen: chinesische Frachtschiffe, amerikanische Fischerboote, deutsche Kreuzfahrtschiffe. Auch ein paar Zugvögelschwärme, ab und zu eine Robbe oder einen Wal, doch erst nach drei Vierteln der Fahrt, in der Baffin Bay, schrie ein Crew-Mitglied plötzlich „Wow“ und zeigte auf einen Eisbären, den entthronten König auf der Suche nach einem Exil. Der Eisbär ist genauso abhängig vom Eis wie der Gorilla vom Regenwald und der Adler vom Aufwind. Er ist kein Meeressäugetier und kann nur mit Eis unter den Pfoten jagen. Und in letzter Zeit kommen die Robben immer öfter ungeschoren davon. Glück für sie. Mit ungewollter Ironie erinnerte der finnische Kapitän der „Nordica“ daran, dass an derselben Stelle und am selben Tag des Jahres die Expedition von John Franklin gescheitert war. Der englische Forscher und Mitgründer der Royal Geographical Society blieb am 26. Juli 1845 vor der nahen Baffininsel mit seinen gepanzerten Expeditionsschiffen „Erebus“ und „Terror“ im Eis stecken. Die hundertachtundzwa...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Widmung
  3. Titel
  4. Inhalt
  5. Bildteil von Nanni Fontana
  6. General Sommer
  7. Rhapsodie der Rentiere
  8. Archipel Putin
  9. Der weiße Drache
  10. Das Reich der Hyperboreer
  11. Impressum
  12. Weitere E-Books von Folio
  13. Über den Autor