1. Mütter und Kinder
Versuchen Sie, sich ein solches Erlebnis vorzustellen:
Ein strahlender Tag, ein Sonntag. Morgens beim Aufstehen denken Sie, das sei ein richtiger Geburtstags-Sonntag für Ihre Jüngste. Der zweite Geburtstag ist es, aber der erste, den das Kind bewußt erlebt und auf den es sich seit Wochen freut. Alles haben Sie schon gerichtet. Nur das Blumenkränzchen für den kleinen Blondschopf muß noch geflochten werden. Da klingelt es an Ihrer Wohnungstür. Zwei Soldaten – fremde Uniformen – umgeschnallte Pistolen.
Einer drängt in die Tür, hat den Fuß auf der Schwelle. Und ehe Sie recht begreifen, was da vor sich geht, trifft Sie schon wie ein Schlag der Befehl:
„Aufmachen!“ – „Mitkommen!“
„Ich…?-Wieso ….? – Und ….wohin… ?“
„Eine Aussage nur!“
In Ihr zögerndes, ratloses Fragen hinein:
„Eine Aussage – ich…? Wieso ich…?“ Und: „Das muß doch ein Irrtum sein… !?“
Da packt der eine Soldat schon zu. Sein brutaler Griff reißt sie fast von den Füßen, macht Sie stolpern – ins Treppenhaus, die Stufen hinunter, aus der Haustür …
„Das Kind – mein Gott! – ganz allein in der Wohnung …“
fährt es schneidend durch Ihren Sinn. Von Panik erfaßt, spannen sie alle Kraft, um sich loszureißen, holen aus und – erwachen im eigenen Bett, eine Faust ins Kissen gebohrt.
Ein Albtraum nur, und einer, den Sie in Wirklichkeit sicherlich niemals träumten.
Doch hätten Sie je so geträumt – nicht länger als ein, zwei Sekunden hätte der Nachklang von Angst und Schrecken Ihnen das Bild der vertrauten Wirklichkeit verdunkelt. Vorausgesetzt – ja, vorausgesetzt, dass Ihnen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Ihr Wohnort nicht zum Schicksal geworden wäre, wie vielen Männern und Frauen in Sachsen, in Sachsen-Anhalt, in Thüringen, Brandenburg und in Mecklenburg.
Bitterer Abschied
Dort fing damals für viele ein anderer, ein ganz realer Albtraum an, in dem das Grauen der Tage in die Träume der Nacht und wieder in die Tage hinüberschwang – in Hunderte, nein – in Tausende, Abertausende leidzerquälte Tage. Ein Albtraum, den Menschen im Westen nie träumen mußten. Renate Siebert, damals in Sachsen-Anhalt zu Hause, blieb er nicht erspart. Sie erinnert sich:
„Es war kurz nach Ostern 1948, an einem 6. April. Das Datum werde ich nie vergessen. Denn es ist der Geburtstag meiner Jüngsten. Sie wurde damals gerade zwei. Die Ältere ging seit Ostern in die Schule. Auf die Geburtstagsfeier hatten sich beide Kinder schon lange gefreut. Auch die Kleine. In dem Alter fangen sie ja langsam an zu verstehen. Gerade hatte ich ihr ein Blumenkränzchen gebunden, wie sie es sich wünschte. Genau so eines, wie ihn das kleine Mädchen auf einer Geburtstagskarte trug. Aufsetzen konnte ich’s ihr nicht mehr. ‚Dawai, dawai!‘ – Schnell, schnell, forderten die Männer mit den blauen Kragenspiegeln des NKWD. Und schon fiel die Wohnungstür hinter mir zu.“
Jahrelang ließ die Erinnerung an die verschreckten Gesichter ihrer beiden kleinen Mädchen die Gefangene im Schlafen und im Wachen nicht los. Doch aus diesem Schmerz, aus der Sorge um ihre Kinder erwuchs ihr auch immer wieder die Kraft, allen Leiden und Nöten zum Trotz die Haftjahre durchzuhalten.
In der Sprache der Akten braucht’s nie viele Worte, um ein Schicksal zu fassen. Knappe zehn Zeilen genügen für das der Renate Siebert:
-Geboren 1914, verheiratet, Hausfrau, zwei Kinder (1942 und 1946).
-Verhaftet am 6. April 1948 in Halle/Saale
„wegen Sammeln von Spionage-Informationen betreffs der Sowjetarmee und der Wirtschaft und Politik in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands“.
-Verurteilt dafür am 4. September 1948 zu fünfundzwanzig Jahren Straf- und Arbeitslager.
-„Gnadenhalber“ nach acht Jahren am 31. Juli 1956 vorzeitig aus dem Zuchthaus entlassen.
-Am 18. Oktober 1994 in Moskau rehabilitiert
als „zu Unrecht“ verurteilt und eingesperrt. Denn – so die russische Militärgeneralstaatsanwaltschaft heute:
„(…) Die Akten enthalten keinerlei Beweismittel über (…) eine Spionagetätigkeit oder andere verbrecherische Handlungen zum Schaden der UdSSR (…)“
Wie soll man beschreiben, was es heißt, als Opfer politischer Willkür acht Jahre in Sachsenhausen und Hoheneck am Rande des Hungers zu vegetieren? Von der Familie – ja, von Welt und Leben überhaupt so total getrennt und isoliert, wie nicht einmal die Nazi-KZs es kannten! Wie lebte es sich in solcher Verlassenheit unter dem ständigen Druck eines Urteils, das mit seinen fünfundzwanzig Jahren doch auf ein Lebenslänglich hinauslief? Die Antwort auf solche Fragen steht in keiner Akte verzeichnet! Sie wäre auch nicht in einige knappe Zeilen zu fassen – so wenig, wie das Leben „danach“. Was hielt es für Irene Siebert bereit?
Sie stand vor dem Nichts wie fast alle ihre entlassenen Kameradinnen und Kameraden. Der Kreis, der ihr Leben ausgemacht hatte, die Familie, war zerbrochen. Ihr Mann hatte längst eine neue Ehe geschlossen. Die Kinder kannten die Mutter nicht mehr. Ihre einzige Schwester war ohne sie zu Grabe getragen worden. So kam zu der äußeren materiellen Not die innere einer unsäglichen Einsamkeit. Es war keiner mehr da, der sie liebevoll in die Arme geschlossen hätte.
Wenn sie jetzt, als alte Frau, auf ihr Leben zurückblickt, sind es nicht die bis heute reichenden Folgen der materiellen Verluste von damals, die sie bekümmern. Noch immer stehen die Kinder im Mittelpunkt ihrer Gedanken:
„Es kam alles ganz anders, als ich’s mir erträumte. – Der Frau, die meinen Mann geheiratet hatte, trage ich dabei nichts nach. Wäre es nicht die, dann wäre es eine andere gewesen. Sie hat mir einen sehr anständigen Brief geschrieben, als ich entlassen worden bin: Sie hätte meinen Mann nur geheiratet der Kinder wegen. – Mag sein, dass es stimmte.
Das Tragischste ist, wie die Kinder seelisch gelitten haben. Am meisten meine Älteste. Das ist spürbar bis auf den heutigen Tag, da sie selber bald 50 wird. Als ich abgeholt wurde, war sie sechs. Ich stelle sie mir immer vor, in den Jahren, wo ich weg war: wie ein schwaches, schwankendes Schilfrohr im Wind, das gebeugt und gebeutelt wird und nicht weiß, wohin sich zu wenden. Besonders, nachdem meine Schwester verstorben war. An ihr hingen die Kinder. Sie war immer wie eine zweite Mutter für sie gewesen.
Die Kleinere, an deren zweitem Geburtstag ich verhaftet wurde – mit der habe ich überhaupt niemals wieder richtig Kontakt gekriegt, als beide Kinder nach meiner Rückkehr schließlich doch zu mir kamen. So, als wäre sie gar nicht mein Kind, so entfremdet ist sie mir geblieben.
Natürlich – beide, heute erwachsen und gut erzogen, benehmen sich immer freundlich und lieb. Wenn einer sie jetzt anriefe, sagte, ihrer Mutter sei etwas zugestoßen und sie brauche Hilfe, dann würden sie natürlich kommen. Alle beide. Sofort. Aber dieses Innige, Warme zwischen Mutter und Kindern, das ist leider niemals wieder aufgekommen. Bis heute nicht. Beide wollen auch nichts hören von früher, wollen gar nichts hören. Dieses Schweigen drückt mir auf die Seele. Den bittersten Teil meines Lebens verschweigen zu müssen, als wäre es meine Schande – das ist es wohl auch, was die große Fremdheit zwischen mir und den Kindern macht.“
Zwei kleine Kinder, etwa im gleichen Alter, ließ auch Renate Kunze zurück, als die damals 35-jährige Hausfrau im Februar 1946 dem NKWD in die Hände fiel. Frau Kunze war erst gegen Ende des Krieges aus Wilhelmshaven nach Mitteldeutschland gezogen. Den englischen und amerikanischen Fliegerbomben war sie damit entronnen. Dass die Zukunft für die Mitte Deutschlands Schlimmeres bereithielt als nächtliche Fliegeralarme, das konnte wohl keiner damals ahnen.
So erinnert Irene sich heute:
„In Wilhelmshaven fielen damals, 1944, so viele Bomben; jede Nacht! Und ich war schwanger, erwartete mein zweites Kind. Wie viele andere Frauen mit kleinen Kindern wurde auch ich deshalb in ein ruhigeres Gebiet ‚evakuiert‘. Mit meiner damals vierjährigen Tochter landete ich in Mitteldeutschland, in Suhl in Thüringen. ‚Das wird amerikanisch besetzt werden’, sagte mein Mann noch, als er nach seinem letzten Urlaub wieder an die Front ging. ‚Da kannst du ruhig hinziehen, da passiert dir nichts!’ Er sah wohl damals schon, wie alles enden würde.
Ich habe mir solche Gedanken nicht gemacht. Ich bin ja eine große Träumerin und war glücklich verliebt, verheiratet, eine selige Mutter – und sonst gar nichts! Alles andere interessierte mich nicht. Ich war nur Mutter, nur Mutter und hatte nur meine Kinder im Sinn!
Noch in den letzten Tagen des Krieges ist mein Mann dann gefallen. Auf den 31. März 1945 lautete der Totenschein.“
Kurz darauf ziehen wirklich – wie ihr Mann es vorausgesagt hatte – in Suhl amerikanische Truppen ein. Doch die kümmern sich nicht um die zugereiste junge Familie. Warum auch? Irene Kunze hatte sich niemals öffentlich betätigt, und sie tat es auch jetzt nicht. Sich mit zwei kleinen Kinder überhaupt über Wasser zu halten, war für eine Ortsfremde schwer genug. Nahezu jeder hungerte damals ja und fror.
Am 1. Juli 1945 lösen – Vereinbarungen der Alliierten entsprechend – sowjetische Truppen die Amerikaner ab. Irene spürt von dem Wechsel wenig – vorerst!
„Eines Tages waren die Amis weg. Und plötzlich kamen – na, ich dachte, da kommen so ein paar zerlumpte deutsche Heimkehrer von der Front. Doch das waren die russischen Soldaten! Die sahen ja zum Fürchten aus zu Anfang!
Von den Amis hatten die offenbar Jeeps geklaut, damit rasten sie im Wald herum. Ich wohnte direkt am Wald, und so erlebte ich das aus nächster Nähe mit. Wenn das Benzin alle war, dann ließen sie den Jeep einfach stehen. Die wußten wohl überhaupt nicht, dass da Sprit reingehörte. Die wußten nur, wie die Dinger anzudrehen waren. Ach, es waren ja verdreckte und zerlumpte Kinder, richtige große Kinder – also wirklich.
Man hätte sich vor ihnen fürchten können, weil sie doch Waffen hatten. Aber wir sind nicht vergewaltigt worden. Der Kommandant hat allen Deutschen gesagt, die Frauen sollten sich Pfeffer ans Bett stellen oder in die Tasche stecken und das benutzen, wenn ein Russe sie anfallen würde. Oder eine Flasche Tinte ans Bett. Wenn einer eine Flasche Tinte über die Uniform bekommen hat, dann könnten sie ihn als Übeltäter erkennen. Sich an Frauen heranzumachen war den Soldaten überhaupt streng verboten! Sie durften uns nicht nur nicht anrühren, sondern nicht mal mit uns reden! Die hatten wohl Angst, dass wir sie beeinflussen könnten.“
Die Ruhe, in der die junge Witwe mit ihren Kindern lebte, war trügerisch. Im Februar 1946 – mitten in der Nacht – läutet es plötzlich Sturm an Frau Kunzes Tür. Als sie aufgeregt öffnet, drängt eine Gruppe von Uniformierten in ihren schmalen Wohnungsflur. Von dem Lärm erwachen die Kinder. Sie beginnen zu weinen.
„Sie kamen mit sechs Mann. – Eine Frau darunter zwar, aber das nachts um zwei! Angeblich ging es um meinen gefallenen Mann, der Offizier gewesen war. Er wurde plötzlich gesucht, obwohl sein Tod doch ordnungsgemäß bei allen Behörden registriert war. Ich sage, mein Mann ist gefallen, und habe die Gefallenenmeldung vorgezeigt. Da haben sie erst so ein bißchen Russisch vor sich hingeredet. Und dann haben sie gesagt, ich möchte doch so freundlich sein und mitkommen und ihnen auf der Kommandantur unterschreiben, dass mein Mann gefallen ist. – Nachts um zwei holen die mich dazu aus dem Bett, damit ich unterschreibe, dass mein Mann gefallen ist!“
Auch Irene Kunzes Erinnerung bewahrt bis heute ein schmerzvolles Bild jener Nacht: Wie ihr kleines Mädchen sich ängstlich in ihre Arme schmiegt, der Zweijährige aus seinem Gitterbettchen die kleinen Händchen nach ihr streckt. Aber ‚Dawai, dawai!’ ‚Schnell fort, schnell fort!’ Die Kinder beruhigen? Daran ist gar nicht zu denken. Man läßt Frau Kunze kaum Zeit, sich anzukleiden. Als die Tür hinter ihr ins Schloß fällt, tönt das ängstliche Rufen und Weinen der Kleinen hinter ihr her. Acht Jahre lang gellte ihr das in den Ohren nach – eine Mutter, gezwungen, stumm davonzugehen, als fechte die Not ihrer Kinder sie überhaupt nicht an… Acht Jahre lang – denn erst 1954 wird sie wieder nach Hause kommen.
Besonders quält sie der Gedanke, dass sie keinen weiß, der sich um die beiden kümmern könnte. In Suhl gibt es weder nähere Bekannte noch Verwandte. Und von der Familie in Wilhelmshaven trennt damals, Anfang 1946, unerbittlich die Zonengrenze. Als Irene in den Vernehmungen darüber klagte,
„dass ich doch in Suhl keinen Menschen kannte, der sich um die Kinder hätte kümmern können, da hieß es nur: ‚Die Kinder sind in Moskau und werden dort zu Sowjetbürgern erzogen.’ – Vier Jahre haben die Russen mich in diesem Glauben gelassen! Ich habe darüber bald den Verstand verloren, dass meine Kinder auf Nimmerwiedersehen in der Sowjetunion verschwunden sein sollten!“
Einzelfall oder Methode? Eine anderes Opfer: Helga Söntgen. Und eine andere Szene:
„Dann waren nur Nachtverhöre. Nachts – in der Stille – hörtest du jeden Tritt! Die Schritte – sie kamen immer näher, immer näher. Und da wußtest du: Jetzt, jetzt schließen sie gleich bei dir auf. Jetzt kommst du raus. Dann waren die Vernehmungen – sie waren immer bei Scheinwerferlicht. Und das – wie grausam das war, kann ich keinem beschreiben … !
Mein schlimmstes Erlebnis war, da ließen sie ein Kind nebenan schreien. Es war bestimmt – das sage ich mir heute – es war bestimmt ein Russenkind. Jedenfalls sagten sie, es wäre mein Kind, das ginge jetzt auf Rußland-Transport. Eine Mutter, die Spionin ist, die braucht kein Kind, sagten sie. Das Kind ginge nach Rußland.
Ich habe das damals geglaubt, ich war wie … ach, … wenn ich eine Möglichkeit gehabt hätte, also – da hätte ich Schluß gemacht! Denn wenn man sein Kind schreien hört und man kann nicht hin …! Dass es vielleicht doch nicht das eigene Baby ist, das erkennt man dann ja nicht! Den Ton – durch die Zellentüren durch …! Es war schon gr...